Neben
dem hohen, grauen Dom steht ein kleines Haus;
das Dach neigt sich halb zur Erde, alle Fenster sind voll von Blüten;
Efeu und
Geißblatt haben die schiefen Mauern überrankt und sind hoch
hinaufgeklettert,
daß es aussieht, als wüchsen sie aus den Rissen des Häuschens heraus.
Es
gleicht mit dem großen, bunten Garten ringsum einer
blühenden
Wildnis. Wenn gegen Mittag die Sonne glüht, wenn die Schatten des Domes
weichen, so
geht's wie ein Zauber von den Beeten voll altmodischer Blumen aus. Da
sprühen
die langen Reihen brennender Liebe, und glänzen die vielfarbigen
Rittersporne
und Nelken und Feuerlilien und Verbenen. Eine lachende, freudige Pracht
erwacht
in dem alten Gärtchen, und eine süße Farbenherrlichkeit scheint aus
allen
Ritzen des halbverfallenen Häuschens zu quellen. Mitten drin sitzt ein
alter
Mann und schaut fröhlich wie ein Kind über den bunten Garten.
Das ist wie das
Leben, diese köstliche Buntheit; kaum
zu entwirren in ihrer Vielgestalt, in ihrem Ineinanderfließen von
Formen und
Farben und doch erkennbar in jeder einzelnen Blüte, in jeder einzelnen
Form. Stachelsträucher und wilde Disteln stehen dazwischen – wie im
Leben – wer sieht
sie denn? Wem tun sie weh in all der Schönheit und Sommerpracht? Wie
sein
Leben, ja, so ist sein Garten. Alles Herbe, Stachlige, Wehe hat er
längst
vergessen, es war einmal, ja, aber es ist verschwunden unter den
Blumen, er
weiß nichts mehr davon.
Von seiner Jugend
blieb ihm nur ein heller Schein und
eine starke Fröhlichkeit zurück, wie sie in ihm ersteht, wenn seine
Krokusse
und Tulpen und Hyazinthen die Köpfe aus der schwarzen Furche der
Frühjahrserde
recken; sein Mannesalter war voll Sonne, reich an Arbeit und Erleben
wie diese
schöne, wirre Wildnis, wie seine Sommerbeete war es – da sitzt er nun
als
Greis, und alles verwebt sich ihm zu einer kindlichen Heiterkeit, sein
Leben,
das Blühen ringsum, die Sonne, die Vögel, die Menschen, die kommen.
Alle kennen sie ihn
ja, und alle kennt er sie in der
Stadt, die hinter den hohen Mauern seines Gartens liegt, und alle haben
sie ihn
gern, die Jungen und die Alten. Fort zu ihnen kann er freilich schon
lange
nicht mehr, dafür kommen sie zu ihm seit vielen, vielen Jahren. Wer
ansässig
ist, und wer zuzieht, nur zu Besuch da ist, alles drückt seine
Gartenklinke
nieder. Generation um Generation ist durch die kleine Pforte aus- und
eingegangen, er fragt nicht, wenn einer fehlt, es sind so viele andre
da, er
fragt nicht, wenn ein Neuer dazukommt, er freut sich nur. Sie freuen
sich auch,
jeder bringt ein Lächeln, ein heiteres Wort, ein Stück Glück mit für
den
fröhlichen Alten im weißen Haar, und nimmt für sich ein warmes,
sonniges Gefühl
heim von ihm, der ihre Namen gar nicht weiß, kaum ihre Gesichter kennt,
und sie
doch so sehr liebt. Mit den zwitschernden Schwalben um die Wette
schießen die
Kinder durch die Gartenwege, junge Frauen, die Arme voll mächtiger
Blumensträuße, küssen ihn lächelnd beim Gehen, die Alten klopfen
ihm
liebevoll den Rücken, und ihre faltigen, ernsthaften Gesichter nehmen
einen
Abglanz seiner Fröhlichkeit mit nach Hause.
Stets sind Tritte
von vielen kleinen Füßen um ihn,
gute, feste, bedächtige Schritte hört er auf den Kieswegen, und um
seinen
Stuhl, Frauenhände streicheln sein Haar, nur Lachen und Glück umgibt
ihn bis
zum Abend, wo die Männer ihm mit festem Händedruck Lebewohl sagen und
ein
Scherzwort zurufen. Wie ein ununterbrochenes Fest ist das, doch ein
Fest für
ihn, dem er mit stillem Lächeln zusieht. Er weiß es nicht mehr, daß ihm
Frau
und Söhne und Töchter und Enkelkinder gestorben sind, er hat so viele
Söhne, so
viele Töchter, so viele Enkelkinder, die um ihn sind und ihm diese
Welle
heitern Glückes bringen, auf der er ruht, halb eingelullt, ohne
Gedanken an
Zeit, an Zukunft und Vergangenheit.
Manchmal
möchte der alte, alte Mann auch zu ihnen kommen; es dämmert in ihm auf
von
einer Welt jenseits der hohen Mauer, einer Welt, die nicht zu ihm
kommt. Gerade
unter der Mittagszeit, wenn der Garten still liegt und nur erfüllt ist
von dem
spitzen Schrei der hin und her schießenden Schwalben, wenn die vollen
Lebenstöne
verklungen sind, die ihn so glückselig wirr machen, wenn sie sich in
eine
dunkle Ecke des Gartens geflüchtet haben, um erst allmählich wieder
aufzuwachen
und um ihn zu branden, wenn er den Schlag der Uhr hört vom Dom. –
Dann
möchte er aufstehen, im Garten herumgehen, da und dort ganz nah
hinsehen, nicht
nur an allem vorbeigefahren werden, möchte mit seinem Stock die Türe
aufstoßen
und neugierig wie ein Kind schauen, wie's da draußen aussieht. Ja, wenn
ihm
einer hülfe! Aber wenn er das will, ist keiner da, läßt sich keiner
blicken,
und wenn er auch noch so hart mit dem Stock auf den Boden stößt. Wenn
sie dann
endlich kommen, wollen sie gar nichts davon wissen. »Nein, nein, es ist
nicht
schön draußen,« sagen sie alle, »gar nicht schön, bei dir aber ist das
Paradies.«
Er
lächelt pfiffig. Das sagen sie so, weil sie ihn nicht draußen haben
wollen. Er
ist zu alt!
Heute
will er's ihnen aber zeigen. Und er stützt sich auf seinen Stock und
will sich
hoch aufrichten im Stuhl, da hört er Tritte, Tritte eines Fremden im
Garten, er
kennt ja sonst jeden Schritt, und sie kommen so schnell, so sicher
näher die
Schritte, ganz anders sind sie wie das bedächtige, fast ruhende
Schreiten der
andern, wenn sie bei ihm sind, und nun steht er auch schon neben ihm,
der
Fremde, und wie wenn er es erraten hätte, bietet er ihm den Arm und
hilft ihm
auf. Fest hängt sich der Alte daran, das geht ja wie spielend, er muß
vor sich
hin lachen! Listig sieht er zu dem hochgewachsenen, hagern Fremden
hinauf und kichert: Der legt
bloß den Finger auf den Mund und warnt ihn – und er nickt selig über
seinen
Streich.
So
stapfen sie sachte, wortlos durch den Garten, der Fremde stößt die
Pforte auf
und führt ihn leicht, o so leicht hinweg – dahin, wo ihn die
Sehnsucht lockt,
wo's ihn viel schöner dünkt als in dem alten Garten, der nun verlassen
steht
für immer in seiner krausen Blumenpracht.
oben
weiter