Geschichten
Max Dauthendey
Häcksel
und die Bergwerkflöhe I
Häcksel war der Sohn des
Finsterer, und der war Bergmann im Annaschacht gewesen. Und Finsterer
war der
Sohn des Labemann, und der war Bergmann im Annaschacht gewesen. Und
Labemann
war der Sohn des Flegels, und Flegel war Bergmann im Annaschacht
gewesen.
Keiner von denen war ehelich geboren. Dieses aber ist der Stammbaum der
Geliebten
der Mütter jener Bergmänner.
Häcksel war, was alle
seine außerehelichen Vorfahren gewesen, Bergmann, und er war mehr unter
der
Erde als auf der Erde zu Hause.
Der junge Bursch von
fünfundzwanzig Jahren war, solange er sich unter der Erde befand,
höflich,
friedlich und zufrieden. Aber oben auf der Erdoberfläche, beim
Tageslicht
besehen, schien Häcksel das Gegenteil zu sein, störrisch, unfreundlich
und
ungemütlich. Teils war es das Licht und die laute Welt, die
ihn im Gegensatz zur molligen Grabesstille und traulichen Dunkelheit,
an die er
unter der Erde gewöhnt war, immer wieder von neuem reizten. Aber Licht
und Lärm
waren es nicht allein, die den stillen harmlosen Burschen in ein
widerhaariges
Ekel verwandelten. Wenn Häcksel sich‘s klar gemacht hätte, warum er
sich oben
auf der Erde, außerhalb des Schachtes, verwandelte, so würde er erzählt
haben,
dass ihm draußen im Leben, außerhalb der Kohlengrube, seine liebsten
Unterhalter fehlten, die Bergwerkflöhe, denen er zugetan war, und die
neben der
Arbeit seine volle Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen.
Die Bergwerkflöhe aber
lieben nur die laue Wärme, die im Erdinnern herrscht, und sind nicht zu
bewegen, jemals an die Oberfläche zu kommen. Sie begleiten den
Bergmann, den
sie sich als Nahrungsfeld ausersehen haben, nie ans Licht. Sie springen
immer
im letzten Augenblick ab, ehe der Förderkorb den Schacht verlässt.
Häcksel hatte sich durch
nichts als durch sein süßes Blut bei den Flöhen des Annaschachtes
beliebt
gemacht. Vielleicht war er deshalb beliebter, weil sein Blut seit
Geschlechtern außerehelich,
also wild süß, gezeugt worden war.
Wenn keiner einen Floh im
Schacht hatte, Häcksel hatte immer einen zur Unterhaltung bereit, und
dieses
verschaffte ihm manchen wahren Freund im Bergwerk. Denn die Bergleute
rechnen
in ihrem unterirdischen Dasein die Anregung und Unterhaltung, die ihnen
die
Bergwerkflöhe bieten, als eine Erhöhung ihrer lahmgelegten Lebenslust.
Wenn irgendwo in einem
entlegenen Stollen zur Erhöhung der Geselligkeit ein Floh fehlte,
schickten die
Leute hin zu Häcksel und erhielten auch schon für einen Schluck kalten
Kaffee
einen schönen ausgewachsenen Floh von Häcksel geliefert.
Man weiß aber, dass durch
fortgesetzte Inzucht auch die lebhaftesten Flöhe allmählich verblöden
können,
und das geschah, – nachdem aus den Zeiten Flegels, Labemanns und
Finsterers,
die, solange das Bergwerk bestand, drei Menschengeschlechter hindurch,
immer
nur untereinander gelebt und sich fortgezeugt hatten, – zur Zeit, da
Häcksel
fünfundzwanzig Jahre alt wurde und von Schwächezuständen befallen war.
Die
Bergleute stellten fest, dass die heutigen Flöhe ihres Geschlechtes
nicht mehr
so hoch springen konnten, dass sie sich auch nicht mehr so lebhaft
untereinander angezogen fühlten, nicht mehr dieselben Tänze
vollführten, die
vorher die halb nackten Bergleute auf Brust und Rücken ihrer Kameraden
bewundert hatten. Man konnte ihrem Mutterwitz nicht mehr vertrauen. Sie
ließen
sich von jeder täppischen Hand fangen. Sie versimpelten so sehr, dass
es eine
Schande für das ganze Bergwerk war.
