Geschichten
Max Dauthendey
Himalayafinsternis
Das
ist
der Fluch und zugleich die Wollust des Reisens, dass es dir Orte, die
dir
vorher in der Unendlichkeit und in der Unerreichbarkeit lagen, endlich
und
erreichbar macht. Diese Endlichkeit und Erreichbarkeit zieht dir aber
geistige
Grenzen, die du nie mehr los werden wirst.
Wenn
sich
deine Seele, ohne dass dein Leib reist, an einen Ort hin versetzt, in
dem du
nie warst, so kann sie an dem Ort bald im Sonnenschein, bald im Regen,
bald im
Winter, bald im Frühling wandern, geisterleicht in einer
Geisterlandschaft.
Hast du aber den Ort einmal reisend mit deinem Leib erreicht und
wirkliche Tage
dort erlebt, so bist du dem Gefängnis der Wirklichkeit verfallen.
Sobald du
dich in späteren Jahren an den bereisten Ort im Geist zurückversetzt,
kommst du
nicht über die Grenzen der ehemaligen wirklichen Tage hinaus. Du siehst
jenen
Ort immer wieder, in ermüdender Wiederkehr, in derselben Tages-
oder Jahreszeitstimmung, in der du ihn
damals gesehen. Du kannst ihn nicht willkürlich mehr verwandeln. Du
bist
verdammt, ihn ewig genau so zu sehen, wie er sich dir auf der Reise
gezeigt
hat. Dies ist der Fluch, der die Seele des Reisenden belastet. Die
Flügel der
Geistigkeit werden ihm von der Wirklichkeit beschnitten. Der
Vielgereiste haftet
mehr an der Erde als der nie Gereiste. Er erscheint mir sterblicher als
die
übrigen Sterblichen.
Es
gibt
eine einzige Möglichkeit, den Wirklichkeitsbann des Reisens zu
durchbrechen und
abzuschütteln. Das geschieht, wenn wir unsterbliche Erlebnisse
heimbringen;
wenn sich das Schicksal des Reisenden mit Menschenschicksalen fremder
Orte so
verknüpft, dass der Ort, die Landschaft, das Gesehene ganz an Bedeutung
verlieren, ins Nichts sinken, und das am eigenen Schicksal Erfahrene
Zeit, Ort
und Wirklichkeit überragt.
Solche
Erlebnisse sind selten, aber eins, zwei solcher Erlebnisse auf großen
Reisen
bleiben einem im Blut und Geist haften und überfallen einen zeitweise
in der
Erinnerung, und solche Erlebnisse können uns modernen Menschen den
Schauer, die
Ehrfurcht und die Erhebung ersetzen, die die
früheren naiven Menschen in Gotteshäusern vor ihren Altären und Göttern
empfanden, vor Göttern, die wir Modernen längst zum alten Eisen gelegt
haben.
Ehe ich
auf meinen Reisen oben im Himalajagebirge gewesen, konnte ich mir diese
höchsten Erdzinken immer nur tief in weißem Schnee und unter ewig eisig
blauem
Himmel vorstellen, ähnlich den Erinnerungsbildern, die ich vom
Montblanc, von
den Dolomiten und den Schweizer Alpen mit mir trug. Jetzt aber, nachdem
ich vor
Jahren am Himalaja war, sehe ich dort im Geist keine ehernen Gletscher,
keinen
eisblauen Himmel mehr. Ich sehe dort die Erde grau in grau wandern,
denn es war
im Februar, als die Nebel aus der indischen Talsohle wie graue Felder
heraufstiegen, Nebel in allen Schattierungen, in Schatten und
Beleuchtungen
wechselnd. Es war, als flögen die Berge; dann wieder versanken sie. In
den
Sternennächten wirbelten diese Nebel im Mondschein. Der riesige
Himalaja schien
sich fortzuwälzen. Bald stellten sich die Nebel wie Riesentreppen auf,
schlugen
sich zum Himmel hinauf und drehten sich um ihre Achsen wie ungeheuere
Windmühlenflügel. Es blieb kein Oben, kein Unten, kein Links und
kein Rechts mehr bestehen, als wäre der
Himalaja eine Gedankenwelt geworden, in der sich fluchtartig Bilder und
Eindrücke, Wirklichkeit und Unwirklichkeit jagten.
Siebentausend
Fuß hoch oben in Darjeeling, dem weltbekannten Erholungsort der
englisch-indischen Beamten, Offiziere und reichen Kaufleute, waren im
Februar
die meisten Villen geschlossen. Sie liegen mit ihren Glaswänden und
Glasveranden wie aus Bergkristall aufgebaut an der Berglehne der hohen
Gelände
von Darjeeling. Dazwischen ziehen sich Teegärten mit niedrigem
Teegebüsch hin,
denn der Tropenbrodem, der vom großen indischen Reiche am Fuße des
Himalaja zu
den Höhen von Darjeeling
heraufraucht, bringt
einen Atem von
Fruchtbarkeit über
diese Südabhänge des Himalaja.
