Die
Mondmarie - 2
Ich
blicke nur fragend auf meine Kleider.
Und
nun erzählt er mir: Früh um drei Uhr habe ich
ihn herausgeklingelt, er hat das Thor geöffnet, und ich bin ihm wortlos
an die
Brust gesunken. Dann hat er mich in mein Zimmer getragen. Weiter wußte
er
nichts zu melden, las meine Kleider auf und ging.
Noch
immer hatte ich keine Ahnung. Ich machte die
Augen zu und fragte höflich, aber dringend in mich hinein: „Bitte: was
ist
geschehen! Nu, wirds bald!?! Was war los! Gestern! G.e.s.t.e.r.n!“
Keine
Antwort. Ich mache die Augen wieder auf. Halloh! Da liegt meine
Brieftasche.
Wie in einer Eingebung greife ich darnach, mache sie auf, blättere sie
um, nach
dem Geldfache zu, – da: Zeus Kronion mit tausend Blitzen, schreckende
Helle
einen Augenblick, und ich sehe folgendes Bild: ein offenes Fenster, ich
in
einem Lehnsessel, vor mir ein junges Weib im Unterrock - das Hemd ist
ihr über
die rechte Brust heruntergefallen, und ich sehe auf dieser Brust in
einem
grausilbernen Zwielichte ein kleines, braunes Muttermal in der Form
eines
schmalen Halbmondes, und im selben Momente rufe ich aus: Mondmarie!. .
.
Mausehaken!. . . Aber pardautz war es auch vorbei mit aller Helligkeit.
Dunkelste Dunkelnacht. Nur, wie im Dämmer, das Gesicht eines kleinen
Mädchens.
Es verschwindet, ich sehe nach. . . Weit zurück, weit, weit ja, du
lieber Gott:
da bin ich ja in meinem Institute. . . Mondmarie!. . . Mausehaken. .
. ! ?
Ah, ah, ah so! So! So! Ist das denn möglich? Ist das denn ? Aber
freilich!
freilich!“
Der
Major: „Entschuldigen Sie! Es ist unmöglich zu
verstehen, wo das hinauswill! Was heißt das: Mondmarie! Mausehaken!“
„Lassen
Sie mich nur! Lassen Sie mich! Ich muß
erzählen, wie ich es damals empfand und sah, aus Nebeln heraus und dann
heller,
und dann klar. Also das kleine Mädchen. . . Richtig! Richtig! Die Marie
vom
alten Doktor Rannert! Freilich! Freilich! Und so war die Geschichte
gewesen:
Wir hatten, der dicke Hofmann, Kapellmeister Mehlers, Otto und ich,
eine Woche
Ferienabzug bekommen im Institute, irgend welcher Dummheiten wegen. Wir
waren
damals etwa 10 Jahre alt. Es war im Juli und sehr heiß. Da waren wir,
weil es
wenig Aussicht gab, herunter gekrochen in den Baderaum, hatten das
große Bassin
voll Wasser gelassen, und nun die Sachen aus und hupp hinein. Das
Bassin, für
warme Winterbäder berechnet, lag im Souterrain. Das Licht kam durch
Milchglasfenster. Daß die im Sommer auf waren, hatten wir gar nicht
bemerkt.
Und nun unser Schreck, wie wir so herumplätschern und auf einmal ruft
jemand
durchs Fenster herunter. He, ihr, was macht ihr denn da? –
Der
dicke Hofmann tauchte vor Schreck gleich unter,
Mehlers Otto und ich aber ließen wenigstens die Köpfe noch an der Luft
und
starrten in tausend Ängsten nach oben. Ach, da stand ja Doktor Rannerts
Marie
oben!? „Fort!“ rief ich. „Fort! Daß 's niemand merkt!
Wir dürfen ja
nicht!“ Sie aber (sie sprach richtiges Dresdnerisch): „Derf ich e bisl
'runter
gomm zu eich??“
„Duuuu?“
sagte der emporgetauchte dicke Hofmann.
„E Määdchen?!“
Und
sie: „Neja, warum denn nich? Ich gomme!“ Und
richtig, da war sie auch schon.
Wir
saßen zusammengekauert alle drei auf dem Boden
des Bassins und kicherten sie an. Sie machte aber ein ganz ernsthaftes
Gesicht
und sah uns der Reihe nach an mit einem wunderlichen, oder soll ich
sagen;
wißbegierigen, besser noch: wißgelüstigen Blicke. Dann sagte sie
plötzlich:
„Darf 'ch mich auch ausziehn?“
„Neja,
wenn du willst“, kicherte der kühne Otto.
Darauf sie: „Abers Fenster mißt'r zumachen.“
Sofort
kletterte ich hinauf und schob das
Klappfenster in die Höhe. Wie ich wieder herunter kam, sah ich, daß sie
keinen
Blick von meinen Bewegungen ließ. Ich schämte mich augenblicklich und
platschte
ins Wasser.
„Bist
Du aber dumm!“ sagte Marie.
Und
nun zog sie sich langsam aus.
