Geschichten
Max Dauthendey
Da
stand ich nun plötzlich
mitten auf der großen unschuldigen Steininsel, umgeben von der
Freudigkeit des
Sommerhimmels, umgeben von der unendlichen Festlichkeit des
durchdringend
blauen Sommermeeres, sah die unschuldigen buntscheckigen Kühe ihre
vollen Euter
über das Heidekraut tragen, sah sie in friedlichen gutmütigen Reihen
wildes
Rosenlaub, Eichenlaub und Kräuter auf dem Granit abweiden, diese Kühe,
die gutmütig
wie die Erdgüte selber waren; ich hörte die wilden Bienen und die
Hummeln, die
sich über die Blüten des Heidekrauts summend verbreiteten, und sah sie
Honig
suchen, Sonnensüße für den Winter sammeln; ich sah dann über die Insel
hin, auf
welcher niemals noch eine böse Tat begangen worden war, wo man nicht
Gefängnis,
nicht Gericht und keine menschliche Niedertracht kennen gelernt hatte.
Und ich,
ich hatte da plötzlich ein schauderhaftes Gift in einem kleinen
Fläschchen
zwischen meinen Fingern, eine kleine Hölle von vierzig Tropfen. Mit
diesen
vierzig Tropfen konnte ich Selbstmord begehen und Mord. Ich schaute auf
die
weinenden Bräute hinunter, auf die jungen weinenden
Frauen, die in den Booten neben den bellenden Hunden jetzt langsam
wieder zum
Ufer zurückruderten, und die von ihren Männern verlassen waren. Hier
konnte ich
Unheil stiften, ich konnte blindlings den Verführer spielen. Ein paar
Tropfen
in ein Glas Milch, ein paar Tropfen in einen Teller Suppe hätten die
züchtigen,
unschuldigen, aber zu derber Sinnlichkeit veranlagten Fischermädchen in
geile,
gierige, männertolle Furien verwandeln können. Ich schauderte vor
diesen
ekelhaften Gedanken, die mir von diesem Giftfläschchen aufgezwungen
wurden, und
wunderte mich. Ich schauderte vor dem winzigen Giftfläschchen, das da
plötzlich
in meine Hände gekommen war, hier fern von aller überreizten Kultur,
fern von
dem großen Menschentrubel Europas, fern von jener Welt, in der
Abenteuer, Morde
und Selbstmorde täglich die Zeilen der Zeitungen überschwemmten. Hier,
sozusagen am Ende der Welt, wie kam hier, zweiundzwanzig Jahrtausende
hinter
Berlin, auf diese unschuldige Erde dieses rasend und liebestoll
machende Gift?
Die Geschichte des
Fläschchens war die:
Der Heide, der alte
Kapitän, erzählte sie mir endlich notgezwungen nach ein paar Tagen. Ich
traf
ihn zufällig wieder, bei einem Besuch in einer Hütte, wo man seit ein
paar
Wochen einen plötzlich tobsüchtig gewordenen jungen Mann eingesperrt
hielt. Die
Leute sagten, der junge Mann hätte beim Fischen auf offener See einen
Sonnenstich bekommen, und einige Männer, die nicht mit dem Makrelenboot
auf den
Nordseefang hinausgezogen waren, mussten abwechselnd bei dem
Tobsüchtigen Wache
halten, denn die Gemeinde hatte sich noch nicht entscheiden können,
diesen als
wahnsinnig in ein Spital einer der Städte an der Küste abzuliefern. Ich
hatte
bis jetzt noch nichts von dem geheim gehaltenen Wahnsinnigen der Insel
gewusst
und fand auf einem Spaziergang durch Zufall die Hütte, im Innern der
Insel, wo
der Tobsüchtige von seiner Wache von vier Männern, die sich täglich
ablösten,
festgehalten wurde.
Dort fand ich auch unter
den Wachthabenden den alten Kapitän, der mir das Giftfläschchen gegeben
hatte.
Er war besonders dort
begehrt, da er, wie die Leute sagten, „feste Handschuhe anhabe“, womit
sie
seine straffen Fäuste meinten. Nach dem zufälligen Zusammentreffen am
Makrelenbootstag mit dem Kapitän, hatte ich diesen täglich
in seiner Hütte aufgesucht und ihn niemals daheim getroffen. Jetzt nahm
ich ihn
zur Seite und bestand darauf, dass er mir die genaue Herkunft des
Giftfläschchens berichten sollte.
