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Literatur


04.2



Gedichte - Emil Verhaeren

Die Hohen Rhythmen
 



Das Gold

Ströme, Wälder, Gebirge, die ihr in mir lebt!
Ihr auch, und ihr, machtvolle Städte, vor allen!
Ich höre, wie über die Zeitalter hin euer schicksals-
schwangrer Ruf sich erhebt!
Höre den Erdkreis von ihm widerhallen:
 
Euer Tun ist genau, wie eure Ziele ungeheure,
Tausend Schicksale lebt ihr in einem einzigen flüchtigen Los,
Aus allen Rassen der Erde entsproß
Eure Kraft, und des Jahrhunderts Rhythmus ist der eure.
 
Ihr Toten in euren Friedhöfen drin
An den Ebenen der Erde hin:
Von welchem Schauer mögen eure Gebeine erzittern,
Wenn die dröhnenden Züge an euren Ruhstätten hin-
schüttern!
Friedliche Landleute inmitten
Eurer Dörfer kanntet ihr nichts als eure Sitten:
Und nun wälzt die ganze Welt über euch hin ihr Fluten
Tosenden Schall,
Und diese Schienen, die euch mit ihren funkelnden Gluten
Treffen, tragen in die Städte zusammen das unermeßliche
All!
 
Sie lauern am Meerstrand
Mit ihren ragenden Leuchttürmen und Signalen,
Mit ihren Feueraugen unter den Bahnhofhallen.
Das Netz ihres Lärms spannt
Sich bei Tag an, entspannt sich zur Nacht,
Mit seiner Unrast
Auf immer gewaltigere Ernten bedacht.
 
Sieh die Docks, Häfen, Werfte sich regen
Mit ihren Hämmern, Gerüsten und Kompassen,
Wie die Taue der Wellbäume und die Arme der Krane
zufassen
Und  zerstückte Gebirge langsam und sicher herumbewegen.
Sieh, wie die aufgestapelten Schiffsgüter das alte Pflaster
bedecken
Und wie die Herabgeschleuderten Wollpacken in den Staub
fallen,
Und wie plötzlich Brücken sich in den Himmel hineinrecken
Und die rastlos schwingenden Räder und Ketten schallen.
Die bronzehäutigen Malaien und die Araber in ihrem weißen
Kleid,
Ihre Kehllaute und ihr fremdartiger Gesang,
Ihr nachlässiger Gang und ihre hurtige Arbeit
Die leichten Briggs und die schwerfälligen Kalebassen
entlang.
 
In der Ferne ragen Türme, die von Wassergeräusch schallen.
Fackelbrände kreisen in rauchgeschwärzten Hallen.
In den Staub hinein brummt der mächtige Elevator
Und pustet Myriaden von Stäubchen über die Dächer empor.
Fast geräuschlos gelangen
In den tiefen Bauch der Steamer hinab Eisenplatten, Blei-
barren und Stahlstangen.
Wohlbewacht und verschlossen, einsam erheben sich
Ganz am Ende des Hafens die großen Naphtha- und Pe-
troleumbehälter mit ihrem weißen Anstrich.
So dick lagert der Qualm zwischen den hohen Masten,
Daß die Sonne mit dem lichtgleißenden Himmel ganz ver-
schwindet,
Und es in solchen Augenblicken scheint, als ob dies mus-
kelangespannte Hasten
Der ganzen Stadt sich in einem unterirdischen Raum ent-
bindet,
Die Schalter, Kontore, Bureaus hinter ihren grünen Jalou-
sien,
Mit ihren tausend Händen, die mit emsigem Gekritzel über
das weiße Papier hinfliehn,
Registrieren all das Leben, das den Ozean
Von den Antillen furcht bis zum Kap und vom Kap bis zum
Kanal hinan.
Unter diesen Händen bindet sich die gewaltige Menschen-
kraft,
Diese Federn bringen
Auf Zahlen menschliche Kühnheit und Mühsal, Wut, Schreck
und Leidenschaft.
Der Hochöfen mühvolles Werk und des Amboßes schwingen-
des Klingen.
Sie führen über die Hiebe der Hämmer und Picken
In den Minen, Wäldern und afrikanischen Büschen Buch,
Über die Schritte  der schwarzen Träger, die unter ihrer
Last knicken,
Und der roten Krawanen Wanderzug.
Und diese schweren Bücher, die einen dumpfen Ruch
hauchen und in deren Zeilen Gleis
Der menschliche Stolz zu märchenhaften Summen auf-
schießt,
Tränkt Tag für Tag der unermeßliche Schweiß,
Der auf den asiatischen Kais und in den afrikanischen
Docks fließt.
 
