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Literatur


04.3


Geschichten

Max Dauthendey



 Das Giftfläschchen I

Da stand ich nun plötzlich mitten auf der großen unschuldigen Steininsel, umgeben von der Freudigkeit des Sommerhimmels, umgeben von der unendlichen Festlichkeit des durchdringend blauen Sommermeeres, sah die unschuldigen buntscheckigen Kühe ihre vollen Euter über das Heidekraut tragen, sah sie in friedlichen gutmütigen Reihen wildes Rosenlaub, Eichenlaub und Kräuter auf dem Granit abweiden, diese Kühe, die gutmütig wie die Erdgüte selber waren; ich hörte die wilden Bienen und die Hummeln, die sich über die Blüten des Heidekrauts summend verbreiteten, und sah sie Honig suchen, Sonnensüße für den Winter sammeln; ich sah dann über die Insel hin, auf welcher niemals noch eine böse Tat begangen worden war, wo man nicht Gefängnis, nicht Gericht und keine menschliche Niedertracht kennen gelernt hatte. Und ich, ich hatte da plötzlich ein schauderhaftes Gift in einem kleinen Fläschchen zwischen meinen Fingern, eine kleine Hölle von vierzig Tropfen. Mit diesen vierzig Tropfen konnte ich Selbstmord begehen und Mord. Ich schaute auf die weinenden Bräute hinunter, auf die jungen weinenden Frauen, die in den Booten neben den bellenden Hunden jetzt langsam wieder zum Ufer zurückruderten, und die von ihren Männern verlassen waren. Hier konnte ich Unheil stiften, ich konnte blindlings den Verführer spielen. Ein paar Tropfen in ein Glas Milch, ein paar Tropfen in einen Teller Suppe hätten die züchtigen, unschuldigen, aber zu derber Sinnlichkeit veranlagten Fischermädchen in geile, gierige, männertolle Furien verwandeln können. Ich schauderte vor diesen ekelhaften Gedanken, die mir von diesem Giftfläschchen aufgezwungen wurden, und wunderte mich. Ich schauderte vor dem winzigen Giftfläschchen, das da plötzlich in meine Hände gekommen war, hier fern von aller überreizten Kultur, fern von dem großen Menschentrubel Europas, fern von jener Welt, in der Abenteuer, Morde und Selbstmorde täglich die Zeilen der Zeitungen überschwemmten. Hier, sozusagen am Ende der Welt, wie kam hier, zweiundzwanzig Jahrtausende hinter Berlin, auf diese unschuldige Erde dieses rasend und liebestoll machende Gift?

Die Geschichte des Fläschchens war die:

Der Heide, der alte Kapitän, erzählte sie mir endlich notgezwungen nach ein paar Tagen. Ich traf ihn zufällig wieder, bei einem Besuch in einer Hütte, wo man seit ein paar Wochen einen plötzlich tobsüchtig gewordenen jungen Mann eingesperrt hielt. Die Leute sagten, der junge Mann hätte beim Fischen auf offener See einen Sonnenstich bekommen, und einige Männer, die nicht mit dem Makrelenboot auf den Nordseefang hinausgezogen waren, mussten abwechselnd bei dem Tobsüchtigen Wache halten, denn die Gemeinde hatte sich noch nicht entscheiden können, diesen als wahnsinnig in ein Spital einer der Städte an der Küste abzuliefern. Ich hatte bis jetzt noch nichts von dem geheim gehaltenen Wahnsinnigen der Insel gewusst und fand auf einem Spaziergang durch Zufall die Hütte, im Innern der Insel, wo der Tobsüchtige von seiner Wache von vier Männern, die sich täglich ablösten, festgehalten wurde.

Dort fand ich auch unter den Wachthabenden den alten Kapitän, der mir das Giftfläschchen gegeben hatte.

Er war besonders dort begehrt, da er, wie die Leute sagten, „feste Handschuhe anhabe“, womit sie seine straffen Fäuste meinten. Nach dem zufälligen Zusammentreffen am Makrelenbootstag mit dem Kapitän, hatte ich diesen täglich in seiner Hütte aufgesucht und ihn niemals daheim getroffen. Jetzt nahm ich ihn zur Seite und bestand darauf, dass er mir die genaue Herkunft des Giftfläschchens berichten sollte.

