Nach
langen, trüben Tagen mit dichtem Schneegestöber scheint zum erstenmal
wieder die Sonne, die echte,
blanke Wintersonne über der Stadt, und die beschneiten Kappen der
Frauentürme
heben sich scharf ab vom hartblauen Himmel.
Alle
Dächer tropfen, die Straßen sind naß vom
zerrinnenden Schneewasser. Lustig klingeln die Trambahnen über die
sonnigen
Plätze, alle Welt bummelt, ordentlich lenzahnend und vergnüglich sieht
es aus.
Nur der kalte Ostwind! Heimtückisch lauerte er schon den ganzen Tag an
den
Ecken, und nun gegen Abend saust er ganz plötzlich durch die Straßen
und über
die Plätze und überfällt einen förmlich, daß man Frühlingsgedanken und
Sonnenschein schnell genug vergißt, sich gern wieder in seinen Pelz
verkriecht
und den warmen Ofen sucht.
Schon überziehen sich die Wasserlachen wieder mit
einer dünnen Eiskruste, an den Straßenenden ballt sich's zu grauen
Nebeln, aus
den Schatten und Winkeln der Häuser kriecht langsam die Nacht und
richtet sich
höher auf, stetig wachsend und wachsend.
Am Himmel hängt noch die ganze Helle des Tages, aber
aus dem Qualm der Straßen flammt schon die erste Laterne auf. Winzig
klein
sieht sie aus, braunrot, vom Dunst fast verschlungen; dann eine zweite,
dritte,
fünfte, immer mehr, bis überall Licht an Licht entzündet ist, während
im Westen
die letzte Sonnenröte düster drohend aus finsterem Gewölk flammt, in
langen,
blutigroten Streifen.
Aus den großen angelaufenen Scheiben eines Cafés fällt
heller Schein. Es ist wohlig warm drinnen, und die Fiaker, die in der
schneidend kalten Ostluft neben ihren Wagen auf und ab stampfen, werfen
neidische Blicke nach der Tür des behaglichen Lokals.
Eine leichte Rauchschicht schwebt nieder über den
hellen Marmortischen, Zeitungen rascheln, dazwischen tönt das schwache
Klirren
der Tassen und Teller, förmlich eingehüllt von dem gedämpften Hin- und
Herwogen
des Geplauders. Es ist keines der modernen Prachtcafés, mehr ein
behäbig
komfortables Lokal Altmünchener Schlages. Der Wirt geht händereibend
zwischen
den Reihen der Gäste hin und her, grüßt nach allen Seiten, drückt dem
die Hand
und setzt sich bei jenem zu einem Trunk nieder. Das Publikum stammt
mehr aus
kleinbürgerlichen Kreisen, meistens lustig-behagliche Menschen, die
sich
gemütlich unterhalten wollen.
In der hintersten Ecke, vor der langsam tickenden
alten Wanduhr sitzt ein Mann an einem kleinen Tische allein. Er paßt
nicht
recht in den Rahmen des Lokals, zu den gemächlichen Menschen. Seine
Haltung ist
gebückt, er senkt den Kopf, wie es Menschen tun, die schweren Kummer
tragen.
Wenn man nur seine Rückenlinie sieht und den hageren Hals, kann man ihn
für
einen alten Mann halten, auch ist sein Haar grau und sein Gesicht
faltig. Und
doch ist er noch jung, wenn auch seine Gesichtsfarbe graugelb und seine
Hände
mager und zittrig sind, mit blauen Adern, die hoch hervortreten,
wie die
eines alten Mannes. Er stiert vor sich hin auf den Tisch, den Kopf in
die Hände
gestützt. Was er bestellte, steht unberührt vor ihm; – ein trockener
Husten
schüttelt ihn von Zeit zu Zeit, den er mit aller Kraft zurückzuhalten
bemüht
ist. Dann schaut er scheu nach den behaglichen, plaudernden Menschen
ringsum,
zieht die Achseln höher, wie wenn er sich verbergen wollte, streicht
mit einer
verlegenen, linkischen Bewegung die glanzlosen Haare zurück und streift
die
feuchte Stirne.
Niemand kennt ihn, niemand beachtet ihn. Keiner sieht den Ausdruck der
Hilflosigkeit in seinen unruhigen Augen, wenn ihn der Husten packt. Von
schlaflosen Nächten reden diese Augen, von Kummer und
stierer Furcht. Allein gebangt, allein gefürchtet, allein gekämpft,
allein verzweifelt –
Es wird leer und leerer um den Einsamen. Das Café wird
still, und von der Wand tönt vernehmlich das Ticken der großen Uhr. Wie
durch
den Ton gebannt, starrt er plötzlich nach ihr. Und sie hält ihn fest.
Er muß
nach den Zeigern schauen, die so unerbittlich vorwärts rücken, immer
weiter,
unaufhaltsam. Er will seine Augen wegwenden, aber immer wieder zwingt's
ihn
hin, muß er sehen, wie die Zeiger weiterschreiten, wie sie eilen, wie
sie
schneller, immer schneller werden, wie sie rennen, rasen. Seine Lippen
öffnen
sich, er will schreien, seine Hände strecken sich aus, er will
aufspringen,
aber gebannt, ohnmächtig muß er dem rasenden Tanze zusehen.
Und da ist es nicht mehr
die alte Wanduhr, ein
fletschendes, weißes Beingesicht ist's, das ihm von der Wand
herunter
zugrinst; über das grinsende Gesicht aber laufen unaufhaltsam im Wirbel
die
Zeiger wie Riesenspinnen. Starr und gelähmt fühlt er, wie sie näher
kommen, wie
diese Riesenspinnen zu dürren, fleischlosen Armen werden, die nach ihm
greifen,
die sich rasend um ihn drehen, die schon seinen Mund, seine Augen
berühren, die
ihn im Wirbel mit fortreißen wollen. Eiseskälte packt ihn, seine Füße
werden
steif, sein Herz hört auf zu schlagen – jetzt! jetzt packen sie ihn!
Ein
halberstickter, gurgelnder Angstschrei – mit dumpfem Krachen stürzt die
Wanduhr
neben ihm nieder.
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