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Literatur


04.3


Geschichten

Ann Croissant-Rust
Der Tod






Frühlicht

Grauweißer Schnee zergeht in den Straßen, fällt faul vom Nachthimmel und klebt sich an die Fenster der Kellerwohnung. Ein schläfriger Lichtstreifen aus der Laterne gegenüber kriecht durch die Scheiben; wie wenn er sich wieder fortstehlen wollte, schleicht er an der Mauer des feuchten Loches hin. Nur manchmal zuckt er widerwillig auf, wenn der Wind draußen an der Flamme zerrt.

Auf Bündeln alter Lumpen, mit Lumpen bekleidet, mit Lumpen zugedeckt, liegen zwei Kinder in der Ecke, eng aneinandergedrückt, die mageren Körper von Frost geschüttelt. Im einzigen Bett schnarcht der Vater und schlägt im Branntweinrausch um sich und murmelt und flucht und drängt die kranke Frau neben sich bis zur Bettkante. Sie sitzt aufrecht, sie zittert im Fieber und in Angst, ihre glühenden Augen stieren in den Laternenschein. Denn dort sitzt er. Dort hinter dem verblichenen Vorhang, wo der Schimmer die Mauer hinabgleitet, dem Boden zu. Dort sitzt er und wartet, regungslos. Wie lang schon! Sind's Stunden, Tage, Jahre?
 
Sie weiß es nicht, sie sieht ihn dort sitzen, immer, immer. Er lauert auf sie, oh! sie weiß es schon lange. Sie hat ihn ja gerufen an den Tagen, wo sie der Mann, sinnlos vom Rausch, getreten und geschlagen, in den elenden Nächten ihrer Krankheit; sie hat ihn gerufen, die siechen Kinder im Arm – aber da sitzt er und grinst und wartet und kommt nicht. Nur den einen Fuß kann sie sehen, und wie die beinernen Zehen baumeln, und wenn er manchmal den Kopf vorstreckt, dann grinst er und winkt mit den weißen Knochenfingern und schlägt sein Gebiß knackend aufeinander. Aber er steht nicht auf. Weit lehnt sie sich vor, ihre Finger verkrampfen sich in die Decke, heiser schreit sie, die Arme weit nach ihm ausgebreitet: »Hol' mich!«
 
Er steht ganz auf, sie hört's, wie die Gelenke klappern und krachen, er zuckt die Achseln, daß die langen Arme schlottern, er bleibt vor dem Vorhang stehen und sieht sich um. Langsam, bedächtig. Den trunkenen Mann sieht er sich an, die Kinder, die in der Ecke kauern. Nicht sie, nicht sie.
 
»Hol' mich!« kreischt sie.
 
Da kommt er näher, immer näher. Wie sein weißer Schädel leuchtet! Wie Eis geht's von ihm aus, ihr Atem erstarrt, ihr Herz steht still, sie muß nun wie gelähmt nach ihm starren – er hält etwas verborgen hinter dem Rücken! – »Nein, nein! laß mich noch!« bettelt sie und verkriecht sich unter die Decke, sie tastet nach dem Manne neben sich, sie umklammert ihn mit starren Fingern: »nein, nein!« Aber er ist da, sie sieht ihn, er steht neben ihr, er wartet, und sie kann nimmer rufen, nimmer betteln, ihre Stimme ist heiser, sie wimmert nur noch, sie winselt, ihre gieren Augen hängen an ihm.
 
»Noch ein bißl, oh! noch ein bißl – die Kinder! oh! oh! –« rührt er sich? Ganz langsam zieht er ein schwarzes Tuch vor, pustet in die Hände und reibt sie. Dann hält er das schwarze Tuch ausgebreitet vor sie hin. Das kleine viereckige Stück Zeug ist zwischen ihr und dem Licht, zwischen ihr und den Kindern, zwischen ihr und ihm. Sie will es wegschieben, es kommt ihrem Gesicht immer näher, es nimmt ihr den Atem, ruckweise sinkt sie zurück, aber das weiche, schwarze Tuch klebt sich an sie, enger, dichter, wärmer – so heiß! – so eng! – –
 
Nun ist es eine schwüle Sommernacht, und sie liegt im Heu, matt und schwer, und gebiert ihr erstes Kind. Der Brunnen rauscht, und die Kühe brüllen im Stall unter ihr – und da, da schreit das Kind – –
 
Sie will auf, ein paar zuckende Griffe –
 
»Sakrament!« flucht's neben ihr schlaftrunken im Bette.
 
Der andre steht und gähnt und wartet. Das Tuch bläht sich leicht und wird dann straffer, immer straffer –
 
Der Lichtschein ist erloschen, der fahle Frühmorgen steht vor den Fenstern, da geht er schlenkernd über die Dielen, seine Hand streift die Kinder, er sieht noch einmal nach dem Mann zurück –
 
Das schwarze Tuch liegt ruhig.




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