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Literatur


04.3


Geschichten

Ann Croissant-Rust
Der Tod






Die Hure

Der Föhn stöhnt in den dämmrigen Straßen, eine dunkle Abendglut kauert am westlichen Himmel; in ihrem Widerschein glimmen die Wasserpfützen, trüb vom zergangenen Schnee, wie Blutlachen, und leuchten im Dunkel fast tückisch auf.

In der Ferne, über den Dächern, biegen sich ein paar hohe Bäume vor dem Sturm und wehren sich gegen ihn. Prachtvoll, wie sie in die Höhe schnellen, jäh, dann kerzengerade stehen, sich wie in Wut schütteln und doch wieder beugen müssen, um sich, wild und zerzaust, dennoch aufs neue aufzurichten. Wolkenhunde, eine dichte, schwarzgraue Meute, jagen am Himmel hin; immer toller wird die Jagd, immer noch mehrt sich die Schar und wird dunkler und dichter, bis sie sich im wirren Knäuel überhastet und endlich in schwarze Finsternis stürzt.
 
Wie gehetzt stürmt ein blasser Mond durch die düstere Schar, scheint einen Augenblick wie erstarrt still zu stehen, um alsbald in jäher Flucht wieder weiterzujagen.
 
Die Stadt liegt förmlich geduckt in ihrem Kessel und lauert und lauscht auf den Tumult über ihrem Haupte und blinzelt mit unruhigen Lichteraugen empor.
 
In der Vorstadt, die höher liegt, knattern die Fenster, wenn sich der Föhn einen Anlauf nimmt und gegen sie stürmt, die Läden rattern unter seinem ungestümen Griff, das Lied der Kamine wird wach und johlt und schreit und stöhnt in die Nacht. –
 
Die Menschen horchen auf und werden furchtsam vor dem hohen Lied des Werdens und Vernichtens, vor dem Gesang der Kraft und der Zerstörung, und möchten schreien vor Überschwang, und sind doch bang und zag im Herzen.
 
Zuhöchst oben in einem hohen Hause, wo der Föhn am ausgelassensten tobt, liegt ein Zimmer, das weit hinaussieht über Vorstadtgassen und Vorstadtdächer, bis zu den Bäumen hin, die sich so zornig wehren, bis über sie weg, ins Hügelland, wo zwischen Feldern und Wiesen, der Fluß in weiten Windungen beschaulich zieht.
 
In dem Zimmer oben brennt kein Licht, nur die Mondstreifen schnellen sich über den Fußboden.
 
Die im Bett liegt, das fiebernde Weib, kennt die Stadt und die Straßen und die Felder und Wiesen und die Hügel. Aber Felder und Wiesen und Hügel hat das Weib längst vergessen, es trottet in den Straßen und hält unter den Laternen und lacht und zeigt sich und spricht süße und rohe Worte. Fühlt Männerhände, heiße und kalte, schweißige und brutale in den ihren, wenn es die alten knarrenden Treppen hinaufsteigt. Es kennt jeden Ton der Treppen, es haßt ihr Stöhnen und Ächzen, es bespeit die Stufen, wenn sie knarren und sich widerwillig treten lassen, es haßt die ausgetretene Schwelle, über die die vielen Männerfüße schreiten, es haßt das enge Zimmer so hoch da oben.
 
Heute stöhnt der Wind dem Weib in die Ohren; es wendet sich ohne Ruhe herum, ein Wehren, eine Empörung ist in ihm, wie in den Bäumen da draußen, die sich wehren und dennoch hin- und hergerissen werden, die sich beugen müssen und sich doch immer wieder aufrecken. So reckt sich das Weib auf, und so reißt es ihren Körper nieder, und schnellt ihn wieder hoch. Wie die zögernden Wolkenhunde oben, jagen sich bei ihm auf einmal die Gedanken, die Bilder, die Erinnerungen.
 
