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Literatur


04.3


Geschichten

Ann Croissant-Rust
Der Tod






Der Vogel

Im Tal kommt die Helle des Frühmorgens zögernd, sacht, mit leisen Spähblicken unter der Dunstdecke durch. Über den Nebeln aber hat sich die Sonne schon breit gemacht und lungert auf Berglehnen und über Wäldern. Der Tag wird mattglänzend, spröde und glasig. Einer jener matten Frühsommertage, die blank-weiß aufstehen, die
eine Zeitlang zaudern, kleine Wolken über den Himmel ausschicken und mit heulendem Sturm, Schauer und Blitzen enden.

Schon wird die Luft schwerer, und der Mann, der über die Felsen gestiegen kommt, vom Tal herauf, schnauft hastig und wischt sich den Schweiß. Und doch ist die Sonne nicht grell; dünn, verschwommen in den Umrissen liegen die Schatten der Sträucher und Bäume auf dem hellen Fels, und unten in der Schlucht ruht langgestreckt der Nebel, wie eine Schlange durchs Tal geringelt.
 

Der Mann steht still auf der Höhe und sucht sein Dorf, sein Haus.
 

Überall Nebel, ein träges Meer. Nur das goldne Kreuz des Kirchturms sticht durch und gleißt und schillert über dem Grau. Heute kommt er nicht mehr heim, er hat noch einen weiten Weg übers Joch und muß wieder nieder ins Tal, und er schleppt eine schwere Last auf dem Rücken. Daß sie ihn heute gar so drückt! Daß er so vorsichtig steigen muß, und ihn der Schwindel packt, wenn er dem Rande nahe kommt! Dann steigt's ihm gleich zum Herzen, und der Atem will ausbleiben – besorgt sieht er zu dem dichten, milchweißen, schweren Himmel auf. Am Rand hocken kleine, graulich-gelbe Wolken, sollte ein Wetter drohen? Er schüttelt den Kopf. Er ist doch sonst nicht so furchtsam.
 

Sicher steigt er sonst über Platten und Geröll, scharf ist sein Auge und fest sein Tritt. Er kennt die kürzesten Steige, wenn's auch die waghalsigsten sind, nie ein Fehltritt, niemals Schwindel, nur heute engt's ihm den Atem, zaudert der Fuß und schreckt er zurück vor dem Abgrund. Aber er muß höher, immer höher. An der wilden Schlucht vorbei, zur Rechten starrende Felsen; dann hören auch die auf, und stundenlang zieht sich der nackte, kahle Grat hin.

Dort hält er und schaut hinab. Von tief drunten hört er das Rauschen des Baches, schwarz starrt der Nadelwald aus dem Nebel; auch das Kreuz seiner Kirche sieht er nicht mehr, nur ein dünner verwehter Glockenton kommt zu ihm. Jetzt spielen wohl seine Kinder ums Haus und hetzen die weiße Katze. Wie sie setzt! Über die Balken, über den Zaun, über die Wiese, am Apfelbaum hinauf! Und dort kauert sie, und die Blondköpfe stehen mit roten Backen und schauen hinauf und rufen und trippeln vor Ungeduld. Und der Herd raucht, und die Hennen gackern, am Haus rinnt der eilige Bach vorbei – rinnt – rinnt – immerzu.

Er springt auf. Ob er wohl geschlafen hat? Sein Kopf ist wirr und taumelig, und er muß doch weiter, weiter.

Er schaut auf. Über ihm steht eine kleine dunkle Wolke unbeweglich. Wie ein phosphoreszierender Ring sprüht um sie das Licht, das fahl und matt wird am Himmelsrand. Er schreitet fort, dann sieht er wieder auf. Und wieder die Wolke, und wieder über ihm. Wird sie nicht größer, rückt sie nicht näher? Sein Herz klopft auf einmal wild, daß es ihn schmerzt, die Augen brennen, weiß, heiß und endlos liegt der schmale Grat da. Und wieder muß er ausschauen. Und wieder die Wolke. Langgestreckt, dunkel, zerzaust, segelt sie tiefer, über ihm, senkt sich auf ihn zu, immer näher auf ihn zu.

Sie wird größer und größer, schießt über das Sonnenlicht, verdunkelt es, weit breitet sie sich aus – nein!

Es ist keine Wolke, ein Riesenvogel ist's mit ausgespannten Flügeln, mit schwarzem Gefieder! Weiß leuchten seine Fänge, weiß der Schnabel, weiß glimmen die Augen im fahlen Licht. Ohne Laut sinkt er tiefer und tiefer.
 

Der Mann hastet weiter, er ringt nach Atem und keucht, seine Knie brechen, das Rauschen der mächtigen Flügel stürmt über ihm, dunkel wird's ringsum, Nebel steigen aus der Schlucht, aus dem Tal, er sieht den Pfad nimmer und strauchelt –

Da schießt der Riesenvogel auf ihn nieder und umkrallt ihn. Einen Augenblick schwebt er frei mit ihm über dem Abgrund, dann fassen ihn die mächtigen Fänge, und er sinkt – sinkt – –





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