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Literatur


04.2



Gedichte - Emil Verhaeren

Die Hohen Rhythmen
 



Die Anziehungen

FERN wohl am Heideland
Steht noch das wunderliche, altfränkische Lusthaus,
In dem ihre Liebe sich fand,
Und überlebt sie, vergessen und verlassen;
Fern wohl am Heideland,
Wo die mächtigen Kalebassen
Bestaunen im feuchten Schlamm der Moräste
Ihren Bug und in goldigem Gegläste.
Fern wohl am Heideland,
Am Flußrand,
Mitten im Herzen von Holland.
 
An einem Augustabend hatte er sich von hinnen gewandt,
Als die scheidende Sonne mit der fröhlichen Brise spielte;
Von hinnen gewandt, und Gott allein wußte, wohin sein
Weg zielte.
Doch als er wiederkam, nach manchem Tag und Jahr, aus
heißem Kampf mit seinem Geschick,
Sehr stolzgemut, brachte er, in Gemüt und Blick
Tiefer und bewußter erblüht
Und sein Arm vom unendlichen Raum müd,
Mit zurück
Die Welt.
 
Er sah Meere, und immer wieder Meere, Meer und Meer-
wogen,
Und Golfe, mit prangendem Saum gebogen,
Große, weltverlassene Wälder Meilen und aber Meilen
weit sich hinziehen.
Und mit ihrem riesigen Geäst in glühende Himmel dringen,
Und zwischen ihren Stämmen unter blauen Lianenschlingen
Weiße Affen aufspringen und fliehen.
In jenen Breiten hatten die Länder die Farbe der Koralle,
Und langgeschweifte Vögel aus Gold und Purpur mit Schnä-
beln aus Emaille
Schwebten – Spiegel zugleich und Blumen – umher in
perlmutterfarbenen Düften,
Und Gebirge spiegelten ihre Abbilder in den Lüfen.
Am Meergestade schritt er hin unter sanften Gedanken,
Und in der klaren Brise, die all seine Fibern tranken,
Glaubte er vertraute Liebkosungen zu spüren:
Zwei weiche Hände schienen seine bloßen Schläfe zu be-
rühren,
Und das tat so gut, daß sein leidenschaftlich entrücktes
Gemüte
Beschworen hätte, diese beiden Hände, ganz Liebe, ganz
Güte
Gelangten zu ihm her durch die weite Unermeßlichkeit.
 
Sie aber weit
In der Ferne, am heimatlichen Heiderand,
In ihrem blütenduftendem Heim, das Efeu umwand,
War nur bei ihm, dem Fernen, mit all ihrem Leben und
Wissen.
Der Schrank, der die geliebten Briefe barg, die er ihr ge-
schrieben,
Die breiten Fauteuils, die weichen Diwans und die schweren
Kissen,
In denen noch der Eindruck ihrer liebeverlorenen Häupter
verblieben.
Der meergrüne Kristalspiegel, der einst ihrer beider Blick
stahl
Mit einem einzigen, klar leuchtenden Strahl,
Sind Bande, die still, doch stark ihr Leben halten
Mit ihren zarten Erinnerungsgewalten.
 
Manchmal, abends, wenn im West die letzten Lichtstreifen,
Von fernher noch eben so an den Haustüren hinschweifen,
Streichen mit sanfter Inbrunst ihre treuen Hände
Über ihre schönen Brüste, ihren Mund und ihre Lider,
Als fänden ihre frommen Finger da noch einmal wieder
ihn und die Spuren seiner Brände.
Und alsdann ist es ihrem Herzen ein so schönes Fest,
Daß nichts, weder der nachtdunkle Himmel oben in seinem
Sternenkleid,
Noch ein Orkan von Unheil und Leid,
Nichts ihr würde trüben können das Traumglück, daß ihr
diese Stunde der Entrückung läßt,
Wenn sie plötzlich auf ihre gefalteten Finger einen Kuß preßt.
 
O, diese beiden Herzen einander zugewandt über den
Ozean!
 
Am Rand der wilden Bergströme, wo riesige Felsen auf-
streben,
Oder wohin sonst er den Fuß setzt – Täler, Steppen, Ebe-
nen, Meergestade,
Schlammige Moräste, wildes Gestrüpp, verlorene Pfade –
Fühlt er in seiner Seele all ihr Denken sich regen und all
ihr Leben.
Und bei ihm ist sie, wenn er wandert, einem fernen Ziel ent-
gegen, unter dem Gold der Nächte
Auf Pfaden, wo Unheil schauert
Und sprungbereite Gefahr seinen Schritt belauert.
 
