Die
Weihnachts-Bowle
Graf
Beisersheim, ein Herr
von unbestimmbaremn Alter dem Äußeren nach, der aber nur
ein paar Sätze zu sprechen brauchte, um allen, die ihm zuhörten, die
Überzeugung beizubringen, er müsse wenigstens zweihundert Jahre alt
sein, — so angefüllt
mit wohlabgelagerter Kenntnis der Welt und der Menschen war seine
Rede, — Graf
Beisersheim hatte sich in einer Anwandlung von seltsamer, gewissermaßen
hautgout-rüchiger Sentimentalität einen Christbaum angeputzt.
Sich
und einigen Freunden,
die er nun zur ”Bescherung“ einlud.
Das
Haupt- und Mittelstück
davon, ja wohl der eigentliche Sinn der ganzen Veranstaltung war eine
ostpreußische Bowle von vielen Graden, vor der selbst Willibald Stilpe,
der
doch (siehe das dritte Kapitel des dritten Buches seiner lehrreichen
Lebensbeschreibung) in alkoholischen Dingen eine anerkannte Autorität
war, ein
Gefühl von Respekt empfunden haben würde. Burgunder,
Sekt, Sherry, Porterbier, Rum vereinigten sich, nach den besten
Grundsätzen
gemischt, in der gewaltigen silbernen Terrine, aus der das erlauchte
Geschlecht
der Beisersheims schon seit Jahrhunderten seine schwersten Räusche
bezog, zu
einem neuen Kraftorganismus, der imstande war, einen Vollmatrosen auf
Anhieb
unter den Tisch zu strecken. Nicht aber auch den Grafen, der ihn ins
Leben
gerufen hatte und trotz seines knickebeinigen, kontrakten Gestelles,
das kaum
einem ordentlichen Novemberwind standzuhalten vermochte, im Kampf mit
alkoholischen Gewalten so widerstandsfähig war, wie nur irgendeiner
seiner in
Eisen geschienten Vorfahren auf dem Turnier- oder Schlachtfelde.
Seine
Freunde, zumeist
Schriftsteller und Künstler oder Angehörige von Kreisen, die aus
geschäftlichen
oder anderen Interessen engere oder weitere Beziehungen zu Literatur
und Kunst
pflegten, waren zwar auch trinkfeste Herren, einer so kräftigen
Ostpreußin aber
doch nicht vollkommen gewachsen.
Es
dauerte nicht gar lange,
und der redelustige Graf verschwendete seine aufs
schärfste geschliffenen, in tausend Facetten von Witz und geistreicher
Schnödigkeit blitzenden Bosheiten an eine Korona von Schlummernden.
Gleich
ihnen, die in den breiten ledernen Klubstühlen mehr lagen als saßen,
waren auch
die Christbaumkerzen in sich zusammengesunken, und nach und nach
löschte eine
nach der anderen knisternd aus, als letztes Zeichen einer verglühten
Existenz
einen dünnen Rauchfaden in das grüne Geäst sendend. Schließlich
erhellten nur
noch die dicken Wachslichter in den breiten messingenen, mit dem
Beisersheimschen Wappen gezierten Wandleuchtern den von Zigarren- und
Zigarettenrauch massig durchschwadeten Raum, dessen Luft schon so voll
von
Alkoholdünsten war, daß man allein davon einen ansehnlichen Rausch
hätte
bekommen können.
Der
Graf, der es in seinen
Dramen (denn auch er hatte ein Verhältnis mit der Muse der Dichtkunst,
und noch
dazu ein ernsthaftes, das nicht ohne Folgen geblieben war) aus
prinzipiellen
Gründen von unerschütterlicher Festigkeit nie über sich gewonnen hätte,
eine
seiner Personen in Monologen reden zu lassen,
wandte seine künstlerischen Prinzipien im Leben selber insoferne nicht
an, als
er, gewohnt und geschickt, viel und witzig zu reden, in gewissen
Zuständen auch
dann sprach, wenn niemand da war, der ihm hätte zuhören und antworten
können.
In einen solchen Zustand geriet er jetzt, als er langsam Glas auf Glas
der
schweren ostpreußischen leerte und eine russische Zigarette nach der
anderen
dazu rauchte.
”Eine
sehr stimmungsvolle und durchaus dem Sinne
des Festes entsprechende Weihnachtsfeier,“ bemerkte er, indem er
seine kleinen, grau-grünen Augen über die Reihe der Schlafenden
schweifen ließ.
