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Literatur


04.3


Geschichten
Otto Julius Bierbaum

Die Mondmarie


Die Mondmarie - 2

Ich blicke nur fragend auf meine Kleider.
 
Und nun erzählt er mir: Früh um drei Uhr habe ich ihn herausgeklingelt, er hat das Thor geöffnet, und ich bin ihm wortlos an die Brust gesunken. Dann hat er mich in mein Zimmer getragen. Weiter wußte er nichts zu melden, las meine Kleider auf und ging.
 
Noch immer hatte ich keine Ahnung. Ich machte die Augen zu und fragte höflich, aber dringend in mich hinein: „Bitte: was ist geschehen! Nu, wirds bald!?! Was war los! Gestern! G.e.s.t.e.r.n!“ Keine Antwort. Ich mache die Augen wieder auf. Halloh! Da liegt meine Brieftasche. Wie in einer Eingebung greife ich darnach, mache sie auf, blättere sie um, nach dem Geldfache zu, – da: Zeus Kronion mit tausend Blitzen, schreckende Helle einen Augenblick, und ich sehe folgendes Bild: ein offenes Fenster, ich in einem Lehnsessel, vor mir ein junges Weib im Unterrock - das Hemd ist ihr über die rechte Brust heruntergefallen, und ich sehe auf dieser Brust in einem grausilbernen Zwielichte ein kleines, braunes Muttermal in der Form eines schmalen Halbmondes, und im selben Momente rufe ich aus: Mondmarie!. . . Mausehaken!. . . Aber pardautz war es auch vorbei mit aller Helligkeit. Dunkelste Dunkelnacht. Nur, wie im Dämmer, das Gesicht eines kleinen Mädchens. Es verschwindet, ich sehe nach. . . Weit zurück, weit, weit ja, du lieber Gott: da bin ich ja in meinem Institute. . . Mondmarie!. . . Mausehaken. . . ! ? Ah, ah, ah so! So! So! Ist das denn möglich? Ist das denn ? Aber freilich! freilich!“
 
Der Major: „Entschuldigen Sie! Es ist unmöglich zu verstehen, wo das hinauswill! Was heißt das: Mondmarie! Mausehaken!“
 
„Lassen Sie mich nur! Lassen Sie mich! Ich muß erzählen, wie ich es damals empfand und sah, aus Nebeln heraus und dann heller, und dann klar. Also das kleine Mädchen. . . Richtig! Richtig! Die Marie vom alten Doktor Rannert! Freilich! Freilich! Und so war die Geschichte gewesen: Wir hatten, der dicke Hofmann, Kapellmeister Mehlers, Otto und ich, eine Woche Ferienabzug bekommen im Institute, irgend welcher Dummheiten wegen. Wir waren damals etwa 10 Jahre alt. Es war im Juli und sehr heiß. Da waren wir, weil es wenig Aussicht gab, herunter gekrochen in den Baderaum, hatten das große Bassin voll Wasser gelassen, und nun die Sachen aus und hupp hinein. Das Bassin, für warme Winterbäder berechnet, lag im Souterrain. Das Licht kam durch Milchglasfenster. Daß die im Sommer auf waren, hatten wir gar nicht bemerkt. Und nun unser Schreck, wie wir so herumplätschern und auf einmal ruft jemand durchs Fenster herunter. He, ihr, was macht ihr denn da? –
 
Der dicke Hofmann tauchte vor Schreck gleich unter, Mehlers Otto und ich aber ließen wenigstens die Köpfe noch an der Luft und starrten in tausend Ängsten nach oben. Ach, da stand ja Doktor Rannerts Marie oben!? „Fort!“ rief ich. „Fort! Daß 's niemand merkt! Wir dürfen ja nicht!“ Sie aber (sie sprach richtiges Dresdnerisch): „Derf ich e bisl 'runter gomm zu eich??“
 
„Duuuu?“ sagte der emporgetauchte dicke Hofmann. „E  Määdchen?!“
 
Und sie: „Neja, warum denn nich? Ich gomme!“ Und richtig, da war sie auch schon.
 
Wir saßen zusammengekauert alle drei auf dem Boden des Bassins und kicherten sie an. Sie machte aber ein ganz ernsthaftes Gesicht und sah uns der Reihe nach an mit einem wunderlichen, oder soll ich sagen; wißbegierigen, besser noch: wißgelüstigen Blicke. Dann sagte sie plötzlich: „Darf 'ch mich auch ausziehn?“
 
„Neja, wenn du willst“, kicherte der kühne Otto. Darauf sie: „Abers Fenster mißt'r zumachen.“
 
Sofort kletterte ich hinauf und schob das Klappfenster in die Höhe. Wie ich wieder herunter kam, sah ich, daß sie keinen Blick von meinen Bewegungen ließ. Ich schämte mich augenblicklich und platschte ins Wasser.
 
„Bist Du aber dumm!“ sagte Marie.
 
Und nun zog sie sich langsam aus.
 