Heimgekehrt
nach Europa, wäre ich jetzt, wenn ich an den Himalaja zurückdenke, ewig
dazu
verbannt, dort droben in Darjeeling den unendlichen, lautlosen,
träufelnden
Februarregen zu sehen, der aus den Nebelschwaden nieder troff, und ich
müsste
immer in die nebel wandernden Berge schauen, die mir nie mehr
stillstehen
würden, wäre mir nicht dort jenes Erlebnis begegnet, das mich
zeitlos und weltlos ansieht, nicht gebunden
an Tag und Jahreszeiten, sondern nur gebunden an die Allmenschlichkeit,
an das
Menschenherz, das rund um die Erde, an allen Orten gleich handelnd
liebt und
leidet, als wäre es ein einziges Herz.
Eines
Nachmittags hatten mich die fünf Tibetaner, die meine Rikscha schoben,
nach dem
einzigen tibetanischen Tempel gefahren, der an einem Ende des
Bergdorfes
Darjeeling, nach langen Fahrten, auf verschlungenen Wegen erreicht
wird. Der
Tempel war einfach wie ein weißgekalktes Scheunenhaus und unterschied
sich fast
in nichts von tibetanischen Bauernhäusern. Er lag am senkrechten
Abhang, von
einigen verwilderten Bäumen umstanden, ein wenig einfach, und man hätte
ihn
eben so gut von weitem für einen kleinen Gasthof halten können.
Ich musste
einen nassen Vorgarten durchschreiten und hörte von weitem einen
regelmäßig
klingenden Ton. Es war der Laut der Gebetsmühlen, die nach jeder
Umdrehung
antönen. Unter dem Vordach des Tempelhauses stand eine mannshohe und
mannsdicke
gelbe Röhre aufgerichtet. Sie war von oben bis unten eng mit Gebeten
beschrieben. Ein Tempelknabe in gelber Kutte drehte mit der Hand
den gelben Zylinder, der
sich auf einem Gestell rund um eine Achse bewegte. Jede Umdrehung des
Zylinders
galt soviel als das vollständige Ablesen der tausend Gebete, die
eingedrängt
auf ihr geschrieben waren.
Drinnen
im Tempel war es dunkel wie in einem Stall. Hinter dicken Holzgittern
standen
die geschnitzten Götter, deren alte gebräunte Vergoldung kaum noch
glänzte. Da
war kein friedlicher Gott darunter. Alle Götter standen oder hockten in
wilden
verrenkten Stellungen, als wären sie den verzerrten Nebeln draußen
nachgebildet.
Aus
unzähligen Ölnäpfchen, voll kleiner Nachtlichter, flimmerten winzige
Flämmchen.
Wie die Futtertröge der Götter, so standen sie da vor den Gittern und
nährten
die speckigen Goldgesichter mit ihrem Ruß und belebten sie mit dem
Gewimmel
ihrer knisternden Flämmchen.
Nicht an
allen Wänden standen Götterbilder. Es waren da Lücken, und dort am
berußten und
schmutzigen Wandkalk entdeckte ich Fotografien, Ansichtspostkarten und
Holzschnitte aus illustrierten englischen Zeitungen. Es waren Bilder
von
englischen, deutschen, französischen, russischen
Prinzen und Generälen und Abbildungen von neu erfundenen Maschinen,
Bilder,
welche von den tibetanischen Priestern heilig gesprochen waren,
vielleicht um
den Europäern zu schmeicheln, vielleicht auch aus abergläubischer
Furcht vor
unbekannten fremden Seelenkräften.
Am
Fußboden in einer Ecke bemerkte ich geleerte englische Bierflaschen.
Ein paar
tibetanische Priester mit glattrasierten kahlen Köpfen, in
schmutziggelben
Kutten, hockten am Boden und rauchten, lehnten mit dem Rücken an der
Wand und
stierten zur offenen Tür hinaus, zu der ein wenig Tageslicht in den
fensterlosen Raum hereinfiel und glasig auf den Augäpfeln der Priester
glänzte.