Hinter allem aber, an den Kreuzwegen, denen alle Straßen
der Welt nahn,
Herrscht mit ihren mächtigen Dächern, blank
Von runden Fensterscheiben, die wie spähende Augen sind,
von Pol zu Pol über den Ozean   
Die mathematische Seele der Welt, die Bank!
Der älteste der Wünsche dröhnt in ihr,
Und aller Leidenschaften rasender Reigen
Stillt und knüpft seinen schicksalbestimmenden Rhythmus
hier,
Um sich tief vor ihrer kalten Hoheit zu neigen.
Alles ordnet sich in den Liniennetzen
Ihrer Rechnungsbücher; gereiht in Ziffern und Zeichen setzen
Sich Ränke, Laster, Niedrigkeit, Begierde, Stolz und Ar-
beit hier fest,
Wie schlechter Dunst sich in Sielenzeug einätzt.
Alles wird von ihr aufgesaugt, brennt in ihr, wird von ihr
ausgehaucht;
Es fehlt die Zeit, die es braucht,
Zu scheiden Recht von Unrecht; alles zollt
Der rauhen Seele des Lebens, dem triumphierenden Gold.
 
O furchbarer Regen, der sich über die Welt spreitet!
O ihr, die ihr euch nachts über den widerstandslosen Erd-
kreis herneigt, wie eh,
Flammende Himmel, mit unendlichen Gestirnen geweitet,
Der Goldregen auf den Schoß der Danae!
O ihr Goldwirbel, die ihr die Augen irrsinnig macht;
Gold verloren, wie errafft; Gold, du Wort der Welt;
Saft, der in die Kronen steigt und hinabdringt zum Wurzel-
schacht,
Wie ein ewiges Blut in allen Wäldern der Welt!
Gold, Band das alle Völker und Länder bindet;
Gold, das im Krieg wie im Frieden rollt,
Und doch immer irgendeine unbeachtete Eintracht bindet,
Da die Ordnung der Dinge selbst gewebt ist aus Gold!


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Der Meister

Man neidet ihn.
Schon lange. Im geheimen, versteht sich. Abseits.
 
Seine unversieglichen Ränke, seine Verschlagenheit;
Sei Stolz, der selbst dann noch oben stand,
Wenn er sich, zweideutig, aus einer Schlinge wand;
Seine Kunst, jedesmal überraschend und stets unverlegen,
Fingierte Komplotte zu erregn.
Und dann
War es der scharfe und brüske Bann
Seiner Stimme; sein Wort auch, das sich nicht auf geschmei-
dige Lügen verstand;
Und es war
Die Art, wie seine Stirn sich plötzlich aufrichtete
Mitten hinein in den Donner der Gefahr.
Eines Tags jedoch,
Als alle sein Joch
Am unerträglichsten lasten fühlten, erhob sich plötzlich
jemand,
Ein Unbekannter, als schon die Abenddämmerung
Sich auf die Sitzreihen legte, und fand
Endlich einen Ausdruck für den verhaltenen Groll der
Versammlung.
Der Angriff wurde so leidenschaftlich wie offenherzig
geführt
Und von allen, bei gewissen schwungvollen Momenten,
applaudiert.
Das Wort dieses sonst stummen Irgendwer,
So seltsam neu,
Fuhr wie ein roter Blitz durch ihre Hirne daher,
Forderte den Meister heraus und ging auf ihn los ohne Scheu.
Er antwortete mit lächelndem Spott,
Als rings um ihn her schon hundert Hände ragten,
Die die Entscheidung der Debatte auf morgen vertagten.
 
