Geschichten
Max Dauthendey
Ich tastete in den
Dampfnebel, fragte noch ein paar Mal, beendete dann mein Bad schneller,
als ich
es sonst getan hätte, wickelte mich ins Badelaken, machte Licht im
Schlafzimmer
und leuchtete in den Baderaum, fand aber niemand. Dann kleidete ich
mich an,
klingelte und fragte den Diener, ob man jemand hereingelassen, während
ich im
Bad war.
Dieser schüttelte den
Kopf
und wusste von nichts.
Ich vergaß auch diese
Begebenheit wieder. Aber nach Mitternacht, als ich mich zu Bett legte,
schloss
ich vorsichtig alle Türen.
Das Amulett hatte ich
genau betrachtet, und nach dem Alter der Darmseite zu schließen, an die
es
gebunden und die vom Tragen sehr abgenützt war, konnte ich mir
vorstellen, dass
das Amulett wohl schon mehrere Menschenalter um den Hals verschiedener
Personen
gehangen und auf der Brust verschiedener Leute geruht haben musste. Bis
diese
starke Darmseite sich abnützen und durchwetzen konnte, mussten manche
Menschenleben dahingegangen sein.
Die an der Männergestalt
emporkletternde kleine Frauengestalt war von geschwärzter Silberbronze.
Der
Mann schien aus Eisenbronze zu sein.
Klobig, simpel, primitiv
war die nussgroße Figurengruppe zusammengeschweißt, wahrscheinlich in
irgend
einer Bergschmiede tief im Himalajagebirge. Vielleicht war sie in einer
tibetanischen Klosterschmiede gearbeitet, in einem jener
ungeheuerlichen
Klöster, die an unzugänglichen Stellen, an Bergabhängen
und Bergseen
zerstreut liegen auf der Straße nach Lassa hin, jener Straße, die zu
der
geheimnisvollsten Klosterstadt der Welt führt.
Ich musste wieder an das
stattliche Tibetweib denken, wie es da mitten im Haufen bellender Hunde
gestanden und gedankenvoll mein Geld in das gelbe Tuch gewickelt hatte.
Plötzlich fiel mir ein:
nach ihrem verwunderten Gesicht zu schließen, hatte die Frau, als mir
das
Amulett zuflog, vielleicht gar nicht gewusst, dass sie es mir
zugeworfen hatte.
Sie hatte eine Silberkette in der Hand geschüttelt, und wenn ich jetzt
darüber
nachdachte, so schien es mir, als wäre ihr unbewusst das Amulett aus
den
Fingern geglitten, denn ihr Gesicht war verblüfft und nachdenklich, als
sie
meine Silbermünzen auffing und einsteckte. Jedenfalls aber hatte ich
das
Amulett mit meinem Gelde bezahlt, und es war mein. So sagte ich mir und
legte
mich beruhigt zu Bett.
Ich weiß nicht, wie viel
Stunden ich geschlafen hatte, als ich durch einen Knall und ein
Scherbenklingen
geweckt wurde. Ich fuhr auf und hörte ein Geräusch wie von flatternden
Flügelschlägen.
Das Kaminfeuer war
vollständig niedergebrannt, und der
kleine Glutbrocken leuchtete nicht mehr an die Zimmerdecke und nicht
mehr an
die Wände, von wo aus das klatschende Flügelschlagen herkam.
Ich machte Licht und sah
ein schwarzes Tier, groß wie eine Eule, von Winkel zu Winkel fliegen.
Als ich
auf einen Stuhl stieg, sah ich, dass es eine große Vampirfledermaus
war. Ich
öffnete die Schlafzimmertüre, die nach der Treppe ging, weit, und rief
ins
Treppenhaus hinunter, indessen ich mich in meinen Mantel wickelte.
Drunten am
Kaminfeuer saßen immer einige Diener, die die Nachtwache hatten. Einer
von den
Männern kam nun herauf, riss die Bettdecke von meinem Bett und schlug
mit dem
Tuch nach dem Tier in die Luft und scheuchte die Riesenfledermaus
durchs
geöffnete Fenster in die Nacht hinaus.
Im Fenster selbst fanden
wir dann eine Ecke der Scheibe eingestoßen. Doch unerklärlich war es
mir, wie
die weiche und zartknochige Fledermaus es fertig gebracht hatte, die
harte
Fensterscheibe einzustoßen.
In dieser Nacht schlief
ich nicht mehr. Ich ließ das Licht brennen und befahl dem Diener, das
Kaminfeuer zu schüren. Ich setzte mich dann an
den Kamin und las, das heißt, ich wollte lesen, um nicht einzuschlafen.
Aber
mehrmals musste ich aufhorchen. Es war mir, als hörte ich Schritte auf
dem
Balkon, auf welchen das zerbrochene Fenster führte.