”Nur schlafend
können sie das Fest der Liebe feiern, denn, wenn
sie wach wären, würden sie reden, und wenn sie redeten, würden sie
irgendeine
Reputation zerreißen.“
In
diesem Augenblick tat
ein rot und gelb bemalter Nußknacker, der am Baume hing und einem
engeren
Konkurrenten des Grafen, auch einem dramatischen Schriftsteller (dem er
übrigens ähnlich sah), zugedacht war, die hölzernen Kinnladen
auseinander
und sprach in einem aus erklärlichen Gründen etwas harten
Dialekt, wie folgt: ”Und du?
Warum schläfst dann du nicht? Du
hast es doch besonders nötig?! Jungchen, Jungchen! Du denkst natürlich
an
meinen neuen Herrn. Aber so boshaft wie du, Menschenskind, ist nicht
einmal er.“
”Pih,
pih,“ machte da eine kleine Balleteuse, die sich der Graf selber
geschenkt hatte und die,
ein niedliches Figürchen aus Porzellan und über und über mit Spitzen
und
Rüschchen bedeckt, unter dem Nußknacker hing, ”pih, pih, reißt der das
Maul auf! So schreien kann ich freilich nicht, aber
das möchte ich denn doch bemerken: Der Unterschied zwischen meinem und
deinem
Herrn besteht bloß darin, daß meiner mit Geist boshaft ist und deiner
bloß mit
Grobheit. Denn meiner ist ein Graf und deiner ein Bauer.“
Während
sie dies mit einer
süßen, aber doch etwas spitzigen Porzellanstimme sprach, warf sie recht
zierlich bald das eine, bald das andere Bein über sich, daß ihr
seidenes
Tanzröckchen nur so raschelte und ein jeder sowohl ihre
Waden wie ihren Mechanismus bewundern konnte.
Der
Nußknacker geriet außer
sich, denn er besaß an Stelle von Beinen, mit denen er hätte schlenkern
können,
nur einen gespaltenen Stumpf, der seinen Kinnladen die Knackekraft
verlieh.
Dieses
Umstandes aber bediente er sich aufs heftigste und schrie: ”Mein
Herr ist ein
Dichter mit Tantiemen, Sie leichtfertige Ratte, Sie! Wenn Sie nur eine
Spur von
Ehrfurcht in Ihrer flitterhaften Psyche hätten, würden Sie von einem
Manne, der
selbst von seinen durchgefallenen Stücken leben könnte, während Ihrem
Herrn
nicht einmal seine erfolgreichen etwas Ordentliches einbringen, mit
Respekt reden.
Aber natürlich, wer nichts als Grazie besitzt, wie könnte der für
ernsthafte
Werte Sinn haben?!“
Die
Balleteuse wollte
sogleich replizieren, aber in diesem Augenblicke erwachte der Herr des
Nußknackers für ein paar Sekunden und sprach: ”Machen Sie keinen
Unsinn,
Mann — fünfzehn Prozent, oder ich schließe mit
Ihrem Konkurrenten ab!“
Jetzt
aber fuhr die
Balleteuse los, indem sie vor Erregung Chahüt machte: ”Mein Graf hat
das
Dichten überhaupt nicht nötig. Mein Graf . . .“
”I,
du verflixte Mamsell!“ rief der dazwischen, der sich gar nicht zu
wundern schien, daß das Christbaumvolk sich so
unwahrscheinlich gebärdete, ”willst du wohl aufhören, auf meiner
Grafenkrone
herumzureiten? Überhaupt sind das recht unpassende Gespräche. Redet
doch lieber
ein bißchen von der Menschenliebe heute. Dafür ist dieser Tag
reserviert.“
Kaum,
daß er diese Worte
gesprochen hatte, erhob sich aus der dunkelsten Partie des Christbaumes
ein
unendlich zartes und mitleiderregendes Gewinsel, wie von einem ganz,
ganz
kleinen jungen Hunde, und gleichzeitig kleckerten winzige
Wachströpfchen durch
die Zweige auf das Tischtuch herab. Der Graf erhob sich, um zu sehen,
was denn
los sei, und entdeckte, daß das Gewinsel von einem schwarzen
Chenillepudel
herrührte, der seinem wehvollen Herzen aber nicht nur phonetisch
Ausdruck
verlieh, sondern auch dadurch, daß er Wachs weinte. Denn seine treuen
Hundeaugen waren aus gelben Wachskugeln hergestellt.
