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Literatur


04.3


Geschichten

Ann Croissant-Rust
Der Tod






Die Jünglinge

Langsam und ein wenig trübselig stiegen die drei Burschen den Paß hinauf. Der Abschied hat sie traurig gemacht, wenn auch nicht viel Worte gemacht wurden dabei, und wenn's auch nicht allzulang dauert, bis sie wieder von den Bergen heruntersteigen dürfen in ihr Tal –  sie haben ihr Dorf, ihre Heimat in all ihrer engen
Heimlichkeit hinter sich lassen und wieder in die Fremde wandern müssen, ins noch immer Ungewohnte. Freilich ist sie eng, diese Heimat, ist ein weltverlassener, verlorener, förmlich verschämter Winkel, aber es ist ihrer Väter, ihrer Mütter Heimat und nichts geht ihnen darüber . . . Nicht die große Stadt, nicht die neuen Kameraden drinnen, nicht das, was sie dort an Seltenem, Erstaunlichem gelernt und erfahren, von dem sie in ihrem Hochgebirgsdorf nichts geahnt, nach dem sie sich gesehnt, freilich, und das ihnen teuer und wertvoll ist. Aber dort unten hat sie die Mutter geboren, dort ist alles vertraut und warm und umschließt sie und spricht zu ihnen mit tausend Stimmen und hat zu ihnen gesprochen aus den Blüten der Halde und dem Donnern der Lawinen, aus dem Brausen des Föhns und den grollenden Hochgewittern, seit sie denken. – – – Von dem kleinen Fenster aus schaut ihnen die Mutter gewiß jetzt nach, wie sie den Pfad zum Joch emporklimmen, der sie über Schnee und Eis ins Weite führt. Schnee, Schnee und wieder Schnee haben ihnen die Osterferien zu Hause gebracht. Sie waren wie verloren hinter den weißen Mauern, es gab keine Stadt, keine Schule, keine Unruhe mehr: wie weggelöscht war auch, was sich auf der Schulbank in ihre Herzen gefressen, was sie zagend und lebensbang gemacht hatte. Warfen sie nicht stets alles von sich und lebten ein Leben ohne Zeit, wenn sie vom Joch niederstiegen und in der Ruhe und dem Frieden ihres Heimattales untertauchten? Und sie waren wohlbehütet in der Güte und stillen Fröhlichkeit rings um sie, sie ließen sich wieder treiben von dem sachten linden Strom, ohne Nachdenken, in einem leisen Dämmern, ganz wie Kinder, die alles an Liebe nur so hinnehmen, wie wenn's ihnen gebühre.
 
Wenn sie aber mit ihren Ränzeln oben auf dem Joch standen, da fiel's ihnen aufs Herz, da kam das Heimweh, da wachten sie auf und konnten nicht lange genug zurückschauen.
 
Schüchtern, dünn stieg ein bläulicher Rauch aus den Kaminen und beugte sich gleich wieder demütig nieder. So klein, so unscheinbar waren die Häuser, arm und verlassen und geduckt, wie von einem herrischen Wind gegen die Felsen geschleudert und noch immer zitternd und verängstigt; so erschien das Dörfchen den Dreien doppelt armselig, wo neben ihnen die Gletscher anstiegen in ihrer Starrheit und Größe.
 
Das Mittagsgeläute der kleinen Kapelle dünkte ihnen zaghaft und bettelnd, es überkam sie ein Gefühl halb der Sehnsucht, hinabzusteigen und halb des Mitleids mit den armen Hütten drunten und denen, die drin wohnten, arm und gedrückt und unwissend.
 
Arm, ja. Man ließ sie ja die weiten Wege und die steilen Pfade über die Berge steigen und ließ sie die Straße viele Stunden weit laufen neben den Schienen her und neben der Post, wie die ärmsten Handwerksburschen.
 
Die Eisenbahn und die Post waren für die Söhne reicher Leute, nicht für die armer Lehrer, oder alter Gebirgsärzte, oder kranker Wittfrauen.
 
Arm, ja, und auch gedrückt waren sie. Wenn sie nur erst aus den Schulbänken heraus waren und die Nacken aufrichten durften wie die andern und nicht gebückt und gedemütigt gehn mußten in ihren verspotteten, alten, engen Dorfkleidern, belächelt von den Mitschülern! Wenn sie sich erst rühren konnten – – – wie weit würde da die Welt, so weit und licht und schimmernd wie die, die sie vom Paß aus sahen hüben und drüben.
 
Oh, noch viel reicher, viel farbiger, viel mächtiger würde sie sein als diese weiße Winterwelt, und sie wurde reich durch sie, durch ihr Wissen, durch das, was sie hintrugen und aus ihr herausholen konnten für die andern, für die in dem engen Tal drunten. – – – Davon sprachen sie jetzt. Und davon, daß sie zum letztenmal über den Paß steigen würden im Hochsommer, wenn der Himmel wie eine feuchtblaue Kugel über den gesprenkelten Schneefeldern stehen, wenn das Grün ihrer Matten heraufleuchten wird, wenn sie das feine Geläut der weidenden Kühe wieder hören durften, die zerstreut an den Hängen grasten, wenn sie in die niedern Häuser die Botschaft bringen konnten, daß sie nun frei und das große Leben für sie beginnen sollte!
 
Beinahe wie Erlöser kamen sie sich vor, und es war Triumph in ihren Blicken und Mitleid mit der Dumpfheit da unten, als sie zum letztenmal zurückschauten. Sie hatten sich bei der Hand gefaßt und ihre Augen glänzten, während sie auf das Dorf blickten.
 
Eine leichte Nebelschicht schwebte über den Dächern; diese begannen zu verschwimmen, waren auf einmal wieder nah und gleich wieder verschwunden.

Der Wind blies feucht über den Schnee auf der Paßhöhe, von Tausenden von kleinen Tröpfchen prickelte die Haut, und die höchsten Gipfel begannen sich zu verschleiern.
 
– »Der Föhn kommt, es gibt Wetterumschlag!« meinte einer, »wir müssen eilen.« – Aber sie blieben trotzdem stehn, gebannt und wehmutsvoll, und sahen noch immer hinunter ins Tal, das allmählich näher rückte, ganz in violettblaue glänzende Farben getaucht, wie sie der Schirokko anzuzaubern versteht. Sie hielten sich noch immer bei den Händen und hörten nicht auf den Ton, der drohend über ihnen erwacht war, hoch oben.
 
Wie das ferne, dumpfe Brüllen eines riesenhaften, furchtbaren Tieres klang es, und näher und näher kam es, in wilder Eile zuletzt, und da war's ein Dröhnen und Gebrause, ein Donnern und Stürzen. – – – Droben war's losgebrochen und kam sausend herunter, ein wirres, wildes, weißes Chaos, mit zersplitterten Bäumen durchsetzt, Geröll und Trümmer mit sich führend.
 
»Die Lahn!« schrie der eine entsetzt!
 
»Mei Muatterl«, der andere.
 
Der Dritte sagte nichts mehr, denn die Lahn war schon über sie weggebraust und hatte mit fortgerissen, verschüttet, begraben, was an ragenden Hoffnungen, an stolzem Schauen ins Leben und an Heimgefühl hier oben geatmet.




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