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Literatur


04.2



Gedichte

Der zunehmende Mond
Rabindranath Tagore
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DAS ENDE
 
 
Es ist Zeit für mich, zu gehen, Mutter. Ich gehe.
 
Wenn Du im fahlen Dunkel der einsamen Dämmerung Deine Arme ausstreckst nach Deinem Kindchen im Bett, werde ich sagen: »Kindchen ist nicht da!« – Mutter, ich gehe.
 
Ich werde ein zarter Lufthauch werden und Dich liebkosen; und ich werde das Kräuseln auf dem Wasser sein, wenn Du badest, und Dich küssen und wieder küssen.
 
In der Sturmnacht, wenn der Regen auf die Blätter prasselt, wirst du mein Flüstern hören in Deinem Bett, und mein Lachen wird mit dem Blitz durchs offne Fenster in Dein Zimmer leuchten.
 
Wenn Du wach liegst, an Dein Kindchen denkend bis spät in die Nacht, werd' ich singen zu Dir von den Sternen: »Schlaf, Mutter, schlaf.«
 
Auf den irrenden Mondstrahlen werd' ich mich über Dein Bett stehlen und auf Deiner Brust liegen, während Du schläfst.
 
Ich werde ein Traum werden und durch die kleine Öffnung Deiner Augenlider werd' ich in die Tiefen Deines Schlafes schlüpfen; und wenn Du aufwachst und bestürzt herumschaust, werd' ich wie ein glitzernder Leuchtkäfer hinaus ins Dunkle schwirren.
 
Wenn zum großen Puja-Feste[15] die Nachbarskinder kommen und herumspielen im Haus, werd' ich in die Musik der Flöte schmelzen und in Deinem Herzen schlagen den ganzen Tag.
 
Die liebe Muhme wird kommen mit Puja-Geschenken und wird fragen: »Wo ist unser Kindchen, Schwester?«
 
Mutter, Du wirst ihr leise sagen: »Er ist in den Sternen meiner Augen, er ist in meinem Körper und in meiner Seele.«



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