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Literatur


04.3


Geschichten

Max Dauthendey




 Häcksel und die Bergwerkflöhe I


Häcksel war der Sohn des Finsterer, und der war Bergmann im Annaschacht gewesen. Und Finsterer war der Sohn des Labemann, und der war Bergmann im Annaschacht gewesen. Und Labemann war der Sohn des Flegels, und Flegel war Bergmann im Annaschacht gewesen. Keiner von denen war ehelich geboren. Dieses aber ist der Stammbaum der Geliebten der Mütter jener Bergmänner.

Häcksel war, was alle seine außerehelichen Vorfahren gewesen, Bergmann, und er war mehr unter der Erde als auf der Erde zu Hause.

Der junge Bursch von fünfundzwanzig Jahren war, solange er sich unter der Erde befand, höflich, friedlich und zufrieden. Aber oben auf der Erdoberfläche, beim Tageslicht besehen, schien Häcksel das Gegenteil zu sein, störrisch, unfreundlich und ungemütlich. Teils war es das Licht und die laute Welt,  die ihn im Gegensatz zur molligen Grabesstille und traulichen Dunkelheit, an die er unter der Erde gewöhnt war, immer wieder von neuem reizten. Aber Licht und Lärm waren es nicht allein, die den stillen harmlosen Burschen in ein widerhaariges Ekel verwandelten. Wenn Häcksel sich‘s klar gemacht hätte, warum er sich oben auf der Erde, außerhalb des Schachtes, verwandelte, so würde er erzählt haben, dass ihm draußen im Leben, außerhalb der Kohlengrube, seine liebsten Unterhalter fehlten, die Bergwerkflöhe, denen er zugetan war, und die neben der Arbeit seine volle Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen.

Die Bergwerkflöhe aber lieben nur die laue Wärme, die im Erdinnern herrscht, und sind nicht zu bewegen, jemals an die Oberfläche zu kommen. Sie begleiten den Bergmann, den sie sich als Nahrungsfeld ausersehen haben, nie ans Licht. Sie springen immer im letzten Augenblick ab, ehe der Förderkorb den Schacht verlässt.

Häcksel hatte sich durch nichts als durch sein süßes Blut bei den Flöhen des Annaschachtes beliebt gemacht. Vielleicht war er deshalb beliebter, weil sein Blut seit Geschlechtern außerehelich, also wild süß, gezeugt worden war.

Wenn keiner einen Floh im Schacht hatte, Häcksel hatte immer einen zur Unterhaltung bereit, und dieses verschaffte ihm manchen wahren Freund im Bergwerk. Denn die Bergleute rechnen in ihrem unterirdischen Dasein die Anregung und Unterhaltung, die ihnen die Bergwerkflöhe bieten, als eine Erhöhung ihrer lahmgelegten Lebenslust.

Wenn irgendwo in einem entlegenen Stollen zur Erhöhung der Geselligkeit ein Floh fehlte, schickten die Leute hin zu Häcksel und erhielten auch schon für einen Schluck kalten Kaffee einen schönen ausgewachsenen Floh von Häcksel geliefert.

Man weiß aber, dass durch fortgesetzte Inzucht auch die lebhaftesten Flöhe allmählich verblöden können, und das geschah, – nachdem aus den Zeiten Flegels, Labemanns und Finsterers, die, solange das Bergwerk bestand, drei Menschengeschlechter hindurch, immer nur untereinander gelebt und sich fortgezeugt hatten, – zur Zeit, da Häcksel fünfundzwanzig Jahre alt wurde und von Schwächezuständen befallen war. Die Bergleute stellten fest, dass die heutigen Flöhe ihres Geschlechtes nicht mehr so hoch springen konnten, dass sie sich auch nicht mehr so lebhaft untereinander angezogen fühlten, nicht mehr dieselben Tänze vollführten, die vorher die halb nackten Bergleute auf Brust und Rücken ihrer Kameraden bewundert hatten. Man konnte ihrem Mutterwitz nicht mehr vertrauen. Sie ließen sich von jeder täppischen Hand fangen. Sie versimpelten so sehr, dass es eine Schande für das ganze Bergwerk war.