Wir
wunderten uns, daß sie sich gar nicht schämte
und wagten fast nicht, sie anzusehn. Je mehr sie ihre Kleider von sich
legte,
um so unbehaglicher wurde speziell mir. Dagegen war der dicke Hofmann
mit
einemmale sehr kouragirt worden, und während die beiden andern beklemmt
abwärts
sahen, rief er aus: „Jetzt is se fiserfasernackch“, und wie wir
aufblickten –
wahrhaftig, da kam Kaunerts Marie ganz nackt, auf uns zu bis an den
Rand des
Bassins.
„Nu
gomme ich rein, ja?“
»Komm'
nur«, sagte der dicke Hofmann und stand aus
dem Wasser auf und ging ihr entgegen. Herrgott wie funkelten da ihre
Augen!
Und
wie sie einen Fuß hob, ins Bassin
hineinzusteigen, und sich überbeugte, da war der dicke Hofmann bei ihr
und nahm
sie bei der Hand. Es sah ganz feierlich aus.
Plötzlich
lachte er, tippte ihr auf die linke Brust
und sagte: „Guck e'mal, was se da für'n Mond hat!“
Sie
lächelte fast wie wenn ihr das gefiele und
sagte: „Das is e Muttermal. Das hat meine Mutter gerade dort auch.“
Wir
aber, mutig geworden, umringten sie und
betrachteten das „Wundermal“, wie wir verstanden hatten, und Mehners
Otto war
es, der das Wort wählte: De Mondmarie.
Dann
tummelten wir uns samtviert im Wasser und
waren sehr vergnügt. Die Mondmarie war ausgelassen wie ein junger Spatz
und
wünschte nur immer und immer wieder, wir sollten sie „schubbsen“ oder
tragen.
Dann wurde sie mit einemmale still, schämte sich, zog sich eilends an
und ging
unter unzähligen Bitten, ja niemand was zu sagen.
Es
hat sie auch niemand von uns verraten, nur
heimlich und geheimnisvoll unter uns nannten wir sie Mondmarie.
Im
Institute aber kam ein anderer Name für sie auf.
Es
war ein paar Jahre später, daß häufig Schüler
bestohlen wurden. Nur Kleinigkeiten, Näschereien oder kleine
Schmuckstücke und
dergleichen. Und bei Doktor Rannerts Marie waren durch ein
Dienstmädchen die
Sachen gefunden worden. Wie sie es gemacht hatte, blieb unentdeckt,
denn sie
gestand nichts. Aber sie erhielt den sächsischen Spitznamen
„Mausehaken“ dafür.
Ihr
Vater that sie fort. Erst als sie 16 Jahre alt
geworden war, kam sie wieder, wurde aber selten gesehen, denn sie war
fast
immer in einem Kindergarten als Aufseherin beschäftigt.
Sie
war ein hübsches Mädchen geworden, von
geschmeidiger Figur; ihr Gesicht war durchsichtig blaß, und ganz
sonderbar: Die
Sommersprossen darauf gaben ihr einen besonderen Reiz.
Wir
drei von „damals“ waren allesamt in sie verliebt,
aber sie hat uns gar nicht beachtet, obwohl sie sich eines jeden von
uns genau
erinnerte. Das konnten wir, so dumm unsere 16 Jahre auch waren, doch
aus ihren
Blicken sehen. Das waren schnelle Gleiteblicke, in denen etwas Listiges
steckte.
Der
dicke Hofmann war besonders verliebt und zwar,
wie ich mir jetzt sage, seine Verliebtheit hatte schon einen Stich über
das
hinaus, was man den Sechzehnjährigen als Schülerliebe hingehen läßt. Er
malte
verdächtig oft kleine Halbmonde. In allen Grammatiken und im Cornelius
Nepos,
Cäsar und Xenophon waren diese Monde zu sehen. Sogar an die Wandtafel
hat er in
der Zerstreuung einmal einen Mond gemalt, aber gleich wieder verwischt.
Da
geschah etwas, das das ganze Institut,
wenigstens die Oberklassen, in Aufregung brachte: Doktor Rannerts
Marie, der
„Mausehaken“ war „durch“, mit einem neunzehnjährigen Schüler der ersten
Klasse,
einem Serben Namens Wiokovitsch durch. Und dem armen Alten, den wir den
„Rumpelkäfer“ nannten (ich weiß wirklich nicht warum), hatte sie
richtig ein
paar 100 M. mitgenommen. Er starb bald darauf aus Gram über sein
Kind.
Von
dem hat Niemand mehr was gehört.“
„Und
sie glauben also, daß diese ›Mondmarie‹. . .“
„Ich
weiß nur, was ich Ihnen erzählte. Dieses
plötzliche Aufflammen jenes Bildes, als ich meine leere Brieftasche
sah, jener
Ausruf von mir, der mir ganz unbewußt auf die Lippen kam. . . wie war
das Alles
zu erklären, wenn nicht alles Reflexbild eines wirklichen
Geschehnisses, von
dem mir die Betrunkenheit im übrigen alle Erinnerung genommen hatte?
Die
Mondmarie hatte mir übrigens gerade noch Geld
genug für eine Regalia favorita im Beutel gelassen, und
dieser
Hochherzigkeit zu Ehren habe ich dann die Zigarre auf ihren Namen
getauft. . .“
„Die
Zigarre ist gut“, sagte der Doktor.
„Das
Mädel weniger“, meinte der Major.
Der
Amtsrichter aber sprach: „Ja, wenn die Mädeln
›Wißgelüstig‹ sind. . .“