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Literatur

04.2



EPILOG
Ernst Toller

Aus dem Schwalbenbuch





EPILOG

Einen Sommer lang lebten Schwalben in eines Gefangenen Zelle. Es war Gnade für ihn. Was sie ihm schenkten, davon suchte er zu stammeln. Der Festungsverwaltung gefiel nicht, was er schrieb. Wer kann die strengen Forderungen einer Festungsverwaltung ergründen! Genug, es gefiel ihr nicht. Sie befahl, daß der Gefangene seine Zelle, die dem Osten ihr vergittertes Fenster zukehrte, verlasse, und wies ihn fürsorglich und mit väterlichem Bedacht eine andre an, die von Norden ihr kümmerliches Licht empfing und keiner Schwalbe Heim werden konnte.  Im nächsten Frühling, im Monat April, kamen die Schwalben wieder. Kamen von irgendwo, aus Urwaldlandschaft und Sonnentraum, in das Geviert kahler, nordischer Zelle. Sie fanden einen neuen Insassen und waren bereit, auch diesem zu sein, was sie dem früheren gewesen.


Kam eines Tages das Buch ins Haus, das der erste geformt und über die Mauer, unerreichbar für die Fanghand der Wärter, geworfen hatte. Einige Stunden später polterten Aufseher in die Zelle, rissen ′befehlsgemäß′ das fast vollendete Nest mit gleichgültiger Gebärde herunter.
 
Wie erschraken die Schwalben, als sie ihre kleine Wohnung nicht mehr sahen! Mit ihren Schnäbeln zogen sie suchend den Halbkreis des Nestgrundes, flatterten ängstlich umher, lugten in alle Winkel der Zelle, fanden nichts!
 
Schon am nächsten Tag begannen sie wieder zu bauen. Und wieder zerstörten die Wächter das Nest.
 
Der Gefangene, Maurer in einem bayrischen Dorfe, schrieb am 18. Mai 1924 diesen Brief:
 
Herrn Festungsvorstand!
 
Ich bitte Herrn Festungsvorstand, den so schwer geprüften, geduldigen und überaus nützlichen und fleißigen Tierchen ihr so hart und schwer erkämpftes Nestchen belassen zu wollen. Ich erkläre, daß dieselben mich nicht im geringsten stören und auch nichts beschädigen. Erwähnen möchte ich noch, daß in verschiedenen Gefängnissen Schwalbennester nicht zerstört werden dürfen.
 
Hochachtungsvoll
Ruppert Enzinger aus Kolbermoor
 
Am 21. Mai gab der Herr Festungsvorstand den lakonischen Bescheid: ′Schwalben sollen im Stall bauen. Da ist Platz genug.′
 
Das Nest, das inzwischen sich rundete, verfiel dem Spruch. Dem Gefangenen aber wurde eine Zelle gen Norden gewiesen, die andre verschloß man.
 
Verwirrt, leidenschaftlich erregt, fingen die Schwalben gleichzeitig in drei Zellen zu bauen an. Halb waren die Nester geschichtet, doch Wächter entdeckten sie, und das Grausame geschah.
 
In sechs Zellen baute das Paar. Wer kann wissen, was sie trieb! Vielleicht Hoffnung, daß die Menschen ihnen ein Nest gewährten aus Einsicht und ein wenig Güte.
 
Die sechs Nester wurden weggefegt.
 
Ich weiß nicht, wievielmal Aufbau und Zerstörung einander folgten.
 
Sieben Wochen dauerte der Kampf schon, heldenhafter, ruhmreicher Kampf barbarischer Rechtsschützer wider den Geist tierischer Auflehnung. Ein paar Tage bauten die Schwalben nicht mehr, sie hatten verzichtet.
 
Leise sprach es sich von Gefangenem zu Gefangenem: „Sie haben im Waschraum zwischen den Abflußröhren eine Stelle gefunden, wo keiner sie entdecken kann, nicht der Spähblick des Wächters, der von draußen die Gitter abtastet, nicht der Spähblick des Wächters, der von drinnen Verbotenem nachspürt.“ Selten lebte reinere Freude im Zellengang. So waren die Schwalben doch Sieger geblieben im Kampf mit menschlicher Bosheit. Jeder Gefangene fühlte sich Sieger mit ihnen.
 
Doch die lauschenden Wächter . . . An einem Morgen starrte der Waschraum leblos und leer.
 
Nicht mehr bauten die Schwalben. Abends flogen sie in eine Zelle, nächtigten dort, eng aneinander geschmiegt, auf dem Leitungsdraht, flogen in der Frühe davon. Bald kam das Schwalbenmännchen allein. Die Schwälbin war gestorben, wohl weil die Menschen ihr wehrten, fruchtschwere Eier zu bergen.
 



Wegen seiner Beteiligung an der Revolution in München im November 1918 war Ernst Toller, zweitweilig Vorsitzender des Zentralrats in der ersten Räterepublik, im Juli 1919 vom Standgericht zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt worden.





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