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Literatur


04.3



Geschichten

Max Dauthendey



 Himalayafinsternis I


Ich tastete in den Dampfnebel, fragte noch ein paar Mal, beendete dann mein Bad schneller, als ich es sonst getan hätte, wickelte mich ins Badelaken, machte Licht im Schlafzimmer und leuchtete in den Baderaum, fand aber niemand. Dann kleidete ich mich an, klingelte und fragte den Diener, ob man jemand hereingelassen, während ich im Bad war.

Dieser schüttelte den Kopf und wusste von nichts.

Ich vergaß auch diese Begebenheit wieder. Aber nach Mitternacht, als ich mich zu Bett legte, schloss ich vorsichtig alle Türen.

Das Amulett hatte ich genau betrachtet, und nach dem Alter der Darmseite zu schließen, an die es gebunden und die vom Tragen sehr abgenützt war, konnte ich mir vorstellen, dass das Amulett wohl schon mehrere Menschenalter um den Hals verschiedener Personen gehangen und auf der Brust verschiedener Leute geruht haben musste. Bis diese starke Darmseite sich abnützen und durchwetzen konnte, mussten manche Menschenleben dahingegangen sein.

Die an der Männergestalt emporkletternde kleine Frauengestalt war von geschwärzter Silberbronze. Der Mann schien aus Eisenbronze zu sein.

Klobig, simpel, primitiv war die nussgroße Figurengruppe zusammengeschweißt, wahrscheinlich in irgend einer Bergschmiede tief im Himalajagebirge. Vielleicht war sie in einer tibetanischen Klosterschmiede gearbeitet, in einem jener ungeheuerlichen Klöster, die an unzugänglichen Stellen, an Bergabhängen und Bergseen zerstreut liegen auf der Straße nach Lassa hin, jener Straße, die zu der geheimnisvollsten Klosterstadt der Welt führt.

Ich musste wieder an das stattliche Tibetweib denken, wie es da mitten im Haufen bellender Hunde gestanden und gedankenvoll mein Geld in das gelbe Tuch gewickelt hatte.

Plötzlich fiel mir ein: nach ihrem verwunderten Gesicht zu schließen, hatte die Frau, als mir das Amulett zuflog, vielleicht gar nicht gewusst, dass sie es mir zugeworfen hatte. Sie hatte eine Silberkette in der Hand geschüttelt, und wenn ich jetzt darüber nachdachte, so schien es mir, als wäre ihr unbewusst das Amulett aus den Fingern geglitten, denn ihr Gesicht war verblüfft und nachdenklich, als sie meine Silbermünzen auffing und einsteckte. Jedenfalls aber hatte ich das Amulett mit meinem Gelde bezahlt, und es war mein. So sagte ich mir und legte mich beruhigt zu Bett.

Ich weiß nicht, wie viel Stunden ich geschlafen hatte, als ich durch einen Knall und ein Scherbenklingen geweckt wurde. Ich fuhr auf und hörte ein Geräusch wie von flatternden Flügelschlägen.

Das Kaminfeuer war vollständig niedergebrannt,  und der kleine Glutbrocken leuchtete nicht mehr an die Zimmerdecke und nicht mehr an die Wände, von wo aus das klatschende Flügelschlagen herkam.

Ich machte Licht und sah ein schwarzes Tier, groß wie eine Eule, von Winkel zu Winkel fliegen. Als ich auf einen Stuhl stieg, sah ich, dass es eine große Vampirfledermaus war. Ich öffnete die Schlafzimmertüre, die nach der Treppe ging, weit, und rief ins Treppenhaus hinunter, indessen ich mich in meinen Mantel wickelte. Drunten am Kaminfeuer saßen immer einige Diener, die die Nachtwache hatten. Einer von den Männern kam nun herauf, riss die Bettdecke von meinem Bett und schlug mit dem Tuch nach dem Tier in die Luft und scheuchte die Riesenfledermaus durchs geöffnete Fenster in die Nacht hinaus.

Im Fenster selbst fanden wir dann eine Ecke der Scheibe eingestoßen. Doch unerklärlich war es mir, wie die weiche und zartknochige Fledermaus es fertig gebracht hatte, die harte Fensterscheibe einzustoßen.
In dieser Nacht schlief ich nicht mehr. Ich ließ das Licht brennen und befahl dem Diener, das Kaminfeuer zu schüren. Ich setzte mich dann an den Kamin und las, das heißt, ich wollte lesen, um nicht einzuschlafen. Aber mehrmals musste ich aufhorchen. Es war mir, als hörte ich Schritte auf dem Balkon, auf welchen das zerbrochene Fenster führte.

