Das Schweigen ist erstarrt in den
Gebirgen, die Wolken wuchten auf die Felsen
nieder, die Felsen halten die schwarzen Wälder geknechtet. Die Nacht
ist stumm,
die Nacht ist dunkel, ist müde und atmet schwer den Duft des ersten
Heues aus.
Wie eine Prozession düsterer Mönche ziehen die hohen Heuhaufen die
Hänge hinauf
und hinab
Dort, auf dem großen
Plan, stehen sie wieder lautlos,
kauern still, ein riesiges Feldlager, das den Feind erwartet. Flammen
Wachtfeuer auf? Tönen Signale?
Gelbroter Fackeln
warnende Zeichen? Mitsommernacht
ist's! Ferne Johannisfeuer leuchten! Wie unruhige Augen, die im Fieber
wachen,
zucken sie jäh an Gipfeln auf, glimmen am schwarzen Grat hin, glimmen
und
verlöschen lautlos.
Kein Schrei der Lust
wird laut, kein Sang erschallt,
keinen Ton trägt die Nacht. Wie erdrückt von dem schweren Schweigen
verzittern
die flammenden Scheite, erstirbt das Leben, erstirbt die Luft in diesem
engen
düstern Hochtale.
Die Wolken sinken immer
tiefer; der Regen rauscht,
rauscht die ganze Nacht. Vom Turm schlägt die Stunde hart in das matte
Geriesel.
Ich liege wach und denke
des Tages; ich liege wach in
meinem großen Zimmer in dem alten Holzhause und lausche bang in die
Nacht. Und
nun ein Stöhnen – der Wind schleicht sich um meine Fenster; der Föhn
ist
erwacht, der Föhn ruft! – Bald brüllend, in scharfen Stößen, herrisch
und
gewaltsam, bald müde und bettelnd, stößt und winselt er ums Haus. Die
Stimme des Tages, bald scharf und dringlich, bald leis und
ermattet geht
durch meine Seele, will sich jauchzend heben, sinkt aber und verklingt.
Oh,
lauter Tag, was bist du gegen diese Nacht? Ein wirrer Schall, verweht,
ein
rauschender Zug von Wandervögeln in der hellen Luft, entschwunden, eh
ich ihn
so recht geschaut; fröhlicher Kinder tanzende Schritte um den hohen
Baum vor
dem Hause, knarrender Wagen emsiges Schaffen, stampfende Pferde, die
kommen und
gehen, Scherzen und Lachen, rüstige Wanderer über Berg und Tal,
lachende Menschen,
kreisende Becher, Tücherschwenken im Wind – vorbei! vorbei! Wie
dröhnten die
Schritte in dem alten Hause, wie ächzten die Dielen! Es wird aus seinem
Traum
geweckt, erschrocken zittert es. Nun herrscht die Nacht, nun liegt es
wieder
still, und sinnt dem wirren Sinn des lauten Tages nach. Es herrscht,
was war.
Sechs junge Seelen sind
erloschen in dem großen
Zimmer, in dem ich wach liege, und den dunklen Stimmen lausche. Sieben
junge
Kinder wollten sterben. Der Winter hatte haushohe Wälle um das
altersbraune
Wirtshaus gebaut, doch drinnen sah man den Schnee nicht kommen und
nicht gehen,
sah nicht die Sonne und schauerte nicht vor dem Sturm. Sieben junge
Seelen
rangen mit dem Tode, auf sieben jungen Stirnen flammten rote Male,
sieben junge
Herzen zuckten im Fieber.
Viele Stunden weit, über Schnee und Eis, durch Sturm
und Gefahr hatten Angst und Not den Arzt geholt. Zwei Händchen
streckten sich
ihm noch entgegen, die andern lagen schwer wie Blei, oder matt, wie vom
Hagel
betäubte, vom Sturm verwirrte, zerbrochene Vögel unter der Decke, und
nur noch
die Augen fragten, Augen, die schon zagend nach dem traurigen Pfad
blickten,
der sie hinwegführen sollte. Zwei Händchen legten sich noch in seine
Hand, die
bebte in großer Qual, die andern lösten sich langsam aus seinen Fingern
und
ergaben sich endlich; weiß und still, wie fremde tote Wesen lagen sie
auf dem
Laken.
Ich höre das Läuten der
Schlittenglocken, dann das
hastige Klingeln der erregten Pferde, die die Köpfe hin- und herwerfen,
höre
das dumpfe Gemurmel im Haus, die schweren Tritte, das Zufallen der
großen
Eichentüre, das wie ein Schlag in die gespannte Stille fällt; sehe
unsichern
Lichtschein auf Treppe und Flur, bange Gesichter, die den Tritten des
Arztes
lauschen.
