Engel-Geschichten
Ludwig Bechstein
Das Tränenkrüglein
Es
waren einmal eine Mutter und ein Kind, und die Mutter hatte das Kind,
ihr einziges, lieb von ganzem Herzen und konnte ohne das Kind nicht
leben und nicht sein.
Aber
da sandte der Herr eine große Krankheit, die wütete unter den Kindern
und erfasste auch jenes Kind, dass es auf sein Lager sank und zum Tod
erkrankte. Drei Tage und drei Nächte wachte, weinte und betete die
Mutter, die nun allein war auf der ganzen Gotteserde, ein gewaltiger
und namenloser Schmerz, und sie aß nicht und trank nicht und weinte,
weinte wieder drei Tage lang und drei Nächte lang ohne Aufhören und
rief nach ihrem Kinde. Wie sie nun so voll tiefen Leides in der dritten
Nacht saß, an der Stelle, wo ihr Kind gestorben war, Tränen müde und
Schmerzens matt bis zur Ohnmacht, da ging leise die Türe auf, und die
Mutter schrak zusammen, denn vor ihr stand ihr gestorbenes Kind.
Das
war ein seliges Engelein geworden und lächelte süß wie die Unschuld und
schön wie in Verklärung. Es trug aber in seinen Händchen ein Krüglein,
das war schier übervoll. Und das Kind sprach: »O lieb Mütterlein, weine
nicht mehr um mich! Siehe, in diesem Krüglein sind deine Tränen, die du
um mich vergossen hast; der Engel der Trauer hat sie in diesem Gefäß
gesammelt. Wenn du noch eine Träne um mich weinest, so wird das
Krüglein überfließen, und ich werde dann keine Ruhe haben im Grabe und
keine Seligkeit im Himmel. Darum, o lieb Mütterlein, weine nicht mehr
um dein Kind, denn dein Kind ist wohl aufgehoben, ist glücklich, und
Engel sind seine Gespielen.«
Damit
verschwand das tote Kind und die Mutter weinte hinfort keine Träne
mehr, um des Kindes Grabesruhe und Himmelsfrieden nicht zu stören.
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Textgrundlage:
"Das Tränenkrüglein" , Ludwig
Bechstein,
shambala25
Logo 21: "Angel", 2006, Urheber Nevit
Dilmann
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