Das Reich!
Fast volle zwanzig Jahre war
Es wie ein Schiff unter seiner Faust,
Auf dessen Masten stolze Flaggen wehen,
Worauf sein Wort und Wille als Devisen stehen,
Getakelt war das stolze Werk mit seiner Vollkraft;
Der Bug von Gold, die Want-Taue klar, die Klüver feurig
gestrafft,
Und die Segel, die unermeßlich in den Raum hineinstreben,
Sind sein Leben,
Wenn sie mit ihrem Glanz hineinrauschen ins Meer.
Wohl, und in dieser Stunde, in der sein Sieg in seinem
Zenith stand
Und er auch nicht die leiseste Ursache fand,
Zu argwöhnen, es fehlte an Festigkeit, geschmeidiger Kühn-
heit und widerstandssichrer Hand
Das Fahrwasser zu wechseln und nicht auf Riffe zu rennen,
Kommt plötzlich ein bleicher Phantast daher,
Den alle seine Feinde Retter nennen,
Und im Namen einer unvorhergesehenen, fremden
Gerechtigkeit
Anzugreifen die Frucht seiner Arbeit.
 
Schon rühren
Sich über das ganze Land hin die Telegraphen und führen
Die öffentliche Hoffnung, den öffentlichen Schreck in alle
vier Wände hinaus.
O die Sorge: wie geht der bevorstehende Kampf aus!
Industrie und Bank geraten in kritische Situation.
Und der Goldkurs pulst wieder in seiner ganzen Welt-
dimension
Ängstlich die fieberhafte Erregung
Einer einzigen Versammlung.
 
Ein stürmisches Publikum, hier, dort, überall,
Füllt, an den Pfeilern sich quetschend und oben auf den
Galerien,
Mit enormer Masse gegen die Wände gepreßt
Den Saal,
Als der Meister mit festem, langsamen Schritt
Am nächsten Tage den großen Saal betritt
Und sich auf seinem Platze niederläßt.
 
Und wie er Stufe für Stufe, die breite, massive, glänzende
Tribüne erklimmt,
Schweigt
Eine so lautlose Stille im Saal,
Daß man mit einemmal
Das von einem zufälligen Wind erregte Gezweig einer
Buche vernimmt,
Das oben an den blassen Scheiben eines Fensters
hinstreicht.
Und nun,
Ohne einen Laut zu stark zu heben, oder eine zu lebhafte
Geste zu tun,
Nimmt seiner Rede geschmeidige Kraft
Die Versammlung in Haft.
 
Mit froßer Gewandtheit war er zugleich Hinterhalt und
Aufrichtigkeit;
Und geschickt, doch ohne emphatische Wichtigkeit
Legte sich seine Rede über die Versammlung wie ein
weiches, schillerndes Gefieder;
In genau geregelte Glieder
Ordnete er die geflügelten Argumente, mit denen er seine
Sätze stützte;
Und plötzlich blitzte
Über allen das tiefe Firmament auf, das
Er Tag für Tag ins rechte Licht setzte,
Damit man ihn schreiten sehen konnte gleich einer gewal-
tigen Walküre,
Und wie er das Vaterland lenkte ohn Unterlaß.
Alsdann wird sein Wort zurückhaltend, bedrängt,
Und ohne Anstrengung und heftige Sprünge, ganz im stillen,
Wie ein geduldiges Wasser sich durch einen Spalt zwängt,
Ergreift er und taucht er unter die Willen.
Er sah, wie seine Sache sich wieder rangierte
Und schon ein Weg zu seiner Apotheose emporführte,
Einer glänzenden, wenn auch noch fernen.
 
Er brauchte das Spiel der Gewissen nicht erst kennen zu
lernen
Und täuschte sich nicht, daß er seinen Einsatz stellte
Auf eine zwar noch nicht gewisse Nummer, die das Glück
aber bereits erhellte.
Wie Gartenblumen waren ihm Versprechen:
Man muß sie ohne Zaudern anordnen, zeigen, brechen,
Zwar verachtete er ausdrücklich jedes alte Stratagem,
Aber er travestierte und benutzte es trotzdem.
 