Da hörte ich endlich nach vielem unverständlichem Geknurre: wohl habe er die Flasche „gefunden“; aber das war schon ungefähr dreißig Jahre her. Er fand sie in der Kapitänskabine eines Dampfers, den er sich gekauft hatte, und der ihm dann gestrandet war. In einem Geheimfach des Schiffsbücherschrankes stand dies Fläschchen in Papier eingewickelt, und der Alte behauptete, er habe bis heute keinen Tropfen daraus vergossen. Ich glaubte es ihm.

Wir hockten einander gegenüber auf zwei Steinen im Heidekraut. In der Nähe bei uns rannte eine schwarze angepflockte Ziege, schwarz wie des Teufels Großmutter, meckernd hin und her. Und obwohl es schon gegen Abend war, wo sich die Kühle des Meeres mit der Granitwärme der Steine vermengt, wischte sich der alte Kapitän, während er mir erzählte, doch fortgesetzt die blaurote Stirn ab, auf welcher ihm ein steter Angstschweiß zu perlen schien.

Ich hatte in den paar Tagen vorher niemals richtig den Entschluss fassen können, das Fläschchen ins Meer zu schleudern oder an einem Steine zu zerschellen oder es zu öffnen und den Inhalt auszuschütten. Hundert Gründe spukten in meinem Hirn und sprachen dafür und dagegen, das Fläschchen los zu werden. Welches Unglück konnte es anrichten, wenn das Fläschchen, das fest verkittet war, im Meer weiterschwamm und von einem Fischernetz oder einem Hummerkasten aufgefischt wurde!

Oder wenn sein Inhalt, wenn ich es zerschellte, herumspritzte und vielleicht auf eine Erdbeere, eine Wacholderbeere oder irgend ein Teekraut fiel, welches Kinder sammelten. Ins Feuer werfen! Wer weiß ob das Fläschchen verbrannte und nicht in der Asche gefunden wurde. Irgendwo vergraben! Auch das war recht unzuverlässig. Ich durfte es nicht einmal mehr in meinem Zimmer stehen lassen, nicht in meinem Koffer. Seit ich dieses Giftfläschchen in die Hand bekommen hatte, lebte ich nicht mehr mein eigenes Leben. Ich lebte so wie die Wache, die einen Tobsüchtigen bewacht und ihre Aufmerksamkeit zersplittern muss zwischen Verstand und Irrsinn. Ich war nicht mehr harmloser Beobachter des Lebens. Ich trug mit dem Giftfläschchen wie ein Zauberer geheimnisvolle Kräfte der schwarzen Magie in der Tasche, ich erschien mir über alle menschlichen Begriffe einer dämonischen Kraft, einer Willkür, preisgegeben. Mit einem Wort, – ich war nicht mehr ich. Ich war der Sklave dieses Giftfläschchens geworden. Ich schrie nachts im Traum auf, träumte vom Vergiften und Morden; und so wie der Kapitän jetzt, hatte ich mir in den letzten drei Tagen, seit ich das Gift besaß, hundertmal den Angstschweiß von der Stirn wischen müssen.

„Dreißig Jahre,“ hatte der Kapitän erzählt, „habe ich das Fläschchen mit mir getragen und habe es nicht los werden können. Jahrelang habe ich eine Lust gehabt, es zu behalten, jahrelang eine Lust, es zu vernichten. Mein ganzes Leben ist von diesem Fläschchen gelenkt worden. Bald fühlte ich mich übermütig allmächtig durch den Giftbesitz, bald unheimlich verfolgt. Die Leute nennen mich, seitdem ich das Gift besitze, den ‚Heiden‘.“

Ich begriff den alten Mann. Ich war in den drei Tagen, in denen ich das Gift besaß, mir selbst fremd geworden. Aber ich hätte das Fläschchen um keinen Preis hergegeben, wenn man es von mir gefordert hätte. Und als der Alte sagte: „Was haben Sie mit dem Giftfläschchen getan?“ log ich mitten im Sonnenschein, zwischen den gütig kauenden Kühen, umgeben vom himmelblauen Meer, log ich mich aus dem Paradies hinaus. „Ich habe es fortgeworfen,“ sagte ich, damit es der Alte nicht zurückfordern konnte. –