Eines Tages, es war im
Februar, im Taumonat, der die Erde aufweckt und auch die Triebe der
Bergwerkflöhe in der Erde beleben kann, fühlte sich Häcksel, der eben
Feierabend machen wollte und seinen Pickel, womit er Kohlen gehackt
hatte, an
die Flötzmauer stellte, besonders lebhaft hinterm linken Ohr gebissen,
so
lebhaft, wie seit langem nicht mehr. Häcksel glaubte, es sei Stänker,
sein
Leibfloh, der frühlingslustig geworden wäre. Aber als der Bergmann mit
dem
Zeigefinger hinters Ohr fühlte, merkte er, dass ein kleiner,
zierlicher,
weiblicher Floh dasaß, und er erkannte auch bald, dass es Zinnoberchen
war,
eine Flöhin, die so genannt wurde, weil sie am rötesten von allen
Flohdamen
leuchtete, wenn sie sich an Menschenblut satt getrunken hatte
und man sie auf der Hand vor das Grubenlicht hielt. Zinnoberchen war so
zart,
dass das Menschenblut aus ihrem Körper einen rötlichen Schatten neben
sie
legte, wo sie gerade saß.
Häcksel war über den
unerwarteten Besuch ein wenig erstaunt. Denn um die Feierabendstunde,
die die
Flöhe gut kannten, war meistens jede Unterhaltung zwischen den
Bergleuten und
ihren lieben Leibtierchen zu Ende. Die kleinen Herrschaften zogen sich
jeden Abend
unaufgefordert in den Pferdestall des Bergwerks zurück. Dieser Stall
lag neben
den Kohlenschachten und befand sich ebenso wie diese viele Hundert Fuß
unter
der Erde. Die alten Gäule, die dort fern vom Tageslicht in der Grube
zum Ziehen
der Kohlenkarren gehalten wurden, bekamen niemals die Sonne zu sehen
und wurden
mit der Zeit blind. Im Mähnenhaar der Blinden, auf den Rückenwirbeln
und in den
Schwanzhaaren übernachteten die Bergwerkflöhe mit Vorliebe. Dorthin
eilten sie,
wenn die Feierabendstunde nahte.
„Ich dachte, du wärest
schon schlafen gegangen,“ sagte Häcksel, als er Zinnoberchen auf seinem
Zeigefinger ans Grubenlicht hielt. „Du bist ja ganz abgehärmt, liebes
Kind,“ fuhr
er in Gedanken lautlos zu reden fort. „Ich weiß, Euch fehlt neues
Blut.“ Er
nickte und hüstelte.
Der junge Häcksel war
nicht stark. Er war schwer lungenleidend. Seine Vorfahren, die da unter
der
Erde in der weichlichen Luft seit einem Jahrhundert Kohlenstaub
schluckten,
hatten ihm keine starke Lunge vererben können. Der Bergwerksarzt hatte
zu dem
schwindsüchtigen Häcksel gesagt, ein schwacher Mann wie er dürfe nicht
heiraten, und er dürfe auch keine Frau küssen, da er mit Kuss und
Umarmung nur
Unheil anstiften könne. Ein Schwindsüchtiger müsse nicht daran denken,
Kinder
zu zeugen. Durch ihn würden nur armselige kranke Menschen entstehen,
die ihm
und der Welt zur Last fallen würden.
Häcksel
hatte es am
Feierabend darum nie so eilig wie seine Kameraden, um hinauf ans Licht
der Welt
zurückzukehren. Ihm war im Bauch der Erde wohl, wo es in Dunkel und
Einsamkeit
keine Wünsche gab. Nichts erwartete ihn außerhalb des Bergwerkes als
ein
Strohsack in seiner Kammer, und es lockte ihn nicht einmal dieser, da
das Stroh
ein Geheimnis verbarg. Häcksel hatte im Stroh seit Jahren
eine alte Geldtasche verborgen. Die war voll alter Silbergulden. Die
hatte er
in einem blinden Stollen unter der Erde gefunden, in einem Gang des
Bergwerks,
der nur ihm allein bekannt war, und der im Bergwerksbuch als vor Jahren
von
einem schlagenden Wetter verschüttet aus dem Bergwerkplan ausgestrichen
und nur
als blinder Stollen bezeichnet stand.
Häcksel war der Sohn des
Finsterer, und der war Bergmann im Annaschacht gewesen. Und Finsterer
war der
Sohn des Labemann, und der war Bergmann im Annaschacht gewesen. Und
Labemann
war der Sohn des Flegels, und Flegel war Bergmann im Annaschacht
gewesen.
Keiner von denen war ehelich geboren. Dieses aber ist der Stammbaum der
Geliebten
der Mütter jener Bergmänner.
Häcksel war, was alle
seine außerehelichen Vorfahren gewesen, Bergmann, und er war mehr unter
der
Erde als auf der Erde zu Hause.