Wir wunderten uns, daß sie sich gar nicht schämte und wagten fast nicht, sie anzusehn. Je mehr sie ihre Kleider von sich legte, um so unbehaglicher wurde speziell mir. Dagegen war der dicke Hofmann mit einemmale sehr kouragirt worden, und während die beiden andern beklemmt abwärts sahen, rief er aus: „Jetzt is se fiserfasernackch“, und wie wir aufblickten – wahrhaftig, da kam Kaunerts Marie ganz nackt, auf uns zu bis an den Rand des Bassins.
 
„Nu gomme ich rein, ja?“
 
»Komm' nur«, sagte der dicke Hofmann und stand aus dem Wasser auf und ging ihr entgegen. Herrgott wie funkelten da ihre Augen!
 
Und wie sie einen Fuß hob, ins Bassin hineinzusteigen, und sich überbeugte, da war der dicke Hofmann bei ihr und nahm sie bei der Hand. Es sah ganz feierlich aus.
 
Plötzlich lachte er, tippte ihr auf die linke Brust und sagte: „Guck e'mal, was se da für'n Mond hat!“
 
Sie lächelte fast wie wenn ihr das gefiele und sagte: „Das is e Muttermal. Das hat meine Mutter gerade dort auch.“
 
Wir aber, mutig geworden, umringten sie und betrachteten das „Wundermal“, wie wir verstanden hatten, und Mehners Otto war es, der das Wort wählte: De Mondmarie.
 
Dann tummelten wir uns samtviert im Wasser und waren sehr vergnügt. Die Mondmarie war ausgelassen wie ein junger Spatz und wünschte nur immer und immer wieder, wir sollten sie „schubbsen“ oder tragen. Dann wurde sie mit einemmale still, schämte sich, zog sich eilends an und ging unter unzähligen Bitten, ja niemand was zu sagen.
 
Es hat sie auch niemand von uns verraten, nur heimlich und geheimnisvoll unter uns nannten wir sie Mondmarie.
 
Im Institute aber kam ein anderer Name für sie auf.
 
Es war ein paar Jahre später, daß häufig Schüler bestohlen wurden. Nur Kleinigkeiten, Näschereien oder kleine Schmuckstücke und dergleichen. Und bei Doktor Rannerts Marie waren durch ein Dienstmädchen die Sachen gefunden worden. Wie sie es gemacht hatte, blieb unentdeckt, denn sie gestand nichts. Aber sie erhielt den sächsischen Spitznamen „Mausehaken“ dafür.
 
Ihr Vater that sie fort. Erst als sie 16 Jahre alt geworden war, kam sie wieder, wurde aber selten gesehen, denn sie war fast immer in einem Kindergarten als Aufseherin beschäftigt.
 
Sie war ein hübsches Mädchen geworden, von geschmeidiger Figur; ihr Gesicht war durchsichtig blaß, und ganz sonderbar: Die Sommersprossen darauf gaben ihr einen besonderen Reiz.
 
Wir drei von „damals“ waren allesamt in sie verliebt, aber sie hat uns gar nicht beachtet, obwohl sie sich eines jeden von uns genau erinnerte. Das konnten wir, so dumm unsere 16 Jahre auch waren, doch aus ihren Blicken sehen. Das waren schnelle Gleiteblicke, in denen etwas Listiges steckte.
 
Der dicke Hofmann war besonders verliebt und zwar, wie ich mir jetzt sage, seine Verliebtheit hatte schon einen Stich über das hinaus, was man den Sechzehnjährigen als Schülerliebe hingehen läßt. Er malte verdächtig oft kleine Halbmonde. In allen Grammatiken und im Cornelius Nepos, Cäsar und Xenophon waren diese Monde zu sehen. Sogar an die Wandtafel hat er in der Zerstreuung einmal einen Mond gemalt, aber gleich wieder verwischt.
 
Da geschah etwas, das das ganze Institut, wenigstens die Oberklassen, in Aufregung brachte: Doktor Rannerts Marie, der „Mausehaken“ war „durch“, mit einem neunzehnjährigen Schüler der ersten Klasse, einem Serben Namens Wiokovitsch durch. Und dem armen Alten, den wir den „Rumpelkäfer“ nannten (ich weiß wirklich nicht warum), hatte sie richtig ein paar 100 M. mitgenommen. Er starb bald darauf aus Gram über sein Kind.
 
Von dem hat Niemand mehr was gehört.“
 
„Und sie glauben also, daß diese ›Mondmarie‹. . .“
 
„Ich weiß nur, was ich Ihnen erzählte. Dieses plötzliche Aufflammen jenes Bildes, als ich meine leere Brieftasche sah, jener Ausruf von mir, der mir ganz unbewußt auf die Lippen kam. . . wie war das Alles zu erklären, wenn nicht alles Reflexbild eines wirklichen Geschehnisses, von dem mir die Betrunkenheit im übrigen alle Erinnerung genommen hatte?
 
Die Mondmarie hatte mir übrigens gerade noch Geld genug für eine Regalia favorita im Beutel gelassen, und dieser Hochherzigkeit zu Ehren habe ich dann die Zigarre auf ihren Namen getauft. . .“
 
„Die Zigarre ist gut“, sagte der Doktor.

„Das Mädel weniger“, meinte der Major.

Der Amtsrichter aber sprach: „Ja, wenn die Mädeln ›Wißgelüstig‹ sind. . .“

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