Geschichten
Max Dauthendey
Einige Gäste erhoben sich
und verabschiedeten sich von der in Trauer gekleideten Hausfrau und vom
Hausherrn, der die Abschiednehmenden durch die Diele zum Vorzimmer
begleitete.
Ein Herr und ich waren
allein die Letzten in dem großen Bibliothekszimmer, wo wir nach dem
Abendessen,
zu dem wir geladen gewesen, alle um einen runden Mahagonitisch beim
Licht einer
grünverschleierten elektrischen Hängelampe plaudernd gesessen hatten.
Ich hatte mich an diesem
Abend nicht viel am Gespräch beteiligen können. Die weit geöffneten
Türen in
die erleuchteten Nebenräume, in das Musikzimmer, in den Speisesaal und
in das
Teezimmer, in denen überall sanftes Licht und eine unendliche Ruhe sich
ausbreiteten, hatten meine Gedanken immer weiter von mir fortgezogen,
und es
war mir, als stünde mein Stuhl nicht im eines vornehmen Landhauses
draußen im
Waldhäuserviertel am Rande einer Weltstadt, sondern am Rande eines
Weltteils
stand ich und sah auf ein Weltmeer, auf einen grauen Ozean, dessen
Wasserlinie
in der Ferne zu Himmelswolken wurde, zu Nebelbrodem; und nur in weiten
Abständen warf manches Mal eine lang gezogene Strandwelle eine weiße
Sprühschaumwolke in die Luft. Nur diese eine große Wellenzuckung zeigte
Leben
auf jenem Wasserweltteil. Sonst waren Himmel und Wasserfläche atemlos
ausgebreitet und verschwanden weit draußen im Nichts der Unendlichkeit.
Vor mir aber, ganz nahe
am
Wasserrand im Dünensande, lebte das rassige Gliederspiel zweier
vorüberschreitender Reitpferde, die von zwei Menschen geritten wurden,
die ich
aber nicht näher beachtete, weil vorerst nur die beiden Pferde und das
einheitliche ungeheuerliche Weltallleben von Meer und Himmel meine
Aufmerksamkeit anzogen.
Der Glanz von den Flanken
der spiegelglatten Tiere und hie und da der Glanz im Meer, der von den
weithin
streichenden Linienwellen angeregt auf- und abzuckte, machten Pferde
und Reiter
wie zu Spiegelgebilden, zu
Schattentänzern vor dem weiten Luft- und Wasserraum.
Es war ein hoheitsvolles
Schreiten in den Beinen und Fesseln der spielend und tänzelnd
auftretenden
Pferdegestalten. Es war wie ein Musizieren in der Luft, ein gaukelndes
Tönespiel in der adligen Beweglichkeit der Tiere, als müssten das Meer
und der
Himmel zu einem riesigen Instrument werden, auf dem Melodien geboren
wurden
beim rhythmischen Vorwärtsschreiten beider Reitpferde.
Es kam mir nicht zum
Bewusstsein, dass der lautlose Dünensand alle Geräusche verschlucken
könnte.
Auch der Sand, schien mir, wurde zu rieselnden Tönen unter der
Berührung der
zierlichen und rassigen Glieder der Pferde.
Das Weltall um die
Reitenden tönte bald gedämpft jauchzend auf, bald klang es schneidend
weh zu
mir her wie die Geräusche der langen schneidenden Linien der flachen
Strandwellen.
Dieses Bild, das ich so
lebendig sah, das Bild der zwei Reiter am Meer, hing im nächsten
Zimmer, im
Musiksaal, in goldenem Rahmen über dem Flügel. Ich konnte es vom
Bibliothekszimmer
aus nicht mehr sehen, aber das Bild kam immer wieder zu mir.
Der
Hausherr hatte mich, als wir nach dem Abendessen aus dem Speisesaal
kamen, auf
das Bild, das ihm das Lieblingsgemälde seines Hauses war, aufmerksam
gemacht.
Und ich hatte mich einen Augenblick auf eine Sessellehne gestützt und
hatte
meinen Körper am Sessel verlassen und war mit meinem Geist durch den
Rahmen des
Bildes aus dem Haus, aus dem Land weit fort gegangen und an den
Meerrand
getreten. Als wir dann später im Bibliothekszimmer um den runden Tisch
saßen,
war es, wie ich es eben beschrieb. Das Bild kam immer wieder zu mir. Es
hob die
Wände der Zimmer fort. Die Ruhe der beleuchteten Nebensäle wurde zur
Ruhe des
Weltmeeres, das gedämpfte Licht in den Räumen zur Ruhe des
Himmelslichtes über
den Urwassern.
So wusste ich, als ich
mechanisch aufgestanden war und der Hausherr mit einigen Gästen das
Zimmer
verließ, bald nicht mehr, was Wirklichkeit und was Unwirklichkeit war.
