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Literatur


04.2





Gedichte

Der zunehmende Mond
Rabindranath Tagore
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Schlafdiebin

 
    Wer den Schlaf von Kindchens Augen stahl, muß ich wissen.
 
    Den Krug auf der Hüfte, ging Mutter Wasser holen aus dem nahen Dorf.
 
    Es war Mittag. Der Kinder Spielzeit war vorüber. Im Teich die Enten schwiegen.
 
    Der Hirtenknab' lag eingeschlafen unter dem Schatten des Feigenbaums. [2]
 
    Der Kranich stand ernst und still in dem Sumpf am Mangohain.
 
    Mittlerweile kam die Schlafdiebin, haschte den Schlaf von Kindchens Augen und flog davon.
 
    Als Mutter heimkehrte, fand sie Kindchen auf allen Vieren durchs Zimmer kriechen.
 
***

   Wer stahl von Kindchens Augen Schlaf, muß ich wissen. Ich muß sie finden und anketten. Ich muß dort in die schwarze Höhle schaun, wo durch Felsen und düstres Gestein ein kleiner Bach sickert.
 
    Ich muß suchen in dem Schlummerschatten des Bakulahains, [3] wo Tauben in den Verstecken gurren und Elfenringe in der Stille der Sternennächte klirren. Des abends will ich in das flüsternde Schweigen des Bambuswaldes lugen, wo Leuchtkäfer ihr Licht verschwenden, und will jedes Wesen fragen, das ich treffe: »Kann einer mir sagen, wo die Schlafdiebin wohnt?«
 
***
 
    Wer stahl von Kindchens Augen Schlaf, muß ich wissen.
 
    Würd' ich ihr nicht ordentlich Bescheid sagen, wenn ich sie nur erwischen könnte! Ihr Nest würd' ich überfallen und sehn, wo sie all ihren gestohlenen Schlaf hütet. Ich würde es ganz plündern und ihn heimtragen.
 
    Ich würd' ihre zwei Flügel fest zusammenbinden, sie an das Ufer des Flusses setzen und sie dann die Fischerin spielen lassen zwischen den Binsen und Wasserlilien.
 
    Wenn abends das Markten vorüber ist, und die Dorfkinder ihren Müttern im Schoß sitzen, werden die Nachtvögel ihr spottend in die Ohren kreischen:
 
    »Wessen Schlaf stiehlst Du Dir jetzt?«


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