Ich sah vom Lesen nicht auf. Ich sagte mir, es wird einer der Diener sein, der sich überzeugen will, ob mein Kaminfeuer noch brennt, und der mich nicht zu stören wagt und deshalb auf dem Balkon herumschleicht und herein sieht.

Nach einer Stunde war mir, als verbreite sich ein durchdringender Blumengeruch im Zimmer. Ich schloss die Augen, lehnte meinen Kopf im Ledersessel zurück und überlegte, ob die Nachtnebel, die aus den Himalajateegärten und aus der indischen Tiefebene heraufstiegen, solch einen betäubenden Blütengeruch mit sich führen können. Durch das zerbrochene Fenster schien der Geruch mit dem Nebelrauch hereinzuziehen, denn ich sah einen feinen bläulichen Dampf, der vom zerbrochenen Fenster her das Zimmer erfüllte. Ich wollte aufstehen, ein Handtuch oder einen Reiseschal nehmen und die zerbrochene Scheibenecke zustopfen, um den betäubenden Nebel abzuwehren.

Aber es blieb bei dem in meinem Gehirn sich immer wiederholenden Wunsch, aufzustehen. Meine Augen fielen zu. Einige Zeit hielt ich das Buch noch in der einen Hand fest. Aber das Buch schien immer größer und schwerer zu werden. Das Buch wuchs und stand vor mir wie die Wand so groß. Und immer, wenn ich mich aufrichten wollte, stand vor mir das aufgerichtete wandgroße Buch. Es war mir, als wohne ich nicht mehr in einem Zimmer. Ich wohnte in einem Buch. Und ich hatte das Gefühl, dieses Riesenbuch könnte zuklappen und mich zwischen seinen Seiten erdrücken. Das Buch roch so süß wie die Süße aus einem alten Schrank, in welchem getrocknete Blumen und Lavendel lagen. Mit diesem gemischten Gefühl von Süße und drückender Bangigkeit verbrachte ich, wie es mir schien, Jahre, ohne dass sich etwas in meinem Zustande änderte.

Ich wachte durch ein Klopfen auf. Es klopfte irgendwo jemand auf meinen Schädel. Es wurde lange und heftig geklopft. Bald war es mir auch wieder, als klopfe man schon jahrelang. Ich horchte auf. Meine Augen öffneten sich und sahen immer noch Kaminglut. Draußen war es immer noch Nacht.  Das Klopfen kam von den verschiedenen Zimmertüren im Korridor. Die Hotelgäste wurden geweckt.

Ich erinnerte mich jetzt, dass unsere Reisegesellschaft, die zehn Damen und Herren, die sich hier in Darjeeling im Hotel zusammengefunden, verabredet hatten, um drei Uhr morgens bei Mondschein aufzubrechen, um auf Passwegen zu dem zweitausend Fuß höher gelegenen „Tigerhill“ zu reiten, wo man den Sonnenaufgang über dem Mont Everest und anderen Riesen des Himalaja erwarten wollte.
Im Zimmer war noch immer der süßliche Dunst. Ich kleidete mich im halbtrunkenen Zustand an. Ein Diener brachte mir dann den Morgentee und sagte, dass die Pferde gesattelt seien und unten an der Veranda warten.

Als ich ein paar Minuten später aufs Pferd stieg, freute ich mich über die klare Bergluft, über den eisklaren Halbmond, der am Himmel hing, und über den reinen Neuschnee, der gefallen war, und ich hatte bald ganz und gar den Blumendunst vergessen und die letzten Stunden jenes schweren Schlafes, der mehr einem Albdruck als einem gesunden Schlaf ähnlich gewesen.