Der junge Bursch von
fünfundzwanzig Jahren war, solange er sich unter der Erde befand,
höflich,
friedlich und zufrieden. Aber oben auf der Erdoberfläche, beim
Tageslicht
besehen, schien Häcksel das Gegenteil zu sein, störrisch, unfreundlich
und
ungemütlich. Teils war es das Licht und die laute Welt, die
ihn im Gegensatz zur molligen Grabesstille und traulichen Dunkelheit,
an die er
unter der Erde gewöhnt war, immer wieder von neuem reizten. Aber Licht
und Lärm
waren es nicht allein, die den stillen harmlosen Burschen in ein
widerhaariges
Ekel verwandelten. Wenn Häcksel sich‘s klar gemacht hätte, warum er
sich oben
auf der Erde, außerhalb des Schachtes, verwandelte, so würde er erzählt
haben,
dass ihm draußen im Leben, außerhalb der Kohlengrube, seine liebsten
Unterhalter fehlten, die Bergwerkflöhe, denen er zugetan war, und die
neben der
Arbeit seine volle Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen.
Die Bergwerkflöhe aber
lieben nur die laue Wärme, die im Erdinnern herrscht, und sind nicht zu
bewegen, jemals an die Oberfläche zu kommen. Sie begleiten den
Bergmann, den
sie sich als Nahrungsfeld ausersehen haben, nie ans Licht. Sie springen
immer
im letzten Augenblick ab, ehe der Förderkorb den Schacht verlässt.
Häcksel hatte sich durch
nichts als durch sein süßes Blut bei den Flöhen des Annaschachtes
beliebt
gemacht. Vielleicht war er deshalb beliebter, weil sein Blut seit
Geschlechtern außerehelich,
also wild süß, gezeugt worden war.
Wenn keiner einen Floh im
Schacht hatte, Häcksel hatte immer einen zur Unterhaltung bereit, und
dieses
verschaffte ihm manchen wahren Freund im Bergwerk. Denn die Bergleute
rechnen
in ihrem unterirdischen Dasein die Anregung und Unterhaltung, die ihnen
die
Bergwerkflöhe bieten, als eine Erhöhung ihrer lahmgelegten Lebenslust.
Wenn irgendwo in einem
entlegenen Stollen zur Erhöhung der Geselligkeit ein Floh fehlte,
schickten die
Leute hin zu Häcksel und erhielten auch schon für einen Schluck kalten
Kaffee
einen schönen ausgewachsenen Floh von Häcksel geliefert.
Man weiß aber, dass durch
fortgesetzte Inzucht auch die lebhaftesten Flöhe allmählich verblöden
können,
und das geschah, – nachdem aus den Zeiten Flegels, Labemanns und
Finsterers,
die, solange das Bergwerk bestand, drei Menschengeschlechter hindurch,
immer
nur untereinander gelebt und sich fortgezeugt hatten, – zur Zeit, da
Häcksel
fünfundzwanzig Jahre alt wurde und von Schwächezuständen befallen war.
Die
Bergleute stellten fest, dass die heutigen Flöhe ihres Geschlechtes
nicht mehr
so hoch springen konnten, dass sie sich auch nicht mehr so lebhaft
untereinander angezogen fühlten, nicht mehr dieselben Tänze
vollführten, die
vorher die halb nackten Bergleute auf Brust und Rücken ihrer Kameraden
bewundert hatten. Man konnte ihrem Mutterwitz nicht mehr vertrauen. Sie
ließen
sich von jeder täppischen Hand fangen. Sie versimpelten so sehr, dass
es eine
Schande für das ganze Bergwerk war.
Eines Tages, es war im
Februar, im Taumonat, der die Erde aufweckt und auch die Triebe der
Bergwerkflöhe in der Erde beleben kann, fühlte sich Häcksel, der eben
Feierabend machen wollte und seinen Pickel, womit er Kohlen gehackt
hatte, an
die Flötzmauer stellte, besonders lebhaft hinterm linken Ohr gebissen,
so
lebhaft, wie seit langem nicht mehr. Häcksel glaubte, es sei Stänker,
sein
Leibfloh, der frühlingslustig geworden wäre. Aber als der Bergmann mit
dem
Zeigefinger hinters Ohr fühlte, merkte er, dass ein kleiner,
zierlicher,
weiblicher Floh dasaß, und er erkannte auch bald, dass es Zinnoberchen
war,
eine Flöhin, die so genannt wurde, weil sie am rötesten von allen
Flohdamen
leuchtete, wenn sie sich an Menschenblut satt getrunken hatte
und man sie auf der Hand vor das Grubenlicht hielt. Zinnoberchen war so
zart,
dass das Menschenblut aus ihrem Körper einen rötlichen Schatten neben
sie
legte, wo sie gerade saß.
