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Literatur


04.3


Geschichten

Ann Croissant-Rust
Der Tod






Dunkle Nacht

Das Schweigen ist erstarrt in den Gebirgen, die Wolken wuchten auf die Felsen nieder, die Felsen halten die schwarzen Wälder geknechtet. Die Nacht ist stumm, die Nacht ist dunkel, ist müde und atmet schwer den Duft des ersten Heues aus. Wie eine Prozession düsterer Mönche ziehen die hohen Heuhaufen die Hänge hinauf und hinab
Dort, auf dem großen Plan, stehen sie wieder lautlos, kauern still, ein riesiges Feldlager, das den Feind erwartet. Flammen Wachtfeuer auf? Tönen Signale?
 
Gelbroter Fackeln warnende Zeichen? Mitsommernacht ist's! Ferne Johannisfeuer leuchten! Wie unruhige Augen, die im Fieber wachen, zucken sie jäh an Gipfeln auf, glimmen am schwarzen Grat hin, glimmen und verlöschen lautlos.
 
Kein Schrei der Lust wird laut, kein Sang erschallt, keinen Ton trägt die Nacht. Wie erdrückt von dem schweren Schweigen verzittern die flammenden Scheite, erstirbt das Leben, erstirbt die Luft in diesem engen düstern Hochtale.
 
Die Wolken sinken immer tiefer; der Regen rauscht, rauscht die ganze Nacht. Vom Turm schlägt die Stunde hart in das matte Geriesel.
 
Ich liege wach und denke des Tages; ich liege wach in meinem großen Zimmer in dem alten Holzhause und lausche bang in die Nacht. Und nun ein Stöhnen – der Wind schleicht sich um meine Fenster; der Föhn ist erwacht, der Föhn ruft! – Bald brüllend, in scharfen Stößen, herrisch und gewaltsam, bald müde und bettelnd, stößt und winselt er ums Haus. Die Stimme des Tages, bald scharf und dringlich, bald leis und ermattet geht durch meine Seele, will sich jauchzend heben, sinkt aber und verklingt. Oh, lauter Tag, was bist du gegen diese Nacht? Ein wirrer Schall, verweht, ein rauschender Zug von Wandervögeln in der hellen Luft, entschwunden, eh ich ihn so recht geschaut; fröhlicher Kinder tanzende Schritte um den hohen Baum vor dem Hause, knarrender Wagen emsiges Schaffen, stampfende Pferde, die kommen und gehen, Scherzen und Lachen, rüstige Wanderer über Berg und Tal, lachende Menschen, kreisende Becher, Tücherschwenken im Wind – vorbei! vorbei! Wie dröhnten die Schritte in dem alten Hause, wie ächzten die Dielen! Es wird aus seinem Traum geweckt, erschrocken zittert es. Nun herrscht die Nacht, nun liegt es wieder still, und sinnt dem wirren Sinn des lauten Tages nach. Es herrscht, was war.

Sechs junge Seelen sind erloschen in dem großen Zimmer, in dem ich wach liege, und den dunklen Stimmen lausche. Sieben junge Kinder wollten sterben. Der Winter hatte haushohe Wälle um das altersbraune Wirtshaus gebaut, doch drinnen sah man den Schnee nicht kommen und nicht gehen, sah nicht die Sonne und schauerte nicht vor dem Sturm. Sieben junge Seelen rangen mit dem Tode, auf sieben jungen Stirnen flammten rote Male, sieben junge Herzen zuckten im Fieber.

Viele Stunden weit, über Schnee und Eis, durch Sturm und Gefahr hatten Angst und Not den Arzt geholt. Zwei Händchen streckten sich ihm noch entgegen, die andern lagen schwer wie Blei, oder matt, wie vom Hagel betäubte, vom Sturm verwirrte, zerbrochene Vögel unter der Decke, und nur noch die Augen fragten, Augen, die schon zagend nach dem traurigen Pfad blickten, der sie hinwegführen sollte. Zwei Händchen legten sich noch in seine Hand, die bebte in großer Qual, die andern lösten sich langsam aus seinen Fingern und ergaben sich endlich; weiß und still, wie fremde tote Wesen lagen sie auf dem Laken.

 
Ich höre das Läuten der Schlittenglocken, dann das hastige Klingeln der erregten Pferde, die die Köpfe hin- und herwerfen, höre das dumpfe Gemurmel im Haus, die schweren Tritte, das Zufallen der großen Eichentüre, das wie ein Schlag in die gespannte Stille fällt; sehe unsichern Lichtschein auf Treppe und Flur, bange Gesichter, die den Tritten des Arztes lauschen.
 