II
 
DOCH geschah es an einem Spätnachmittag,
Als er, auf der Heimkehr begriffen, ein flußreiches Land
Passierte und ein kultiviertes Gefild, das im Schmuck neuer
Gebäude stand,
Daß hinter einem Aquädukt hervor, der sich einen schim-
mernden Himmel schob,
Die rote Großstadt, wie ein Garten von Gold und Stein,
Vom Horizont der Ebene her mit einem blendenden Schein
Unvermutet seine Phantasie erregte und ihm das Herz hob.
 
Ohne Rast
Ging ein dumpfes Getös von ihr aus
Unter der trüb wuchtenden Last
Giftig beizender Rauchschwaden,
Und einte sich mit dem fernen, rhythmischen Braus
Des nahen Meergestades.
Ab und zu wird von jähen, grellen
Pfiffen die Luft zerrissen, her von den Werkstellen;
Und von den Holz- und Petroleumdocks her
Tönen
Die Rufe der Dampfsirenen
Wie aus einer lebendigen Brust hervor, stumpf, rauh, schwer.
Hoch von den Leuchttürmen spreiten
Sich Feuerfächer und legen ihre Strahlen breit auf das Meer
Und goldig über den Bug der Riesendampfer her,
Die, vom Ende der Welt nahend, in den Hafen gleiten.
 
Die Riesenstadt. Welchen Stachel tragischer Pein,
Welch fieberhaftes Beben senkte sie in sein Innerstes ein!
Ein festgerichtet leidenschaftlich Streben, robust basierte
Ziele, logisch gerichtete Kräfte,
Den Geist nährende Willenssäfte,
Aufstrebende Arbeit bestricken seinen Geist und erheben
sein Herz,
Und reißen sein Wesen mit einem neuen Drange ungestüm
aufwärts,
Wie er lernbegierig zwischen den himmelhohen Häusern
schreitet.
Er fühlt sich klarer, stärker, größer, geweitet.
Der Spiegel seiner Seele gleicht die Gegensätze aus.
Er vervielfältigt sich in das Gebraus
Dieser Massen da; ihre Bewegung, ihr Lärm, ihre Sprache,
ihr Geschrei, ihr Schritt
Teilen ihm ihren Rhythmus mit;
Und diese wunderbaren Züge, auf  ihren Schienensträngen,
Mit ihren fahl gekräuselten Rauchfahnen, drängen
Sich mit ihrem Rollen, Dröhnen und Schüttern
In all seinen Fibern, um sein junges, heißes, geschmeidig
gelehriges Herz zu durchwittern
Bis in seine innerste Tiefe mit dem Rhythmus der Stadt;
Dem neuen, fieberhaft keuchenden Einklang.
Der herrisch alle Seele durchdrang,
Und in seine Begeisterung hineinzwang
Den Schritt der Zeit.
 
Doch, ach. SIE dort in ihrer Einsamkeit,
Deren sanftes Gebet mit gefalteten Händen hindrang über
Land und Meer!
Wie fühlte sie in diesen trüben Tagen ihr Herz müd und
schwer,
Und den frommen Strom erloschen und den Raum leer!
Die lieben Möbel verstecken
Ihre zarte Magie; und die Diwans – unzähligemal ange-
rufene Zeichen einstiger Seligkeit! –
Verändern ihre freundlichen Falten und schmollen in ihren
Ecken,     
Und in den dunklen Abendschauern
Tönts wie Weinen und Geseufz um die Mauern.
 