Eines Tages, es war im Februar, im Taumonat, der die Erde aufweckt und auch die Triebe der Bergwerkflöhe in der Erde beleben kann, fühlte sich Häcksel, der eben Feierabend machen wollte und seinen Pickel, womit er Kohlen gehackt hatte, an die Flötzmauer stellte, besonders lebhaft hinterm linken Ohr gebissen, so lebhaft, wie seit langem nicht mehr. Häcksel glaubte, es sei Stänker, sein Leibfloh, der frühlingslustig geworden wäre. Aber als der Bergmann mit dem Zeigefinger hinters Ohr fühlte, merkte er, dass ein kleiner, zierlicher, weiblicher Floh dasaß, und er erkannte auch bald, dass es Zinnoberchen war, eine Flöhin, die so genannt wurde, weil sie am rötesten von allen Flohdamen leuchtete, wenn sie sich an Menschenblut satt getrunken hatte und man sie auf der Hand vor das Grubenlicht hielt. Zinnoberchen war so zart, dass das Menschenblut aus ihrem Körper einen rötlichen Schatten neben sie legte, wo sie gerade saß.

Häcksel war über den unerwarteten Besuch ein wenig erstaunt. Denn um die Feierabendstunde, die die Flöhe gut kannten, war meistens jede Unterhaltung zwischen den Bergleuten und ihren lieben Leibtierchen zu Ende. Die kleinen Herrschaften zogen sich jeden Abend unaufgefordert in den Pferdestall des Bergwerks zurück. Dieser Stall lag neben den Kohlenschachten und befand sich ebenso wie diese viele Hundert Fuß unter der Erde. Die alten Gäule, die dort fern vom Tageslicht in der Grube zum Ziehen der Kohlenkarren gehalten wurden, bekamen niemals die Sonne zu sehen und wurden mit der Zeit blind. Im Mähnenhaar der Blinden, auf den Rückenwirbeln und in den Schwanzhaaren übernachteten die Bergwerkflöhe mit Vorliebe. Dorthin eilten sie, wenn die Feierabendstunde nahte.

„Ich dachte, du wärest schon schlafen gegangen,“ sagte Häcksel, als er Zinnoberchen auf seinem Zeigefinger ans Grubenlicht hielt. „Du bist ja ganz abgehärmt, liebes Kind,“  fuhr er in Gedanken lautlos zu reden fort. „Ich weiß, Euch fehlt neues Blut.“ Er nickte und hüstelte.

Der junge Häcksel war nicht stark. Er war schwer lungenleidend. Seine Vorfahren, die da unter der Erde in der weichlichen Luft seit einem Jahrhundert Kohlenstaub schluckten, hatten ihm keine starke Lunge vererben können. Der Bergwerksarzt hatte zu dem schwindsüchtigen Häcksel gesagt, ein schwacher Mann wie er dürfe nicht heiraten, und er dürfe auch keine Frau küssen, da er mit Kuss und Umarmung nur Unheil anstiften könne. Ein Schwindsüchtiger müsse nicht daran denken, Kinder zu zeugen. Durch ihn würden nur armselige kranke Menschen entstehen, die ihm und der Welt zur Last fallen würden.

Häcksel hatte es am Feierabend darum nie so eilig wie seine Kameraden, um hinauf ans Licht der Welt zurückzukehren. Ihm war im Bauch der Erde wohl, wo es in Dunkel und Einsamkeit keine Wünsche gab. Nichts erwartete ihn außerhalb des Bergwerkes als ein Strohsack in seiner Kammer, und es lockte ihn nicht einmal dieser, da das Stroh ein Geheimnis verbarg. Häcksel hatte im Stroh seit Jahren eine alte Geldtasche verborgen. Die war voll alter Silbergulden. Die hatte er in einem blinden Stollen unter der Erde gefunden, in einem Gang des Bergwerks, der nur ihm allein bekannt war, und der im Bergwerksbuch als vor Jahren von einem schlagenden Wetter verschüttet aus dem Bergwerkplan ausgestrichen und nur als blinder Stollen bezeichnet stand.

Häcksel war der Sohn des Finsterer, und der war Bergmann im Annaschacht gewesen. Und Finsterer war der Sohn des Labemann, und der war Bergmann im Annaschacht gewesen. Und Labemann war der Sohn des Flegels, und Flegel war Bergmann im Annaschacht gewesen. Keiner von denen war ehelich geboren. Dieses aber ist der Stammbaum der Geliebten der Mütter jener Bergmänner.

Häcksel war, was alle seine außerehelichen Vorfahren gewesen, Bergmann, und er war mehr unter der Erde als auf der Erde zu Hause.