Die
knisternden Reihen von Nachtlichtern, die blöden Augen der Priester und
hie und
da hinter den Gittern ein Götterbauch, an dessen abgenütztem Gold sich
die
Ölflämmchen spiegelten, der süßliche Tabakrauch aus den Priesterpfeifen
und ein
noch süßlicherer Geruch von erkaltetem Räucherwerk, die grotesken
Papierfetzen
aus illustrierten europäischen Zeitschriften, – dieser Wirrwarr von
zeitlosem
Spuk –, und draußen im Türviereck die ewig im Nebel fortwandernden
Himalajaberge wie Spuklandschaften, die bald in den
Himmel stiegen, bald zur Erde fielen, ein Nebelgekröse, das plötzlich
bis zur
Tür heran kroch; die gelben Ungeheuer der Gebetmühlen, die sich
einförmig
drehten und in regelmäßigen Zwischenräumen mit einem dünnen Metallton
anschlugen, – all das sah abenteuerlich aus, einfältig und
ungeheuerlich zu
gleicher Zeit. Denn es bestand schon seit Tausenden von Jahren und
schien
unvergänglich wie die Götter der Dummheit, die neben den Göttern des
Verstandes
und des Gefühls ewig die Erde beherrschen.
Aber wie
die Abgründe draußen vor der Tempeltür, an deren Rändern das
Schwindelgefühl
saß, das Menschen, Tiere und Steinmassen in die Himalajaschluchten
reißen
konnte, so lag hinter dem Gefühl der dumpfen Dummheit, die in dieser
stallartigen Tempelstube hockte, zugleich eine kaltblütige Grausamkeit.
Sie
blickte beinahe schelmisch aus den stieren Augen der kahlköpfigen
tibetanischen
Priester und grinste grotesk freundlich aus den lachenden Mäulern der
Gesichtsmasken der im Halbdunkel hockenden Götterfiguren.
Meine
fünf tibetanischen Wagenschieber, die wie Eskimos in
sackartigen Kleidern vermummt steckten und
von hünenhaften Kräften waren, fuhren mich dann im Rikschawagen zurück,
an fast
senkrechten Bergwegen hinauf. Dabei wieherten sie wie Pferdchen,
meckerten wie
Geißböcke und prusteten wie Walrosse. Zugleich verfolgten meinen Wagen
drei
tibetanische Riesenweiber, die ihre Schmuckketten aus kleinen blauen
Türkisen,
Brocken Bergkristall und Stücken ungereinigter Silberbronze, mit
rötlichem
Carneol verarbeitet, vom Hals und von den Armgelenken rissen und mir
zum
Verkauf vor mein Gesicht hielten. Immer gestikulierend sprangen die
Tibetfrauen
neben meinen Wagenrädern hin und her,
umgeben von einer
bellenden Schar
wilder
Himalajahunde.
Eine
der
Frauen nahm sich während des Springens die türkisen Ohrringe ab, eine
Andere
drehte von ihrer Hand einen plumpen Silberring mit rotem Carneolstein,
die Dritte
zog sich bronzene Haarpfeile aus ihrem ungekämmten, verwilderten und
vom Regen
nassen Haarknoten. Einige Worte Englisch und hundert geschnatterte
tibetanische
Worte, durchsetzt mit Hundegebell und begleitet vom Gelächter und
Geschnauf
meiner schwitzenden Wagenschieber, schallten mir unausgesetzt vor
den Ohren.
Endlich kaufte ich dem einen Weib einen Ring ab,
und da der
Rikschawagen an den Abhangwegen im Fahren keinen Augenblick halten
konnte,
wurde der bewegte Handel durch Zuwerfen des Ringes und Zurückwerfen des
Geldes
abgeschlossen.
Zwei der Frauen blieben jetzt zurück. Nur das
dritte Weib,
das immer noch ihre Haarpfeile verkaufslustig in der Luft schwang,
haftete noch
an der Seite meines Wagens, vom Gekläff der Hunde umgeben.
Als die Tibetanerin mich kaufunlustig sah, lockte
sie mit den
Augen, sodass ihr die Wagenschieber
tibetanische Scherzworte zuriefen, gegen die sie sich eifrig
verteidigte. Da
mich die Haarpfeile nicht reizten und des Weibes Augen mich nicht
überreden
konnten, fuhr sie, immer neben dem Wagen herspringend, mit den Händen
in die
Falten ihres sackgroben Mantelkleides und fand in irgend einer Tasche
eine
kleine Silberkette, die mir aber eben sowenig gefiel. Zugleich aber,
wie sie
die Kette in der Luft schüttelte, flog, zwischen ihren Fingern durch,
ein
kleines Bronzeamulett, das an einer Darmseite angebunden gewesen,
und flog zu mir in den
Wagen auf meinen Schoß.
Mit einem Blick sah ich, dass das Amulett ein
echtes kleines
Bronze-Götzenbild war, nicht größer als ein Fingerglied. Es stellte in
viereckigen primitiven Formen zwei winzige Menschen dar, einen nackten
Mann, an
welchem eine nackte Frau emporkletterte.