Schließlich, als er wahrnahm, daß seine Gewalt
Die des Schicksals war
Und daß seine Gestalt
Über die Zufälle hinausragte, die die Gefahr
Der Schlachten sind, da plötzlich fiel
Das letzte aufgesparte, lebendige, grausame, jähe, not-
wendige Wort.
Mit dem er seiner Feinde Spiel
Zu Boden schlug.
Er entbindet ihre eigene Wut, erregt ihren eignen Verdruß,
Nimmt in sich auf all ihre gewundenen Flammen;
Und eine ihrer Gewalten muß
Sich gegen die andere richten; sich teilen, sich drehen,
brennen, und verdammen
Müssen sich ihre wichtig hohlen Reden und ihre hyper-
bolischen Phrasen,
Ihr eignes Wort zerschmettert sie und muß gegen sie rasen.
Er wuchs empor in einem Sinn, der jedem unmöglich er-
schien;
Und so gewann er, Schritt für Schritt, die Tribünen;
Ein kurzer historischer Moment brachte das Glück ganz in
seine Macht;
Und er, der ihn als der erste lanciert,
Wohl wissend, welchen donnernden Beifall er entfacht,
Sieht sich, die Arme gekreuzt, schon, wie er seinen Sieg
fixiert.
Für den sanften Träumer hat er eine nachlässige Entschul-
digung,
Dessen jugendlicher Diskurs und betrüblicher Begei-
sterungsschwung
Gegen seinen Willen die Erregung
Zum jähen Orkan aufgeballt;
Dann wandelt er plötzlich in Schrecknis seine Gewalt:
Sein Wort rasierte, so leidenschaftlich wie kalt,
Das schon von seinen Gegnern niedergestampfte Feld,
Um es noch mehr auszunützen und trotzdem noch so viel
Feinde herauszuschlagen, als er für nötig hält
Für sein schon unsinnig hohes, aber wohlgefügtes Ziel.
Er bezeichnet sie mit Mienen
Als verdammt, ihn stets nur anzugreifen, ohne daß ihnen
Je Sieg werde,
Und mit ihrer Besessenheit, ihn zu bekämpfen, ihm nur zu
dienen;
Bezeichnet sie als eine finstre, dumpfe Herde,
Die ewig vor der Peitsche und dem Hundszahn bang;
Und seine monumentale Hoheit sank
Auf sie, langsam und schwer,
Block für Block, Stein für Stein, daher,
Ohne daß irgendwer
Auf diese Wut
Einen Schrei der Empörung hatte in der tiefen Stille,
Die auf dem Saal ruht.
 
Bald schallte
Sein Triumph durch die Stadt, von wo er bis zu den äußer-
sten Grenzen der Welt widerhallte;
Und mit einem Schlag waren die Hoffnungen von neuem
entfacht,
Die man aufgepfropft auf das buschige Geäst seiner uner-
schöpflichen Macht;
Die tausendfältige, keuchende Betriebsamkeit
Nahm wieder ihren Aufschwung
Übers Meer hin hinein in den Raum,
Und bis zum Himmelssaum
Hob der reißende, freche Strom des Goldes wieder seinen
Aufsprung
Von den Schwungbrettern seiner Vermessenheit;
Und er, der Meister und allmächtige klare Lenker, der sich
auf das Unwetter verstand,
Dessen Blitz einzig seine Hand
Hielt, um zu treffen, zu schonen, zu drohen, zu zwingen:
Schnell begann ihm sein Lächeln und seine Heuchelmiene
wieder zu gelingen,
Die seine Freude verteidigt und sie in guter Hut hat.
Geborgen sollte sie sein vor lärmendem Aufruhr,
Daß ihr einsamer Glanz keine Trübung erfuhr;
Doch wie er wieder sein altes Haus betrat,
Und vom fernen Horizont her
Immer noch das huldigende Stimmenmeer
Zu ihm herdrang, schuf er sich selbst ein stilles, seliges
Glück,
Indem er sich sagte vor seinem Gewissen und Verstand,
Daß in diesem Augenblick
In Wahrheit wohl allein er dastand
Als das Reich.


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