Zwei, drei Treppen nimmt er auf einmal, achtlos wirft er den Mantel, den Hut weg – – er kann nicht sprechen, als er vor den kleinen Betten steht, nur heisere, rauhe Worte, die keiner versteht, kommen ihm.
 
Die Kinder des Mannes, den er hintergangen, müssen sterben; mit roten Malen sind ihre Stirnen gezeichnet, ihre Wangen, ihre Körper überflackert, der Tod sitzt auf ihren Kissen. Der junge Arzt taumelt von Lager zu Lager: zu spät! zu spät! er kann die schwindenden Seelchen nicht halten. Nur dies eine, das noch matt aufzuckt, wird er halten können, sein und jener blassen Frau Kind, die mit ruhlosen Augen im Dunkel steht und nach ihm sieht. Was sagen ihm diese finsteren, irrenden, geliebten Augen? Wessen zeihen ihn diese dunklen Blicke? Das ist kein weher, wilder Schmerz, das ist keine gepeinigte Seele, die aufschreit und Schutz sucht und sich hilflos zu ihm flüchten will: diese Blicke sind voller Feindseligkeit, sind voller Mißtrauen und Härte; diese Augen klagen ihn an. Sie tasten über die kleinen Betten, über die sterbenden Kinder und bleiben an ihm haften, sie weisen ihn aus, sie verhöhnen ihn! Ein lautes Hohngelächter gellt ihm in den Ohren, obwohl die Stube in Schweigen ruht, und nur ein Ächzen, ein Stöhnen, ein Laut der Klage die Stille des Sterbezimmers unterbricht. Die geliebte Frau stößt ihn von sich, weil er ihre Kinder nicht retten kann, weil er sie nicht für sie dem Tode entreißt. Er liest ihr die grausamen Wotte von den Lippen, die Worte, die sie nicht ausspricht, weil der Vater der Kinder im dumpfen Schmerz am Boden liegt wie ein gefällter Baum, hilflos lallend wie ein Kind. Er hört ihre höhnenden Worte und ihre Anklagen. Sie glaubt ihm nicht, daß er des Todes nicht Meister werden kann, daß es nicht in seiner Macht liegt, sie glaubt ihm nicht, daß es keine Rettung mehr gibt!
 
Und als das schwere, graue Morgenlicht gegen die kleine rote Flamme im Krankenzimmer kämpft, hat der Tod die sechs Seelchen mit fortgenommen und nur das eine dagelassen, das schwache, blasse Wesen, das Fieber und Not überstanden, und nun fest im Schlafe ruht, seinen Sohn.
 
Am Bett dieses letzten Kindes kniet die Frau, kniet der Vater der Toten, da reichen sie sich die Hände, sinken sich in die Arme; ein Schmerz ergießt sich in den andern, ein Weh fließt über in das andere – und er muß abseits stehen! Wie hat ihn diese Frau geliebt! Wie hat sie sich an sein Herz geflüchtet, gequält und verjagt durch die Trunkenheit ihres Mannes. Selige Stunden hat sie ihm geschenkt, selige Stunden bei ihm genossen, innerlich losgelöst von allem, was um sie und mit ihr war, losgelöst sogar von ihren Kindern. Sie hat ihm den Sohn geschenkt, dies Kind, an dessen Bett sie nun dem Verratenen die Hände preßt, dies Kind, das der Mann, der nicht sein Vater ist, mit Lauten der wahnsinnigsten Angst beschwört, daß es ihm bleibe, das er mit stammelnden Worten der Liebkosung überschüttet, sein letztes Kind!
 
Und er muß wie ein Fremder stehen, ein Ausgestoßener, wie ein Verbrecher! Niemand schenkt ihm einen Blick, niemand ein Wort:

Sechs junge Kinder starben,
Sechs junge Kinder starben.

Er wird weiterleben nach dieser fürchterlichen Winternacht, nachdem er das verfluchte, von der Lüge verpestete Haus verlassen, in dem sein Sohn aufwachsen wird in der Lüge, sein Sohn, der ihn nie Vater nennen, der ihm den kalten, feindseligen Blick der Mutter schenken, der zu jenem andern »Vater« sagen wird.
 
Sechs junge Kinder starben.
 
Ich liege wach in meinem großen Zimmer in dem alten Holzhause, um das der Föhn stöhnt, und lausche den Stimmen der Nacht.









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