Der
Graf begriff sofort,
daß das eine verhängnisvolle Art zu weinen sei, und er
bemerkte daher: ”Es ist
zwar anerkennenswert und verdient Lob, wenn ein Pudel aus Chenille
Gemüt zeigt und es seinem Schöpfer, dem
Menschen, nachzutun trachtet, indem er Tränen vergießt; wenn aber dabei
das
einzige an ihm, das nicht Chenille ist, sich auflöst und kaput geht, so
muß
doch gesagt werden, daß das eine unökonomische Manier ist, Trauer an
den Tag zu
legen. Wenn unsere Augen dabei kaput gingen, Freund Pudel, würden wir
Menschen
gewiß keine Tränen vergießen. Wir leisten uns diese effektvolle
Ausscheidung
nur, weil sie uns nichts kostet.“
Aber
der Chenillene hörte
nicht auf, Wachs zu weinen; doch zu winseln hörte er auf. Denn er
sprach (wie
Weinende zu sprechen pflegen, unter häufigem schluchzenden Aufstoßen):
”Und wenn meine Augen mir
auch ganz davon rinnen und fürderhin in meinem Antlitze nichts Gelbes
mehr
abstechen soll gegen das glänzende Schwarz meiner Chenille: Ich werde
doch
nicht aufhören, Tränen zu vergießen über das tragische
Geschick, daß ich mich meines Schöpfers nicht als eines vollkommenen
Wesens erfreuen soll. Das hat mir, der ich kein wirkliches
Knochengerüst
besitze, bisher eine Art ideellen Rückgrates gegeben, daß ich des
festen
Glaubens lebte, meine Götter, diese machtvollen Wesen, die selbst
Chenillepudel
zu erschaffen vermögen, seien reine, fleckenlose Lichtgestalten, lebend
und
webend in einem ewigen Glanze von allgütiger Liebe, und nun muß ich es
erfahren, daß sie für diese höchste Tugend nur einen Tag unter
dreihundertfünfundsechzig reserviert haben, und auch den
augenscheinlich nicht
immer ganz in diesem Sinne hinbringen. Wenn ich nicht schon aufgehangen
wäre,
würde ich mich jetzt aufhängen. Denn ein Idealist, der selbst seine
Götter als mangelhaft
erkannt hat, kann sich begraben lassen.
Bei
diesen Worten rann das
letzte bißchen Wachs aus seinen Augenhöhlen, und er war so
ausschließlich nur
noch Chenille, daß Graf Beisersheim mit Recht bemerken durfte: ”Jetzt,
mein pudelnärrischer Ideologe, bist du nur noch als Tintenwischer zu
gebrauchen,
und nichts mehr an dir wird deinen Herrn, den vielgebietenden
Theaterdirektor,
daran gemahnen, daß es Ideale auf der Welt gibt. Schade. Gerade er
hätte einen
Idealisten in seiner Umgebung so nötig gehabt.“
Mit
diesen Worten begab er
sich zu seinem Stuhl zurück und verschwand wie ein Häufchen Pergament
in dem
gepolsterten Leder.
Nur
seinen Kopf, der in
dieser schummerigen Beleuchtung ganz wie ein verwelktes Haupt
Blumenkohl
aussah, hob er etwas in die Höhe, als jetzt vom Wipfel des Christbaumes
eine
dünne Blechtrompetenfanfare erklang — so dünn und
jämmerlich, daß daneben das Winseln des Pudels vorhin ein walkürisches
Hojotohoh hätte genannt werden können.
Es
war der ferkelrosig
geschminkte Weihnachtsengel, der also musizierte und dabei seine beiden
mit
Rauschgold überzogenen Papierflüglein erzappeln ließ. Wie er sein
trübseliges
Blechgeschmetter beendet hatte, sang er mit einer stark belegten und
ganz
schadhaft gewordenen Phonographenstimme billigster
Nummer: ”Friede auf
Erden! Friede auf Erden! Friede auf
Erden!“
Aber
nicht einmal der
Chenillepudel applaudierte. Es herrschte vielmehr ein höchst
beklommenes
Schweigen, das erst nach einer Weile der Graf mit der tiefsinnigen
Bemerkung
unterbrach: ”Das kommt davon, wenn ein Engel durchs Zimmer geht
oder die Trompete bläst. Wir sind keine Engel mehr gewöhnt.“