Ich sah vom Lesen nicht
auf. Ich sagte mir, es wird einer der Diener sein, der sich überzeugen
will, ob
mein Kaminfeuer noch brennt, und der mich nicht zu stören wagt und
deshalb auf
dem Balkon herumschleicht und herein sieht.
Nach einer Stunde war
mir,
als verbreite sich ein durchdringender Blumengeruch im Zimmer. Ich
schloss die
Augen, lehnte meinen Kopf im Ledersessel zurück und überlegte, ob die
Nachtnebel, die aus den Himalajateegärten und aus der indischen
Tiefebene
heraufstiegen, solch einen betäubenden Blütengeruch mit sich führen
können.
Durch das zerbrochene Fenster schien der Geruch mit dem Nebelrauch
hereinzuziehen, denn ich sah einen feinen bläulichen Dampf, der vom
zerbrochenen Fenster her das Zimmer erfüllte. Ich wollte aufstehen, ein
Handtuch oder einen Reiseschal nehmen und die zerbrochene Scheibenecke
zustopfen, um den betäubenden Nebel abzuwehren.
Aber es blieb bei dem in
meinem Gehirn sich immer wiederholenden Wunsch, aufzustehen. Meine
Augen fielen
zu. Einige Zeit hielt ich das Buch noch in der einen Hand fest. Aber
das Buch
schien immer größer und schwerer zu werden. Das Buch wuchs und stand
vor mir
wie die Wand so groß. Und immer, wenn ich mich aufrichten wollte, stand
vor mir
das aufgerichtete wandgroße Buch. Es war mir, als wohne ich nicht mehr
in einem
Zimmer. Ich wohnte in einem Buch. Und ich hatte das Gefühl, dieses
Riesenbuch
könnte zuklappen und mich zwischen seinen Seiten erdrücken. Das Buch
roch so
süß wie die Süße aus einem alten Schrank, in welchem getrocknete Blumen
und
Lavendel lagen. Mit diesem gemischten Gefühl von Süße und drückender
Bangigkeit
verbrachte ich, wie es mir schien, Jahre, ohne dass sich etwas in
meinem
Zustande änderte.
Ich wachte durch ein
Klopfen auf. Es klopfte irgendwo jemand auf meinen Schädel. Es wurde
lange und
heftig geklopft. Bald war es mir auch wieder, als klopfe man schon
jahrelang.
Ich horchte auf. Meine Augen öffneten sich und sahen immer noch
Kaminglut. Draußen
war es immer noch Nacht. Das
Klopfen kam von den verschiedenen Zimmertüren im Korridor. Die
Hotelgäste
wurden geweckt.
Ich erinnerte mich jetzt,
dass unsere Reisegesellschaft, die zehn Damen und Herren, die sich hier
in
Darjeeling im Hotel zusammengefunden, verabredet hatten, um drei Uhr
morgens
bei Mondschein aufzubrechen, um auf Passwegen zu dem zweitausend Fuß
höher
gelegenen „Tigerhill“ zu reiten, wo man den Sonnenaufgang über dem Mont
Everest
und anderen Riesen des Himalaja erwarten wollte.
Im Zimmer war noch immer
der süßliche Dunst. Ich kleidete mich im halbtrunkenen Zustand an. Ein
Diener
brachte mir dann den Morgentee und sagte, dass die Pferde gesattelt
seien und
unten an der Veranda warten.
Als ich ein paar Minuten
später aufs Pferd stieg, freute ich mich über die klare Bergluft, über
den
eisklaren Halbmond, der am Himmel hing, und über den reinen Neuschnee,
der
gefallen war, und ich hatte bald ganz und gar den Blumendunst vergessen
und die
letzten Stunden jenes schweren Schlafes, der mehr einem Albdruck als
einem
gesunden Schlaf ähnlich gewesen.
Auf den schmalen
Passwegen,
auf denen die Pferde hintereinander schreiten mussten, schwiegen das
Geplauder
und Gelächter der Damen und Herren. Es war, als ritten wir nicht auf
der Erde,
sondern auf Wolken, an Wolkenrändern entlang. Die Mondsichel hatte
nicht Kraft
genug, die Himalajagründe auszuleuchten. Meere von Finsternis lagen an
den
Rändern der Passwege, die nur einige Hufbreiten breit auf den
Berggraten
entlang zogen. Bäume, die so alt waren, dass sie kein Blatt mehr
trieben und
nur wie moosbehangene Skelette ragten, waren durch Nebel und Schnee wie
vom
Erdboden abgeschnitten und hingen in der Luft wie vom Himmel herab.
