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Literatur


04.2




Gedichte

Der zunehmende Mond
Rabindranath Tagore
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Die Champablüte

 
Denk' Dir, ich würde eine Champablüte [5], nur zum Scherz, und wüchse auf einem Ast hoch oben in jenem Baume und schütterte im Wind vor Lachen und tanzte auf den neu entkeimten Blättern; würdest Du mich kennen, Mutter?
 
***

Du würdest rufen: »Kindchen, wo bist Du?«, und ich würde lachen für mich und ganz stille sein.
 
Ich würde heimlich meine Blüte öffnen und Dir bei der Arbeit zuschaun.
 
***

Wenn Du nach dem Bad, das nasse Haar über Deine Schultern gebreitet, durch den Schatten des Champabaumes gingest zu dem kleinen Hof, in dem Du Deine Gebete sagst, würdest Du den Duft der Blume merken, aber nicht wissen, daß er von mir käme.

Wenn Du nach dem Mittagsmahl am Fenster säßest, Rāmāyana [6] lesend, und des Baumes Schatten über Haar und Schoß Dir fiele, würd' ich Dir meinen kleinwinzigen Schatten auf die Seite Deines Buches werfen, grad dahin, wo Du liest.
 
Aber würdest Du raten, daß es der zarte Schatten Deines kleinen Kindes war?
 
Wenn Du des abends zu den Kühen gingest, mit der brennenden Lampe in der Hand, würde ich plötzlich wieder auf die Erde niederfallen und noch einmal Dein eignes Kind sein und Dich bitten, mir eine Geschichte zu erzählen.
 
»Wo bist Du gewesen, Du schlimmes Kind?«
 
»Ich mag's nicht erzählen, Mutter.« Das würden Du und ich dann sagen.



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