Da hörte ich endlich nach
vielem unverständlichem Geknurre: wohl habe er die Flasche „gefunden“;
aber das
war schon ungefähr dreißig
Jahre her. Er fand sie in der Kapitänskabine eines Dampfers,
den er sich gekauft hatte, und der ihm dann gestrandet war. In einem
Geheimfach
des Schiffsbücherschrankes stand dies Fläschchen in Papier
eingewickelt, und
der Alte behauptete, er habe bis heute keinen Tropfen daraus vergossen.
Ich
glaubte es ihm.
Wir hockten einander
gegenüber auf zwei Steinen im Heidekraut. In der Nähe bei uns rannte
eine
schwarze angepflockte Ziege, schwarz wie des Teufels Großmutter,
meckernd hin
und her. Und obwohl es schon gegen Abend war, wo sich die Kühle des
Meeres mit
der Granitwärme der Steine vermengt, wischte sich der alte Kapitän,
während er
mir erzählte, doch fortgesetzt die blaurote Stirn ab, auf welcher ihm
ein
steter Angstschweiß zu perlen schien.
Ich hatte in den paar
Tagen vorher niemals richtig den Entschluss fassen können, das
Fläschchen ins
Meer zu schleudern oder an einem Steine zu zerschellen oder es zu
öffnen und
den Inhalt auszuschütten. Hundert Gründe spukten in meinem Hirn und
sprachen
dafür und dagegen, das Fläschchen los zu werden. Welches Unglück konnte
es
anrichten, wenn das Fläschchen, das fest verkittet war, im Meer
weiterschwamm
und von einem Fischernetz oder einem Hummerkasten aufgefischt wurde!
Oder wenn sein Inhalt,
wenn ich es zerschellte, herumspritzte und vielleicht auf eine
Erdbeere, eine
Wacholderbeere oder irgend ein Teekraut fiel, welches Kinder sammelten.
Ins
Feuer werfen! Wer weiß ob das Fläschchen verbrannte und nicht in der
Asche
gefunden wurde. Irgendwo vergraben! Auch das war recht unzuverlässig.
Ich
durfte es nicht einmal mehr in meinem Zimmer stehen lassen, nicht in
meinem
Koffer. Seit ich dieses Giftfläschchen in die Hand bekommen hatte,
lebte ich
nicht mehr mein eigenes Leben. Ich lebte so wie die Wache, die einen
Tobsüchtigen bewacht und ihre Aufmerksamkeit zersplittern muss zwischen
Verstand und Irrsinn. Ich war nicht mehr harmloser Beobachter
des Lebens.
Ich trug mit dem Giftfläschchen wie ein Zauberer geheimnisvolle Kräfte
der
schwarzen Magie in der Tasche, ich erschien mir über alle menschlichen
Begriffe
einer dämonischen Kraft, einer Willkür, preisgegeben. Mit einem Wort, –
ich war
nicht mehr ich. Ich war der Sklave dieses Giftfläschchens geworden. Ich
schrie
nachts im Traum auf, träumte vom Vergiften und Morden; und so wie der
Kapitän
jetzt, hatte ich mir in den letzten drei Tagen, seit ich das Gift
besaß,
hundertmal den Angstschweiß von der Stirn wischen müssen.