Einige
waren wie hausgroße Skelette ungeheuerlicher Fledermäuse. Diese
Gespensterbäume
und der jasminweiße Mond auf dem grünlichen Nachtäther erinnerten mich
wieder
an mein Nachterlebnis. Aber die großen geöffneten unergründlichen
Himalaja-Abgründe,
die den Eindruck gaben, als könnte man so tief in die finstere Erde
hineinsehen, so tief wie in den Nachthimmel, diese Abgründe, an denen
die
Pferde zagend und tastend und lautlos im glitschigen Schnee wie
balancierend
zwischen Leben und Tod entlang gingen, verschluckten
Rückerinnerungen und Gedanken, diese Abgründe wollten mich
einschläfern,
stärker noch als der Blumengeruch es vorher getan hatte.
Der
warme,
schweißdampfende Pferderücken, der mich trug und der mich rüttelte, war
das
einzige Stück Wirklichkeit, das ich noch fühlte, denn der Traumzustand
der
Gespensterlandschaft wollte sich mit dem Traumzustand meiner noch nicht
völlig
wachen Gedanken vermischen und mich in die Abgründe ziehen.
Endlich verflüchtete sich
die Nacht, und wir erreichten in der blaugrauen Dämmerung, die dem
Sonnenaufgang vorausgeht, die Höhe des Tigerhills.
Tibetanische Diener waren
vom Hotel vorausgeschickt worden. Ein großer Holzstoß war angezündet
worden,
aber das Holz war nass und rauchte mehr als es brannte. Der Schnee war
im
Umkreis des Feuers weggeschmolzen. Wir versuchten, unsere vom Reiten
erstarrten
Füße beim Feuer zu wärmen, umwanderten stampfend den qualmenden
Holzstoß,
vertrieben uns die Zeit mit Teetrinken und warteten auf die ersten
Zeichen des
Sonnenaufgangs.
Auf einmal sagte jemand
neben mir: „Das ist der Schmetterlingshändler!“ Der Genannte war
ein
Deutsch-Engländer aus Darjeeling, der einen tibetanischen
Antiquitätenladen
dort hatte und zugleich einen Handel mit Himalajaschmetterlingen trieb,
von
denen er die schönsten Exemplare auf Bestellung nach Europa sandte.
Wie der Mann auf den
Tigerhill gekommen, ob er uns auf einer Nachtreise aus dem Inneren des
Gebirges
begegnet war, oder ob er die Reisegesellschaft von Darjeeling aus
begleitet
hatte, wusste ich nicht. Ich dachte nur im selben Augenblick, wie ich
das Wort
„Schmetterlingshändler“ hörte, an die seltsame Trommel, die ich in
seinem Laden
zwei Tage vorher gekauft hatte; eine Trommel, angefertigt aus den
Hirnschalen
zweier Menschen, aus der Hirnschale eines Mannes und aus der eines
Weibes. Jede
Schalenhöhle war mit einer Membrane überzogen; an der Wölbung aber
waren die
beiden Gehirnschalen zusammengeschweißt, sodass sie zwei kleine
Trommeln
bildeten. Schüttelte man diese, so schlug in jeder Schädelhöhle eine
kleine,
hinter der Membrane eingesperrte Elfenbeinkugel an die Schädelwand und
an die
Membrane und trommelte unausgesetzt. Der Schmetterlingshändler hatte
mir
erzählt:
„Ich habe diese Trommel
von einem
tibetanischen Priester in einem tibetanischen Tempel gekauft. Es sind
die
Schädelschalen eines treulosen Mannes und eines treulosen Weibes. Diese
Trommel
wurde täglich zur Gebetstunde angeschlagen, denn die Treulosen sollen,
ewig
aneinander gekittet, im Tode keine Ruhe haben. Der Priester, der auf
dem
Leichenstein beim Tempel die Leichen zu zerschneiden und den Vögeln
hinzuwerfen
hat, hat das Recht, die Schädelschalen zweier, die die Treue gebrochen
haben,
nach dem Tode zu solchen Trommeln zu verarbeiten.“ –
Mit großer Mühe hatte der
Schmetterlingshändler die Trommel aus dem Tempel erhalten.
Machte
es die dünne hohe
Gebirgsluft, dass meine Ohren jetzt plötzlich aus allen finstern
Himalaja-Abgründen
ein Donnern hörten, als seien die Bergschlünde trommelnde Schädelhöhlen
von
Ungetreuen?
Textgrundlage: "Himalajafinsternis" Max Dauthendrey,
aus: Geschichten aus
den Vier Winden",
Seite 41 - 76.
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Logo 177: "Himalaja-Panorama",
aufgenommen von einem
Astronauten an Border der internationalen
Raumstation am 1.4.2004, Original-Uploader was Mex at de.wikipedia
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