Der junge Bursch von fünfundzwanzig Jahren war, solange er sich unter der Erde befand, höflich, friedlich und zufrieden. Aber oben auf der Erdoberfläche, beim Tageslicht besehen, schien Häcksel das Gegenteil zu sein, störrisch, unfreundlich und ungemütlich. Teils war es das Licht und die laute Welt,  die ihn im Gegensatz zur molligen Grabesstille und traulichen Dunkelheit, an die er unter der Erde gewöhnt war, immer wieder von neuem reizten. Aber Licht und Lärm waren es nicht allein, die den stillen harmlosen Burschen in ein widerhaariges Ekel verwandelten. Wenn Häcksel sich‘s klar gemacht hätte, warum er sich oben auf der Erde, außerhalb des Schachtes, verwandelte, so würde er erzählt haben, dass ihm draußen im Leben, außerhalb der Kohlengrube, seine liebsten Unterhalter fehlten, die Bergwerkflöhe, denen er zugetan war, und die neben der Arbeit seine volle Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen.

Die Bergwerkflöhe aber lieben nur die laue Wärme, die im Erdinnern herrscht, und sind nicht zu bewegen, jemals an die Oberfläche zu kommen. Sie begleiten den Bergmann, den sie sich als Nahrungsfeld ausersehen haben, nie ans Licht. Sie springen immer im letzten Augenblick ab, ehe der Förderkorb den Schacht verlässt.

Häcksel hatte sich durch nichts als durch sein süßes Blut bei den Flöhen des Annaschachtes beliebt gemacht. Vielleicht war er deshalb beliebter, weil sein Blut seit Geschlechtern außerehelich, also wild süß, gezeugt worden war.

Wenn keiner einen Floh im Schacht hatte, Häcksel hatte immer einen zur Unterhaltung bereit, und dieses verschaffte ihm manchen wahren Freund im Bergwerk. Denn die Bergleute rechnen in ihrem unterirdischen Dasein die Anregung und Unterhaltung, die ihnen die Bergwerkflöhe bieten, als eine Erhöhung ihrer lahmgelegten Lebenslust.

Wenn irgendwo in einem entlegenen Stollen zur Erhöhung der Geselligkeit ein Floh fehlte, schickten die Leute hin zu Häcksel und erhielten auch schon für einen Schluck kalten Kaffee einen schönen ausgewachsenen Floh von Häcksel geliefert.

Man weiß aber, dass durch fortgesetzte Inzucht auch die lebhaftesten Flöhe allmählich verblöden können, und das geschah, – nachdem aus den Zeiten Flegels, Labemanns und Finsterers, die, solange das Bergwerk bestand, drei Menschengeschlechter hindurch, immer nur untereinander gelebt und sich fortgezeugt hatten, – zur Zeit, da Häcksel fünfundzwanzig Jahre alt wurde und von Schwächezuständen befallen war. Die Bergleute stellten fest, dass die heutigen Flöhe ihres Geschlechtes nicht mehr so hoch springen konnten, dass sie sich auch nicht mehr so lebhaft untereinander angezogen fühlten, nicht mehr dieselben Tänze vollführten, die vorher die halb nackten Bergleute auf Brust und Rücken ihrer Kameraden bewundert hatten. Man konnte ihrem Mutterwitz nicht mehr vertrauen. Sie ließen sich von jeder täppischen Hand fangen. Sie versimpelten so sehr, dass es eine Schande für das ganze Bergwerk war.

Eines Tages, es war im Februar, im Taumonat, der die Erde aufweckt und auch die Triebe der Bergwerkflöhe in der Erde beleben kann, fühlte sich Häcksel, der eben Feierabend machen wollte und seinen Pickel, womit er Kohlen gehackt hatte, an die Flötzmauer stellte, besonders lebhaft hinterm linken Ohr gebissen, so lebhaft, wie seit langem nicht mehr. Häcksel glaubte, es sei Stänker, sein Leibfloh, der frühlingslustig geworden wäre. Aber als der Bergmann mit dem Zeigefinger hinters Ohr fühlte, merkte er, dass ein kleiner, zierlicher, weiblicher Floh dasaß, und er erkannte auch bald, dass es Zinnoberchen war, eine Flöhin, die so genannt wurde, weil sie am rötesten von allen Flohdamen leuchtete, wenn sie sich an Menschenblut satt getrunken hatte und man sie auf der Hand vor das Grubenlicht hielt. Zinnoberchen war so zart, dass das Menschenblut aus ihrem Körper einen rötlichen Schatten neben sie legte, wo sie gerade saß.