Auf den schmalen Passwegen, auf denen die Pferde hintereinander schreiten mussten, schwiegen das Geplauder und Gelächter der Damen und Herren. Es war, als ritten wir nicht auf der Erde, sondern auf Wolken, an Wolkenrändern entlang. Die Mondsichel hatte nicht Kraft genug, die Himalajagründe auszuleuchten. Meere von Finsternis lagen an den Rändern der Passwege, die nur einige Hufbreiten breit auf den Berggraten entlang zogen. Bäume, die so alt waren, dass sie kein Blatt mehr trieben und nur wie moosbehangene Skelette ragten, waren durch Nebel und Schnee wie vom Erdboden abgeschnitten und hingen in der Luft wie vom Himmel herab. Einige waren wie hausgroße Skelette ungeheuerlicher Fledermäuse. Diese Gespensterbäume und der jasminweiße Mond auf dem grünlichen Nachtäther erinnerten mich wieder an mein Nachterlebnis. Aber die großen geöffneten unergründlichen Himalaja-Abgründe, die den Eindruck gaben, als könnte man so tief in die finstere Erde hineinsehen, so tief wie in den Nachthimmel, diese Abgründe, an denen die Pferde zagend und tastend und lautlos im glitschigen Schnee wie balancierend zwischen Leben und Tod entlang gingen,  verschluckten Rückerinnerungen und Gedanken, diese Abgründe wollten mich einschläfern, stärker noch als der Blumengeruch es vorher getan hatte.

Der warme, schweißdampfende Pferderücken, der mich trug und der mich rüttelte, war das einzige Stück Wirklichkeit, das ich noch fühlte, denn der Traumzustand der Gespensterlandschaft wollte sich mit dem Traumzustand meiner noch nicht völlig wachen Gedanken vermischen und mich in die Abgründe ziehen.
Endlich verflüchtete sich die Nacht, und wir erreichten in der blaugrauen Dämmerung, die dem Sonnenaufgang vorausgeht, die Höhe des Tigerhills.

Tibetanische Diener waren vom Hotel vorausgeschickt worden. Ein großer Holzstoß war angezündet worden, aber das Holz war nass und rauchte mehr als es brannte. Der Schnee war im Umkreis des Feuers weggeschmolzen. Wir versuchten, unsere vom Reiten erstarrten Füße beim Feuer zu wärmen, umwanderten stampfend den qualmenden Holzstoß, vertrieben uns die Zeit mit Teetrinken und warteten auf die ersten Zeichen des Sonnenaufgangs.

Auf einmal sagte jemand neben mir: „Das ist der Schmetterlingshändler!“ Der Genannte war ein Deutsch-Engländer aus Darjeeling, der einen tibetanischen Antiquitätenladen dort hatte und zugleich einen Handel mit Himalajaschmetterlingen trieb, von denen er die schönsten Exemplare auf Bestellung nach Europa sandte.

Wie der Mann auf den Tigerhill gekommen, ob er uns auf einer Nachtreise aus dem Inneren des Gebirges begegnet war, oder ob er die Reisegesellschaft von Darjeeling aus begleitet hatte, wusste ich nicht. Ich dachte nur im selben Augenblick, wie ich das Wort „Schmetterlingshändler“ hörte, an die seltsame Trommel, die ich in seinem Laden zwei Tage vorher gekauft hatte; eine Trommel, angefertigt aus den Hirnschalen zweier Menschen, aus der Hirnschale eines Mannes und aus der eines Weibes. Jede Schalenhöhle war mit einer Membrane überzogen; an der Wölbung aber waren die beiden Gehirnschalen zusammengeschweißt, sodass sie zwei kleine Trommeln bildeten. Schüttelte man diese, so schlug in jeder Schädelhöhle eine kleine, hinter der Membrane eingesperrte Elfenbeinkugel an die Schädelwand und an die Membrane und trommelte unausgesetzt. Der Schmetterlingshändler hatte mir erzählt:

„Ich habe diese Trommel von einem tibetanischen Priester in einem tibetanischen Tempel gekauft. Es sind die Schädelschalen eines treulosen Mannes und eines treulosen Weibes. Diese Trommel wurde täglich zur Gebetstunde angeschlagen, denn die Treulosen sollen, ewig aneinander gekittet, im Tode keine Ruhe haben. Der Priester, der auf dem Leichenstein beim Tempel die Leichen zu zerschneiden und den Vögeln hinzuwerfen hat, hat das Recht, die Schädelschalen zweier, die die Treue gebrochen haben, nach dem Tode zu solchen Trommeln zu verarbeiten.“ –

Mit großer Mühe hatte der Schmetterlingshändler die Trommel aus dem Tempel erhalten.

Machte es die dünne hohe Gebirgsluft, dass meine Ohren jetzt plötzlich aus allen finstern Himalaja-Abgründen ein Donnern hörten, als seien die Bergschlünde trommelnde Schädelhöhlen von Ungetreuen?






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Textgrundlage: "Himalajafinsternis" Max Dauthendrey,
aus: Geschichten aus den Vier Winden",
Seite 41 - 76.

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