Was wollte ich mit dem Fläschchen tun? Ich wollte es doch los sein! Warum gab ich es ihm nicht? Warum warf ich es ihm nicht vor die Füße? Ich fühlte, wie mich das viereckige Fläschchen in meinem weißen Flanellsommeranzug unbequem drückte, und ich fuhr seitdem ängstlich, oft mitten in den ruhigsten Stunden, plötzlich mit der Hand nach meiner Westentasche. Ich wich dem Kapitän von diesem Tage an aus, damit er nicht nach dem Fläschchen fragen sollte. –

Mitten in dem herrlichen Gesicht dieses Sommers 1910, mitten in dem herrlichen Gesicht dieser Insel am Ende der Welt, die nie eine Schuld, nie ein Verbrechen, nie eine Niedertracht kannte, trug ich nun diesen Ekelfleck mit mir in der Westentasche herum, diesen Giftfund, dieses Giftfläschchen. Täglich wünschte ich das Gift zu behalten und täglich, es los zu werden. –

Ein nordischer Sommer ist schnell verflogen, ist schnell abgekühlt. Schon ein paar Wochen nach Johanni, wenn die Nächte wieder die Dunkelheit wie eine schwarze Maske über das Land legen und die paar Wiesenflecken abgemäht sind, die es da gibt, und die paar Kornstrecken, und Ende Juli schon der Stillstand eines frühen Herbstes die Bäume aussehen lässt, als wären sie aus verblichenem grünem Papier angefertigt, dann werden all die Kühe in die Ställe zu den Hütten heimgetrieben, und eine Totenstille, Langweile und Leere sitzt bald an Stelle des Saftes und der Frische im Steingesicht dieser Insel. Die kleinen Hütten ertrinken abends im Nebel. An Stelle der Kühe laufen weiße Möwenscharen auf den abgemähten Wiesen herum, Wiesen, die nur jährlich einmal Gras geben, dann nicht mehr wachsen und sich mit den weißen Möwen bedecken, die des Morgens vor Sonnenaufgang anzusehen sind wie der Vorschein frühen Schnees.

Oft habe ich des Morgens vor Sonnenaufgang, da ich Bayer bin und in dem katholischen Lande an Morgenläuten, Mittag- und Abendläuten gewöhnt bin, hinausgehorcht. Aber nichts rührte sich. Es gab auf der Insel keine Kirche, keine einzige Glocke, und die Leute fuhren ihre Kinder zur Taufe mit Kähnen auf andere Inseln. Ebenso mussten die Brautpaare und die Leichen oft tagelang auf guten Segelwind warten, um zur Hochzeit oder ins Grab auf die ferne Kircheninsel zu kommen.

Die Insel Koster selbst lag glockenlos in der großen blauen Glocke des Himmels, und der „Heide“, der alte Kapitän, hatte recht, wenn er einmal in der Handelsbude, in dem einzigen Kaufladen, den es auf der Insel gibt, dröhnend auf den Tisch schlug und ausrief:

„Was brauchen wir hier Christentum, wir auf Koster! In alter Zeit waren wir Heiden und Helden. Und jetzt ist uns das Heldentum verboten. Aber Heiden sind wir immer noch im Grunde. Wir zahlen unsere Steuern, und die Sonne scheint nicht schöner, ob wir Christen sind oder Heiden. Und die Makrelen und die Heringe lassen sich so gut fangen von den Heiden, wie von den Christen.“

Und das stämmige Königsgeschlecht von Koster lächelt gutmütig über seinen Stammheiden, über den Kapitän.


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Textgrundlage: "Das Giftfläschchen" Max Dauthendrey,
aus: Geschichten aus den Vier Winden", Seite 7 - 40.

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: "Die Musik I", Gustav Klimt, EJ: 1895,
Aufbewahrung: München, Bayerische
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