Häcksel war über den unerwarteten Besuch ein wenig erstaunt. Denn um die Feierabendstunde, die die Flöhe gut kannten, war meistens jede Unterhaltung zwischen den Bergleuten und ihren lieben Leibtierchen zu Ende. Die kleinen Herrschaften zogen sich jeden Abend unaufgefordert in den Pferdestall des Bergwerks zurück. Dieser Stall lag neben den Kohlenschachten und befand sich ebenso wie diese viele Hundert Fuß unter der Erde. Die alten Gäule, die dort fern vom Tageslicht in der Grube zum Ziehen der Kohlenkarren gehalten wurden, bekamen niemals die Sonne zu sehen und wurden mit der Zeit blind. Im Mähnenhaar der Blinden, auf den Rückenwirbeln und in den Schwanzhaaren übernachteten die Bergwerkflöhe mit Vorliebe. Dorthin eilten sie, wenn die Feierabendstunde nahte.

„Ich dachte, du wärest schon schlafen gegangen,“ sagte Häcksel, als er Zinnoberchen auf seinem Zeigefinger ans Grubenlicht hielt. „Du bist ja ganz abgehärmt, liebes Kind,“  fuhr er in Gedanken lautlos zu reden fort. „Ich weiß, Euch fehlt neues Blut.“ Er nickte und hüstelte.

Der junge Häcksel war nicht stark. Er war schwer lungenleidend. Seine Vorfahren, die da unter der Erde in der weichlichen Luft seit einem Jahrhundert Kohlenstaub schluckten, hatten ihm keine starke Lunge vererben können. Der Bergwerksarzt hatte zu dem schwindsüchtigen Häcksel gesagt, ein schwacher Mann wie er dürfe nicht heiraten, und er dürfe auch keine Frau küssen, da er mit Kuss und Umarmung nur Unheil anstiften könne. Ein Schwindsüchtiger müsse nicht daran denken, Kinder zu zeugen. Durch ihn würden nur armselige kranke Menschen entstehen, die ihm und der Welt zur Last fallen würden.

Häcksel hatte es am Feierabend darum nie so eilig wie seine Kameraden, um hinauf ans Licht der Welt zurückzukehren. Ihm war im Bauch der Erde wohl, wo es in Dunkel und Einsamkeit keine Wünsche gab. Nichts erwartete ihn außerhalb des Bergwerkes als ein Strohsack in seiner Kammer, und es lockte ihn nicht einmal dieser, da das Stroh ein Geheimnis verbarg. Häcksel hatte im Stroh seit Jahren eine alte Geldtasche verborgen. Die war voll alter Silbergulden. Die hatte er in einem blinden Stollen unter der Erde gefunden, in einem Gang des Bergwerks, der nur ihm allein bekannt war, und der im Bergwerksbuch als vor Jahren von einem schlagenden Wetter verschüttet aus dem Bergwerkplan ausgestrichen und nur als blinder Stollen bezeichnet stand.

Plötzlich aber fuhr dem Häcksel ein schrecklicher Gedanke durch das rechte Ohr, und fuhr ihm vom Ohr in Hals und Brust, so dass er heftig und schmerzhaft husten musste.

Die Flöhin sprang bei der Erschütterung aus dem Haar fort und rasch hinter Häcksels Ohr, kam aber gleich wieder zurück, unerschrocken, und hing sich wieder fest an das Schläfenhaar und schaukelte weiter.

Der wilde Gedanke schoss aber in Häcksel kreuz und quer und rief:

„Vielleicht ist dir deshalb heute ein Bergwerkfloh zum ersten Mal ans Tageslicht gefolgt, weil es heute in der Grube ein Unglück gibt. Denn man sagt, die Bergwerkflöhe verlassen nur dann die tiefen Stollen, wenn sie schlagende Wetter vorauswittern.“

Dieses wusste Häcksel aus dem Munde seines seligen, außerehelichen Vaters.


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Textgrundlage
: "Häcksel und die Bergwerkflöhe"
Max Dauthendrey,  aus: Geschichten aus den
Vier Winden", Seite 77 - 128.

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