„Dreißig Jahre,“ hatte
der
Kapitän erzählt, „habe ich das Fläschchen mit mir getragen und habe es
nicht
los werden können. Jahrelang habe ich eine Lust gehabt, es zu behalten,
jahrelang eine Lust, es zu vernichten. Mein ganzes Leben ist von diesem
Fläschchen gelenkt worden. Bald fühlte ich mich übermütig allmächtig
durch den
Giftbesitz, bald unheimlich verfolgt. Die Leute nennen mich, seitdem
ich das
Gift besitze, den ‚Heiden‘.“
Ich begriff den alten
Mann. Ich war in den drei Tagen, in denen ich das Gift besaß, mir
selbst fremd
geworden. Aber ich hätte das Fläschchen um keinen Preis hergegeben,
wenn man es
von mir gefordert hätte. Und als der
Alte sagte: „Was haben Sie mit dem Giftfläschchen getan?“ log ich
mitten im
Sonnenschein, zwischen den gütig kauenden Kühen, umgeben vom
himmelblauen Meer,
log ich mich aus dem Paradies hinaus. „Ich habe es fortgeworfen,“ sagte
ich,
damit es der Alte nicht zurückfordern konnte. –
Was
wollte ich mit dem
Fläschchen tun? Ich wollte es doch los sein! Warum gab ich es ihm
nicht? Warum
warf ich es ihm nicht vor die Füße? Ich fühlte, wie mich das viereckige
Fläschchen in meinem weißen Flanellsommeranzug unbequem drückte, und
ich fuhr
seitdem ängstlich, oft mitten in den ruhigsten Stunden, plötzlich mit
der Hand
nach meiner Westentasche. Ich wich dem Kapitän von diesem Tage an aus,
damit er
nicht nach dem Fläschchen fragen sollte. –
Mitten in
dem herrlichen Gesicht dieses Sommers 1910, mitten in dem herrlichen
Gesicht
dieser Insel am Ende der Welt, die nie eine Schuld, nie ein Verbrechen,
nie
eine Niedertracht kannte, trug ich nun diesen Ekelfleck mit mir in der
Westentasche herum, diesen Giftfund, dieses Giftfläschchen. Täglich
wünschte
ich das Gift zu behalten und täglich, es los zu werden. –
Ein
nordischer Sommer ist schnell verflogen, ist schnell abgekühlt. Schon
ein paar
Wochen nach Johanni, wenn die Nächte wieder die Dunkelheit wie eine
schwarze
Maske über das Land legen und die paar Wiesenflecken abgemäht sind, die
es da
gibt, und die paar Kornstrecken, und Ende Juli schon der Stillstand
eines
frühen Herbstes die Bäume aussehen lässt, als wären sie aus
verblichenem grünem
Papier angefertigt, dann werden all die Kühe in die Ställe zu den
Hütten
heimgetrieben, und eine Totenstille, Langweile und Leere sitzt bald an
Stelle
des Saftes und der Frische im Steingesicht dieser Insel. Die kleinen
Hütten
ertrinken abends im Nebel. An Stelle der Kühe laufen weiße Möwenscharen
auf den
abgemähten Wiesen herum, Wiesen, die nur jährlich einmal Gras geben,
dann nicht
mehr wachsen und sich mit den weißen Möwen bedecken, die des Morgens
vor
Sonnenaufgang anzusehen sind wie der Vorschein frühen Schnees.
Oft habe
ich des Morgens vor Sonnenaufgang, da ich Bayer bin und in dem
katholischen
Lande an Morgenläuten, Mittag- und Abendläuten gewöhnt bin,
hinausgehorcht.
Aber nichts rührte sich. Es gab auf der Insel keine Kirche, keine
einzige Glocke, und die Leute fuhren ihre
Kinder zur Taufe mit Kähnen auf andere Inseln. Ebenso mussten die
Brautpaare
und die Leichen oft tagelang auf guten Segelwind warten, um zur
Hochzeit oder
ins Grab auf die ferne Kircheninsel zu kommen.
Die Insel
Koster selbst lag glockenlos in der großen blauen Glocke des Himmels,
und der
„Heide“, der alte Kapitän, hatte recht, wenn er einmal in der
Handelsbude, in
dem einzigen Kaufladen, den es auf der Insel gibt, dröhnend auf den
Tisch
schlug und ausrief:
„Was
brauchen wir hier Christentum, wir auf Koster! In alter Zeit waren wir
Heiden
und Helden. Und jetzt ist uns das Heldentum verboten. Aber Heiden sind
wir
immer noch im Grunde. Wir zahlen unsere Steuern, und die Sonne scheint
nicht
schöner, ob wir Christen sind oder Heiden. Und die Makrelen und die
Heringe
lassen sich so gut fangen von den Heiden, wie von den Christen.“
Und
das
stämmige Königsgeschlecht von Koster lächelt gutmütig über seinen
Stammheiden,
über den Kapitän.
oben
weiter
________________________________
Textgrundlage: "Das Giftfläschchen" Max Dauthendrey,
aus: Geschichten aus
den Vier Winden", Seite 7 - 40.
wikimedia
Logo 129: "Die Musik I", Gustav Klimt, EJ:
1895,
Aufbewahrung: München, Bayerische
Staatsgemäldesammlung, gemeinfrei
zeno.org
|