Da sind plötzlich die Felder, die Wiesen, die Hügel, da ist ein Haus, über den Hügeln; ein Haus wie ein anderes, klein, weiß, mit einem spitzen Giebel und einem Höfchen, auf dem die Hühner scharren. Und Kinder spielen und beißen in rotbackige Äpfel, eines nimmt sie an der Hand: »Du, bleib nicht immer stehn, komm mit.« – –
 
Nun sind sie in den Wiesen, in den Feldern, an den Hügeln, im Wald. Dunkel und kühl ist es dort. Dunkel und kühl. – Das Weib wirft den Kopf hin und her. Der Wald – was ist es mit dem Wald? Dunkel und kühl? – Heiß ist es, heiß zum Ersticken im Wald.
 
Der Himmel ist schwarz und die Wolken fallen in die Bäume, eine Hand reißt die ihre an sich, ein wilder Griff, der sie in die schwüle Dunkelheit drängt. – – –
 
Leise und hämisch lacht das Weib. Das war der Erste. Dann kam die Stadt, der Zweite, der Dritte, der Fünfte – Männer, Männer, Männer. Große und Kleine, Alte und Junge, Häßliche und Schöne, Harte und Zarte – pfui Teufel! sie bespeit sie, wie sie die Treppenstufen draußen bespeit. Was? Rüttelt heute wieder einer an ihrer Tür?
 
Sie lacht höhnisch. »Ja, ja, du! Bleib du nur draußen, heut kommt keiner herein.
Rüttel du nur zu, bis du umfällst. Ruhe will ich haben, Ruhe – hörst du? Da drinnen brennt's. – So? – was? Ich darf keine Ruhe haben? – Verflucht, du Hund! Scher dich zum Henker! – Bist du fort? – Seid ihr fort, ihr alle da draußen? – Packt euch und steht mir nicht die Treppe herauf! Die Stufen knarren doch, hört ihr das nicht? – – »Fort sollt ihr!« schreit das Weib auf, »fort!« Es sitzt nun aufrecht, mit vorgestrecktem Leib horchend – »ja sie ist zu, sie bleibt zu, und nicht mach ich auf heut!« – »Äh!« ein schadenfrohes, heiseres Meckern, das Weib streckt die Zunge heraus, nach der Tür hin.
 
Immer schriller und dünner wird das Lachen, plötzlich liegt der Körper wie hingeworfen zurück und liegt still, eine lange, lange Zeit. –
Was? geht da nicht doch die Türe? Tritt nicht doch einer sacht herein? Ein Großer, Hagerer, Dunkler? –
 
Sie sieht ihn und sieht ihn nicht. Warum gleitet er hinter ihr Bett? – Sie streckt abwehrend die Hand aus, setzt sich auf und will mit ihm reden, doch schon sinkt sie wieder in sich zusammen. Ist er da – ist er fort? Sie weiß es nicht.
 
Das Dorf, die Felder, die Wiesen, die Kinder, die rotbackigen Äpfel, – wie das alles an ihr vorüberfliegt! Die Kinder, der Wald, der Liebste –
 
Nun rührt er sie an.
 
»Nein,« schreit sie heiser, »nicht heut! Geh fort.«
 
Ist er nun fort?
 
Die Kinder, der Wald, der Liebste. – Oh, nun rüttelt er an der Türe! Nun packt er sie an!
 
Nein, ihr Liebster ist's!
 
Wie heiß! Wie dunkel! Jetzt fallen die Wolken herunter! Es blitzt!
 
O nein, das ist die Sonne in dem kleinen, weißen Haus. Nun weiß sie's wieder, die Sonne in den niedern Stuben, und da sitzt jemand am Fenster bei den Blumen, eine alte Frau –
 
Er hält ihre Hände, er zieht sie in die Höhe!
 
»Mutter!« schreit sie auf, »Mutter!« und versucht ihn im letzten Wehren von sich zu stoßen.
 
Aber er reißt sie an seine Brust und hält sie fest.
 
Ganz klein wird sie, ganz, ganz klein.
 
Auf einmal streckt sie sich und ergibt sich ihm mit einem Wehschrei, der schrill und kurz und hart endet.




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