Häcksel war über den
unerwarteten Besuch ein wenig erstaunt. Denn um die Feierabendstunde,
die die
Flöhe gut kannten, war meistens jede Unterhaltung zwischen den
Bergleuten und
ihren lieben Leibtierchen zu Ende. Die kleinen Herrschaften zogen sich
jeden Abend
unaufgefordert in den Pferdestall des Bergwerks zurück. Dieser Stall
lag neben
den Kohlenschachten und befand sich ebenso wie diese viele Hundert Fuß
unter
der Erde. Die alten Gäule, die dort fern vom Tageslicht in der Grube
zum Ziehen
der Kohlenkarren gehalten wurden, bekamen niemals die Sonne zu sehen
und wurden
mit der Zeit blind. Im Mähnenhaar der Blinden, auf den Rückenwirbeln
und in den
Schwanzhaaren übernachteten die Bergwerkflöhe mit Vorliebe. Dorthin
eilten sie,
wenn die Feierabendstunde nahte.
„Ich dachte, du wärest
schon schlafen gegangen,“ sagte Häcksel, als er Zinnoberchen auf seinem
Zeigefinger ans Grubenlicht hielt. „Du bist ja ganz abgehärmt, liebes
Kind,“ fuhr
er in Gedanken lautlos zu reden fort. „Ich weiß, Euch fehlt neues
Blut.“ Er
nickte und hüstelte.
Der junge Häcksel war
nicht stark. Er war schwer lungenleidend. Seine Vorfahren, die da unter
der
Erde in der weichlichen Luft seit einem Jahrhundert Kohlenstaub
schluckten,
hatten ihm keine starke Lunge vererben können. Der Bergwerksarzt hatte
zu dem
schwindsüchtigen Häcksel gesagt, ein schwacher Mann wie er dürfe nicht
heiraten, und er dürfe auch keine Frau küssen, da er mit Kuss und
Umarmung nur
Unheil anstiften könne. Ein Schwindsüchtiger müsse nicht daran denken,
Kinder
zu zeugen. Durch ihn würden nur armselige kranke Menschen entstehen,
die ihm
und der Welt zur Last fallen würden.
Häcksel
hatte es am
Feierabend darum nie so eilig wie seine Kameraden, um hinauf ans Licht
der Welt
zurückzukehren. Ihm war im Bauch der Erde wohl, wo es in Dunkel und
Einsamkeit
keine Wünsche gab. Nichts erwartete ihn außerhalb des Bergwerkes als
ein
Strohsack in seiner Kammer, und es lockte ihn nicht einmal dieser, da
das Stroh
ein Geheimnis verbarg. Häcksel hatte im Stroh seit Jahren
eine alte Geldtasche verborgen. Die war voll alter Silbergulden. Die
hatte er
in einem blinden Stollen unter der Erde gefunden, in einem Gang des
Bergwerks,
der nur ihm allein bekannt war, und der im Bergwerksbuch als vor Jahren
von
einem schlagenden Wetter verschüttet aus dem Bergwerkplan ausgestrichen
und nur
als blinder Stollen bezeichnet stand.
Plötzlich aber fuhr dem
Häcksel ein schrecklicher Gedanke durch das rechte Ohr, und fuhr ihm
vom Ohr in
Hals und Brust, so dass er heftig und schmerzhaft husten musste.
Die Flöhin sprang bei der
Erschütterung aus dem Haar fort und rasch hinter Häcksels Ohr, kam aber
gleich
wieder zurück, unerschrocken, und hing sich wieder fest an das
Schläfenhaar und
schaukelte weiter.
Der wilde Gedanke schoss
aber in Häcksel kreuz und quer und rief:
„Vielleicht ist dir
deshalb heute ein Bergwerkfloh zum ersten Mal ans Tageslicht gefolgt,
weil es
heute in der Grube ein Unglück gibt. Denn man sagt, die Bergwerkflöhe
verlassen
nur dann die tiefen Stollen, wenn sie schlagende Wetter vorauswittern.“
Dieses
wusste Häcksel aus
dem Munde seines seligen, außerehelichen Vaters.
oben
weiter
_________________________
Textgrundlage: "Häcksel und die Bergwerkflöhe"
Max Dauthendrey, aus: Geschichten aus
den
Vier Winden", Seite 77 - 128.
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Urheber: Biodedek,
2010,
Lizenz: GNU-Lizenz
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