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Engel-Geschichten

Hans Christian Andersen





Das Engelchen
Leonid Nikolajewitsch Andrejew


Der kleine Sascha hatte ein widerspenstiges Seelchen, manchmal kam ihm der Wunsch, dasjenige nicht zu tun, was man schlechtweg Leben nennt, er wollte nicht früh aufstehen, sich nicht mit kaltem Wasser waschen, nicht zur Schule gehen – da er aber erst acht Jahre alt war, wusste er nicht, wie man es einrichten könnte, nicht zu tun, was von ihm verlangt wurde, so tat er es weiter, doch tat er alles schlecht und brachte zu Weihnachten ein schlechtes Zeugnis aus der Schule. Heimkehrend ging er zum Vater – diesen hatte er sehr lieb und hoffte von ihm weniger Tadel zu hören.

Sascha!“ sagte der Vater, „warum nur bist du so widerspenstig? Sweschnikows haben für dich eine Einladung zum Weihnachtsbaurn geschickt.“

Sweschnikows waren reiche Leute, sie bezahlten das Schulgeld für Sascha, dessen Vater ihr früherer, wegen Krankheit frühpensionierter Beamter war. Sascha war es nicht angenehm, der Einladung Folge zu leisten, man würde dort sicher fragen, wie es ihm in der Schule gefalle. Doch bestand die Mutter darauf, dass er hingehe, und um Sascha zum Gehorchen zu bewegen, sagte der Vater: „Geh hin, Söhnchen, vielleicht gibt man dir für mich ein kleines Geschenk, ich habe schon eine Woche keinen Tabak.» Das genügte, um Sascha gefügig zu machen.

Die Kinder wurden nicht gleich in den Saal gelassen, sie waren aufgeregt und lärmten in Erwartung der Weihnachtsbescherung. Da öffnete sich die Tür, und den Atem anhaltend, die Äuglein weit aufgerissen, liefen alle in den Saal, wo eine große, herrlich geschmückte Tanne stand. Sascha ging, gleich den anderen Kindern, rund um den Baum. Auf einmal blieb er stehen, seine Augen blitzten vor Verwunderung: Auf einem der oberen Äste sah er einen aus Wachs gefertigten Engel hängen, seine Flügelchen waren durchsichtig und zitterten, bewegt durch die Wärme der rundum brennenden Kerzen. Er sah wie lebend aus, als wäre er bereit, gleich davonzufliegen. Sascha starrte ihn an, und in ihm erstand ein so starker Wunsch, den Engel sein eigen zu nennen, dass er – trotz seiner großen Schüchternheit – zur Hausfrau lief und sie bat: „Tantchen! Bitte, schenk mir den Engel!“ – „Das geht nicht, mein Kind; alle Sachen müssen bis Neujahr am Baum hängen bleiben,  dann erst werden sie an die Kinder verteilt.“ Sascha schien, als falle er in einen tiefen Abgrund.  Er griff zu einem neuen Mittel: „Tantchen“, sagte er, „ich bereue es, unartig gewesen zu sein, und verspreche fest, von nun immer gut zu lernen“. Doch auch diese Worte erweichten das Herz der Hausfrau nicht. Da rief Sascha mit entsetzter Stimme: „Gib ihn mir! Ich muss ihn haben!“ und fiel vor Frau Sweschnikowa auf die Knie. „Du bist ja verrückt! Auf die Knie fallen tut man nur im Gebet vor Gott.“ Doch als sie in die Augen des Buben schaute, unterbrach sie ihre Belehrung und fügte hinzu: „Was du für ein dummes Menschlein bist! Meinetwegen – sollst das Engelchen haben.“ Als Sascha den Engel in Händen hielt, blitzten ihm Tränen in den Augen, er sah die Hausfrau mit seligem Lächeln an, seufzte tief und verließ eilig den Saal. Er suchte nach seinem Mantel und lief heim.

Mutter hatte sich schon niedergelegt, ermüdet von der Vorfeiertagsputzerei.  In der Küche brannte aber noch eine kleine Petroleumlampe, der Vater wartete auf die Heimkehr von Sascha.

„Ist der Engel nicht wunderschön?“ fragte der Knabe. „Ja“, entgegnete der Vater, „er hat etwas Besonderes an sich, pass auf, dass er uns nicht davonfliegt!“ Sascha starrte das Spielzeug an, unter seinem unverwandten Blick schien das Engelchen größer, leuchtender zu werden, seine Flügel bebten noch stärker … und alles, die blakende Lampe, die verrauchte Tapete, der einfache Holztisch, ja die ganze ärmliche Einrichtung des Raumes verschwand… Dem alten Mann schien, er befinde sich wieder in der Welt, zu der er einst, als er noch nicht arbeitslos war, gehörte, als er weder Sorgen noch Not kannte, als sein Leben froh und heil dahinfloss.

Das Engelchen war herabgestiegen und hatte einen Lichtstrahl in sein graues, eintöniges Leben gebracht. Und neben ihm, dem Alten, saß mit leuchtenden Augen, ebenso glücklich wie er, das am Anfang des Lebens stehende Menschlein. Für beide waren Gegenwart und Zukunft entschwunden.

Formlos und nebelhaft war Saschas Träumerei, alles Schöne, alle Hoffnungen seiner sehnenden Seele schien das Engelchen in sich eingesogen zu haben, daher strahlte es in solch herrlichem Licht, daher bebten so geheimnisvoll seine Flügel.  In solchen Halbtraum versunken, war Sascha unbemerkt eingeschlafen, auch der Vater begab sich zur Ruhe.

Und das Engelchen? Aufgehängt in der Nähe des warmen Ofens, begann es zu schmelzen, dicke Wachstropfen flossen längs seiner Füßchen hinab, dann erbebte der ganze Engel, als wolle er tatsächlich fortfliegen, und fiel auf die heißen Platten des Ofens. Eine neugierige Schabe begann die formlose Wachsmasse zu umkreisen, lief dann eilig davon.

 Ins Fenster drang das Licht der Morgendämmerung, im Hof klapperte der Wagen des Milchmanns – und der Engel war nicht mehr! Was tat’s? Durch sein kurzes Dasein hatte er doch die zwei Menschen für einige Zeit so glücklich gemacht!



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Textgrundlage: "Das Engelchen" ,
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