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Literatur


04.3


Geschichten

Ann Croissant-Rust
Der Tod






Der Alte


Neben dem hohen, grauen Dom steht ein kleines Haus; das Dach neigt sich halb zur Erde, alle Fenster sind voll von Blüten; Efeu und Geißblatt haben die schiefen Mauern überrankt und sind hoch hinaufgeklettert, daß es aussieht, als wüchsen sie aus den Rissen des Häuschens heraus. Es gleicht mit dem großen, bunten Garten ringsum einer
blühenden Wildnis. Wenn gegen Mittag die Sonne glüht, wenn die Schatten des Domes weichen, so geht's wie ein Zauber von den Beeten voll altmodischer Blumen aus. Da sprühen die langen Reihen brennender Liebe, und glänzen die vielfarbigen Rittersporne und Nelken und Feuerlilien und Verbenen. Eine lachende, freudige Pracht erwacht in dem alten Gärtchen, und eine süße Farbenherrlichkeit scheint aus allen Ritzen des halbverfallenen Häuschens zu quellen. Mitten drin sitzt ein alter Mann und schaut fröhlich wie ein Kind über den bunten Garten.
 
Das ist wie das Leben, diese köstliche Buntheit; kaum zu entwirren in ihrer Vielgestalt, in ihrem Ineinanderfließen von Formen und Farben und doch erkennbar in jeder einzelnen Blüte, in jeder einzelnen Form. Stachelsträucher und wilde Disteln stehen dazwischen – wie im Leben – wer sieht sie denn? Wem tun sie weh in all der Schönheit und Sommerpracht? Wie sein Leben, ja, so ist sein Garten. Alles Herbe, Stachlige, Wehe hat er längst vergessen, es war einmal, ja, aber es ist verschwunden unter den Blumen, er weiß nichts mehr davon.

Von seiner Jugend blieb ihm nur ein heller Schein und eine starke Fröhlichkeit zurück, wie sie in ihm ersteht, wenn seine Krokusse und Tulpen und Hyazinthen die Köpfe aus der schwarzen Furche der Frühjahrserde recken; sein Mannesalter war voll Sonne, reich an Arbeit und Erleben wie diese schöne, wirre Wildnis, wie seine Sommerbeete war es – da sitzt er nun als Greis, und alles verwebt sich ihm zu einer kindlichen Heiterkeit, sein Leben, das Blühen ringsum, die Sonne, die Vögel, die Menschen, die kommen.

Alle kennen sie ihn ja, und alle kennt er sie in der Stadt, die hinter den hohen Mauern seines Gartens liegt, und alle haben sie ihn gern, die Jungen und die Alten. Fort zu ihnen kann er freilich schon lange nicht mehr, dafür kommen sie zu ihm seit vielen, vielen Jahren. Wer ansässig ist, und wer zuzieht, nur zu Besuch da ist, alles drückt seine Gartenklinke nieder. Generation um Generation ist durch die kleine Pforte aus- und eingegangen, er fragt nicht, wenn einer fehlt, es sind so viele andre da, er fragt nicht, wenn ein Neuer dazukommt, er freut sich nur. Sie freuen sich auch, jeder bringt ein Lächeln, ein heiteres Wort, ein Stück Glück mit für den fröhlichen Alten im weißen Haar, und nimmt für sich ein warmes, sonniges Gefühl heim von ihm, der ihre Namen gar nicht weiß, kaum ihre Gesichter kennt, und sie doch so sehr liebt. Mit den zwitschernden Schwalben um die Wette schießen die Kinder durch die Gartenwege, junge Frauen, die Arme voll mächtiger Blumensträuße, küssen ihn lächelnd beim Gehen, die Alten klopfen ihm liebevoll den Rücken, und ihre faltigen, ernsthaften Gesichter nehmen einen Abglanz seiner Fröhlichkeit mit nach Hause.

Stets sind Tritte von vielen kleinen Füßen um ihn, gute, feste, bedächtige Schritte hört er auf den Kieswegen, und um seinen Stuhl, Frauenhände streicheln sein Haar, nur Lachen und Glück umgibt ihn bis zum Abend, wo die Männer ihm mit festem Händedruck Lebewohl sagen und ein Scherzwort zurufen. Wie ein ununterbrochenes Fest ist das, doch ein Fest für ihn, dem er mit stillem Lächeln zusieht. Er weiß es nicht mehr, daß ihm Frau und Söhne und Töchter und Enkelkinder gestorben sind, er hat so viele Söhne, so viele Töchter, so viele Enkelkinder, die um ihn sind und ihm diese Welle heitern Glückes bringen, auf der er ruht, halb eingelullt, ohne Gedanken an Zeit, an Zukunft und Vergangenheit.

Manchmal möchte der alte, alte Mann auch zu ihnen kommen; es dämmert in ihm auf von einer Welt jenseits der hohen Mauer, einer Welt, die nicht zu ihm kommt. Gerade unter der Mittagszeit, wenn der Garten still liegt und nur erfüllt ist von dem spitzen Schrei der hin und her schießenden Schwalben, wenn die vollen Lebenstöne verklungen sind, die ihn so glückselig wirr machen, wenn sie sich in eine dunkle Ecke des Gartens geflüchtet haben, um erst allmählich wieder aufzuwachen und um ihn zu branden, wenn er den Schlag der Uhr hört vom Dom. –

Dann möchte er aufstehen, im Garten herumgehen, da und dort ganz nah hinsehen, nicht nur an allem vorbeigefahren werden, möchte mit seinem Stock die Türe aufstoßen und neugierig wie ein Kind schauen, wie's da draußen aussieht. Ja, wenn ihm einer hülfe! Aber wenn er das will, ist keiner da, läßt sich keiner blicken, und wenn er auch noch so hart mit dem Stock auf den Boden stößt. Wenn sie dann endlich kommen, wollen sie gar nichts davon wissen. »Nein, nein, es ist nicht schön draußen,« sagen sie alle, »gar nicht schön, bei dir aber ist das Paradies.«

Er lächelt pfiffig. Das sagen sie so, weil sie ihn nicht draußen haben wollen. Er ist zu alt!

Heute will er's ihnen aber zeigen. Und er stützt sich auf seinen Stock und will sich hoch aufrichten im Stuhl, da hört er Tritte, Tritte eines Fremden im Garten, er kennt ja sonst jeden Schritt, und sie kommen so schnell, so sicher näher die Schritte, ganz anders sind sie wie das bedächtige, fast ruhende Schreiten der andern, wenn sie bei ihm sind, und nun steht er auch schon neben ihm, der Fremde, und wie wenn er es erraten hätte, bietet er ihm den Arm und hilft ihm auf. Fest hängt sich der Alte daran, das geht ja wie spielend, er muß vor sich hin lachen! Listig sieht er zu dem hochgewachsenen, hagern Fremden hinauf und kichert: Der legt bloß den Finger auf den Mund und warnt ihn – und er nickt selig über seinen Streich.

So stapfen sie sachte, wortlos durch den Garten, der Fremde stößt die Pforte auf und führt ihn leicht, o so leicht hinweg – dahin, wo ihn die Sehnsucht lockt, wo's ihn viel schöner dünkt als in dem alten Garten, der nun verlassen steht für immer in seiner krausen Blumenpracht.




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