III
 
DOCH während sie umherging, das Herz
Aus Trauer in Angst gerissen und aus Angst in Schmerz,
Badete er, von diesen neuen gesteigertenLeben hinge-
rissen,
Seine Energie wie in Feuergüssen:
Ein schwankendes Rohr im rauhen Ostwind
Bebt sein Schicksal, nach seinem Willen gesinnt.
Das wahnwitzige, schreckliche Gold durchrast
Sein Hirn wie mit eines roten Unwetter Blitzglast;
Die Wut der Konflikte und die äußerste Gefahr
Verkrochen sich auf seinen Anruf demütig in ihr Hundeloch;
Er war
Meister und König einer selbstherrlichen Kraft
Und nahm die Menschen in Haft
Unter ein lichtes, bestrickendes Joch;
Und der Glaube an die Unerschütterlichkeit seiner Macht
ist so felsenfest gestellt,
Daß er sich für die Gebärde und die Hand es Schicksals
selber hält.
Die für ihn auf den Inseln und in den Ländern des Eises und
Rauhreifs im fernen Nord
Gold, Silber, Zinn, Blei, Kupfer aufspürten,
Gehorchten, wo sie sich mit der harten Picke zwischen
dem Gestein rührten,
Ohne ihn selbst zu kennen, in allen Ländern seinem Wort
Und seiner unermüdlichen, zähen Überlegung.
Sie erfüllten seine Seele mit einer tausendfältigen drama-
tischen Bewegung.
Seine mächtigen Schiffe, unter der Last ihrer Ladung ge-
bogen,
Überstrahlten mit ihrem Glanz die Meerhorizonte.
Und sie stampften mehr in seiner Seele als durch die
wilden Wogen.
Manchmal, wenn er seine Worte besonders betonte,
Blickten seine Augen den sie fixierten an, ohne ihn zu sehen;
Abends aber, wenn er dann unter seiner Lampe sitzt, in die
Arbeit versunken,
Fiebernd von Erfolgen und von Kalkuls trunken,
Und ihm seine Docks, Häfen, Meere und alle Welt
Durch das Hirn gehen,
Ist es der unermeßliche, klare Alleinklang,
Den er jauchzend empfindet mit seinen Wehen
Bis in sein innerstes Mark. O Pole, Äquator, Sterne:
Wie ihr eisiges Grauen, ihre Gluten in ihm strahlen,
Und wie in seinem Hirn tönt ihr hehrer Unendlichkeits-
gesang.
   
IV
 
FRIEDLICHE Stunden, Zeiten, kaum vergangen,
Zauber jener, die ihn, ach! erwartet mit so treuem Bangen,
Mit ihrer ganzen Seele und all ihrer Liebe,
Am anderen Ende der Erde und der Meere, weitab vom
Getriebe:
Rauh überhört er euren sanften Ruf!
So machtvoll hat sein Wesen sich gesteigert und so ganz
sich gewandelt,
Daß er nur Sorge kennt, wo es sich um die unergründliche
Macht handelt,
Die das Menschenherz zum Herz der Welt umschuf,
Und die, ein unerbittliches Gebot,
Stets über ihm mit wer weiß welchem ewig wachen und
wunderbaren Schreck droht.
Zeiten von unlängst, Inbrunst der Neigung, friedsame
Stunden:
Vergessen und verschwunden!
Und das goldne Bild: sein Gold in der Unrast der Tage
verblaßt!
O Stunde jener Winternacht,
In welch schluchzende Tragik gefaßt,
Als der lichte Kristallspiegel, der einst ihrer beider Blicke
mit einem einzigen Blitz gebannt,
Plötzlich in der liebenden Hand
Zerbrach!
 
Ihr Herz weiß sich nur noch ein trauervolles Grab,
Dem nur die Fackel der Erinnerung Licht noch gab.
Mit großen Blumen, noch vor Abend verblüht,
Verbringt sie ihren Tag, der so schaurig langsam flieht.
Die heimkehrend ihr von den fernen Ozeanen erzählten,
Waren mit ihrem Los vertraut, das sie ihr hehlten.
Nicht ein armer Zehrpfennig mehr
War ihr geblieben;
Und wenn ihr Leib spähend sich hinwandte zum Meer:
Wo war jene magische Sympathie seiner Wogen geblieben?
Seltsam schön ward ihr Auge von ihrer langen Pein,
Und das selig blühende Ungestüm ihrer Seele ging lang-
          sam ein
In Nacht und Schweigen.
So sehr,
Daß ihr nichts mehr
Blieb als der Tod;
Den sie ohne unnütze Klage eines Winterabends mit einem
sanften Lächeln entbot.
Und ihr letztes Wort, dem Geliebten geweiht,
War nur jenes schlichte Wort, das bewundert und verzeiht.
 
Und jetzt
Ist es am Heideland
Das wunderliche altfränkische Lusthaus,
In dem einst ihre Liebe sich fand,
Das sie beide überlebt, vergessen und verlassen;
Am Heideland,
Wo die mächtigen Kalebassen
Bestaunen im feuchten Schlamm der Moräste
Ihren Bug und im goldigen Gegläste;
Fern am Heideland,
Am Flußrand,
Mitten im Herzen von Holland.


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