Ich schloss meine Hand, in die das Amulett
gefallen war,
griff mit der andern Hand in meine Westentasche, in der ich loses
Silbergeld
trug, und warf dem Weib ein paar große Silbermünzen zu. Sie sah mich
erstaunt
an, fing blitzschnell das Geld auf und blieb zurück. Zufällig bog der
Wagen um
eine Wegecke. Ich konnte jetzt das Weib, das in dem Haufen der
bellenden Hunde
stillstand, noch einmal von weitem sehen. Sie schüttelte fortwährend
den Kopf,
als verstünde sie nicht, wie sie zu dem Gelde gekommen sei. Sie hielt
die
Haarpfeile im Mund zwischen den Zähnen und wickelte die Geldstücke in
ein
kleines Stückchen gelben Tuches. Vielleicht war es dasselbe Stückchen
Tuch, in
welchem vorher die Silberkette und das Amulett eingewickelt gewesen.
Ich vergaß die Begebenheit, denn es
ereignete sich jeden Augenblick viel
Neues in der mich umgebenden Reisewelt. Ich entsinne mich nur, dass,
als ich
eine halbe Stunde später im Hotel das Amulett betrachtete, mir nicht
mehr
dieses eine Weib in Erinnerung kam, sondern die zwei anderen, die
zurückgeblieben waren, und deren Wangen mit einer roten Masse
eingerieben
waren. Ich fragte einen der tibetanischen Fellverkäufer, die in der
Vorhalle des
Hotels bei ihren Pelzwaren kauerten, und die alle Englisch sprachen,
mit was
sich die Weiber hier die Wangen einrieben, dass sie so braunrot würden.
Er
sagte, dass die Farbe Ochsenblut sei. Aber nur die Witwen bestreichen
sich die
Wangen mit Ochsenblut und nur diejenigen Witfrauen, die den Männern
zeigen
möchten, dass sie wieder heiraten wollen.
Während ich noch sprach, läutete die erste
Dinnerglocke im
Stiegenhaus des Hotels, die Glocke, welche die reisenden Damen und
Herren
darauf aufmerksam macht, dass es an der Zeit ist, sich für das
Mittagessen, das
um 7 Uhr serviert wird, umzukleiden. Denn auch hoch oben im
Himalaja
erscheinen die englischen Herren abends in Frack und Smoking und die
Damen in
Schleppkleidern, tief ausgeschnitten und frisiert, als wären sie
für
eine Galaoper geschmückt.
Ich
ging in mein Zimmer, wo eben ein tibetanischer
Zimmerbursche das Kaminfeuer angezündet hatte und jetzt nebenan im
Baderaum,
welcher zum Zimmer gehörte, Wasser in die Badewanne schleppte.
Der Baderaum hatte einen
besonderen Eingang durch einen Balkon, der an der Rückseite des Hauses
entlang
lief. Nachdem das Bad hergerichtet war, murmelte der tibetanische
Diener sein
„all right Sir“ und verschwand durch die Hintertür des Badezimmers.
Nachdem ich ins Bad
gestiegen war und aufrecht im dampfenden Wasser stand und einige
Turnübungen
ausführte, fühlte ich im Rücken einen eiskalten Luftstrom, als ob
jemand die
Hintertür des Baderaumes zum Balkon geöffnet habe. Ich rufe auf
Englisch: „Tür
zu!“ Und um mich vor dem eisigen Luftstrom zu schützen, tauche ich im
heißen
Wasser der Badewanne bis zum Hals unter. Ich bemerke zugleich durch den
Dampf,
der das Zimmer füllte, den Schatten einer Gestalt und frage: „Wer ist
da?“
Nur der Strahl des
Kaminfeuers fiel meinem Schlafzimmer in den Baderaum herein, und ich
merkte zu
meinem Erstaunen, dass die kleine Lampe, welche der Diener in eine
Fensternische gestellt hatte, die aber vorher kaum leuchtete, jetzt
vollständig
ausgegangen war.
Als ich auf meine
zweimaligen Zurufe keine Antwort bekam, erhob ich mich wieder aus dem
dampfenden Wasser. Im selben Augenblick fühlte ich wieder den Eishauch
von der
Türe her, die wahrscheinlich wieder hinter dem Dampfnebel geöffnet
worden war.
Der menschliche Schatten, den ich vorher gesehen hatte, war aber
verschwunden.
Mir
schien, wenn ich mir
die Gestalt vergegenwärtigte, als wäre es eine Frau gewesen, die vorher
eingetreten und die jetzt wieder verschwunden war.
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Textgrundlage: "Himalajafinsternis" Max
Dauthendrey,
aus: Geschichten aus den Vier Winden", Seite 41 - 76.
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aufgenommen von einem
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am 1.4.2004, Original-Uploader was Mex at de.wikipedia
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