Zwei, drei Treppen nimmt
er auf einmal, achtlos wirft
er den Mantel, den Hut weg – – er kann nicht sprechen, als er vor den
kleinen
Betten steht, nur heisere, rauhe Worte, die keiner versteht, kommen
ihm.
Die Kinder des Mannes,
den er hintergangen, müssen
sterben; mit roten Malen sind ihre Stirnen gezeichnet, ihre Wangen,
ihre Körper
überflackert, der Tod sitzt auf ihren Kissen. Der junge Arzt taumelt
von Lager
zu Lager: zu spät! zu spät! er kann die schwindenden Seelchen nicht
halten. Nur
dies eine, das noch matt aufzuckt, wird er halten können, sein und
jener
blassen Frau Kind, die mit ruhlosen Augen im Dunkel steht und nach ihm
sieht.
Was sagen ihm diese finsteren, irrenden, geliebten Augen? Wessen zeihen
ihn
diese dunklen Blicke? Das ist kein weher, wilder Schmerz, das ist keine
gepeinigte
Seele, die aufschreit und Schutz sucht und sich hilflos zu ihm flüchten
will:
diese Blicke sind voller Feindseligkeit, sind voller Mißtrauen und
Härte; diese
Augen klagen ihn an. Sie tasten über die kleinen Betten, über die
sterbenden
Kinder und bleiben an ihm haften, sie weisen ihn aus, sie verhöhnen
ihn! Ein
lautes Hohngelächter gellt ihm in den Ohren, obwohl die Stube in
Schweigen
ruht, und nur ein Ächzen, ein Stöhnen, ein Laut der Klage die Stille
des
Sterbezimmers unterbricht. Die geliebte Frau stößt ihn von sich, weil
er ihre
Kinder nicht retten kann, weil er sie nicht für sie dem Tode entreißt.
Er liest
ihr die grausamen Wotte von den Lippen, die Worte, die sie nicht
ausspricht,
weil der Vater der Kinder im dumpfen Schmerz am Boden liegt wie ein
gefällter
Baum, hilflos lallend wie ein Kind. Er hört ihre höhnenden Worte und
ihre
Anklagen. Sie glaubt ihm nicht, daß er des Todes nicht Meister werden
kann, daß
es nicht in seiner Macht liegt, sie glaubt ihm nicht, daß es keine
Rettung mehr
gibt!
Und als das schwere,
graue Morgenlicht gegen die
kleine rote Flamme im Krankenzimmer kämpft, hat der Tod die sechs
Seelchen mit
fortgenommen und nur das eine dagelassen, das schwache, blasse Wesen,
das
Fieber und Not überstanden, und nun fest im Schlafe ruht, seinen Sohn.
Am Bett dieses letzten
Kindes kniet die Frau, kniet
der Vater der Toten, da reichen sie sich die Hände, sinken sich in die
Arme;
ein Schmerz ergießt sich in den andern, ein Weh fließt über in das
andere – und
er muß abseits stehen! Wie hat ihn diese Frau geliebt! Wie hat sie sich
an sein
Herz geflüchtet, gequält und verjagt durch die Trunkenheit ihres
Mannes. Selige
Stunden hat sie ihm geschenkt, selige Stunden bei ihm genossen,
innerlich
losgelöst von allem, was um sie und mit ihr war, losgelöst sogar von
ihren
Kindern. Sie hat ihm den Sohn geschenkt, dies Kind, an dessen Bett sie
nun dem
Verratenen die Hände preßt, dies Kind, das der Mann, der nicht sein
Vater ist,
mit Lauten der wahnsinnigsten Angst beschwört, daß es ihm bleibe, das
er mit
stammelnden Worten der Liebkosung überschüttet, sein letztes Kind!
Und er muß wie ein
Fremder stehen, ein Ausgestoßener,
wie ein Verbrecher! Niemand schenkt ihm einen Blick, niemand ein Wort:
Sechs junge Kinder
starben,
Sechs junge Kinder
starben.
Er wird weiterleben nach
dieser fürchterlichen
Winternacht, nachdem er das verfluchte, von der Lüge verpestete Haus
verlassen,
in dem sein Sohn aufwachsen wird in der Lüge, sein Sohn, der ihn
nie Vater
nennen, der ihm den kalten, feindseligen Blick der Mutter schenken, der
zu
jenem andern »Vater« sagen wird.
Sechs junge Kinder
starben.
Ich liege wach in meinem
großen Zimmer in dem alten
Holzhause, um das der Föhn stöhnt, und lausche den Stimmen der Nacht.
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