Es stand eine weite
gedämpfte Festlichkeit um mich, von der ich mich halb nicht trennen
konnte, und
halb wieder getrennt fühlte, da diese Festlichkeit nicht mir gehörte.
Denn es
war die Festlichkeit der Schmerz und Freude ausgleichenden Todesstunde,
die aus
den Zimmern
dieses Hauses noch nicht gewichen war, die den Alltagsräumen eine
höhere
Verklärung hatte geben können, als es sonst hier laute Feste vermocht
hatten.
Ich war in demselben
Hause
vor Jahren zu einem großen Abendfest gewesen, aber die erlesen
geschmückten
Frauen und geistesgewandten Männer hatten bei Tanzschritten, Witz und
Fröhlichkeit, bei Wein und Musik keine ähnliche Größe der Festlichkeit
schaffen
können, keine ähnliche Erhöhung des Hauses, wie es jetzt ein einziger
Mensch
getan, ein junger Mensch, der einzige Sohn, der durch seinen
Todesschritt das
Haus an den Rand der Unendlichkeit gestellt hatte. Wie diesem war es
nur dem
Künstler gelungen, das Haus fortzuheben, ihm, der jenes Gemälde
geschaffen, das
nicht bloß über dem Flügel im Nebenzimmer hing, sondern das die Kraft
hatte,
Haus und Beschauer an das Erdende zu entrücken, dorthin, wo das Reich
der
fliehenden Wasser, das menschenleere Reich der Ozeane beginnt, darauf
der
Mensch nur zeitweiliger Gast sein, aber nicht Fuß fassen kann, wo ihn
Tiefe und
Weite verschlängen, wenn er die Grenze von der Wirklichkeit zum Nichts
überschreiten würde.
Ich
stand noch unschlüssig, überlegend, ob ich den Gästen, die gegangen
waren,
folgen sollte, oder ob ich noch bei der Todesfestlichkeit, die in
diesen Räumen
lag und mich anzog, verweilen durfte.
Der Gestorbene war ein
junger Musiker gewesen. Drüben am Flügel hatten Mutter und Sohn oft
Stunden
verbracht, wenn sie sang, was der junge Mann erdacht; wenn er ihr
vorspielte,
was die Stimme seiner Jünglingsgefühle, seines Jünglingsernstes und
seiner
Jünglingseinsamkeit auftönen lassen musste.
Damals waren beider
Herzen, das der Mutter und das des Sohnes, wie die zwei Reiter am Meer
gewesen,
deren Pferde im gleichen Takt schritten, und die melodisch vor der
Unendlichkeit des Himmels und des Meeres, vor der Zukunft und vor der
Vergangenheit hinzogen.
Nun war die Einheit
zerrissen. Die zarte und zierliche, tief getroffene Mutter stand noch
fassungslos vor dem unfassbaren Schmerz. Die Melodie der Einheit war
abgebrochen. Das Leben gab keinen Klang mehr als den des Schluchzens.
Schluchzen noch nachts in den Träumen, Schluchzen morgens beim
Erwachen, Schluchzen
am Tage beim Schreiten durch die lautlosen Räume des Hauses und durch
den noch
lautloseren Raum des eigenen Herzens.
In den letzten
Sommertagen
war der junge Mann noch Leben und Lebenslust gewesen. Dann war er
erkrankt.
Seine Lunge fieberte. Die Sprache, seine Stimme, starb zuerst. Dann
entglitt
der Blick, die Augen erlöschten, und der warme Körper, den die Mutter
umschlang, entfremdete sich selbst dem Mutterherzen und verschwand in
der Kälte
des Todes.
Nun waren Monate
vergangen. Niemals mehr hatte die Mutter den Flügel im Musikzimmer
öffnen
können. Sie hatte den Sohn immer noch begraben müssen, den Gestorbenen
immer
wieder begraben.
Sie hatte noch nicht die
Kraft gehabt, den Sohn
verklärt vor
sich auferstehen zu lassen. Aber alles Abschiednehmen muss von einem
Wiederkommen
abgelöst werden. Auf die Trennung, die das Sterben bringt, folgt die
Wiederkehr, die Stunde der Auferstehung. Das Leben lässt sich nicht bis
ins
Unendliche begraben, auch das tote Leben nicht. Auch im Tod ist ein
Wellenschlag. Das Land hat seine Berge und Hügel, das Meer seine Wellen
und
Wogen, der Himmel seine Wolken und seine Glätte. Und auch das
vergangene Leben
hat sein Gehen und Wiederkehren.
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Geschichte: "Zwei 'Reiter am Meer" Max Dauthendrey,
aus: Geschichten aus
den Vier Winden",
Seite 129-142.
wikimedia
Logo 180: "Zwei Reiter am Meer", Max Liebermann,
Entstehung nach
1900, Aufbewahrungsort Bremen, Kusthalle,
Kupferstichkabinett -
gemeinfrei
zeno.org
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