lifedays-seite

moment in time

 
 
Literatur


04.3



Geschichten

Max Dauthendey



 Zwei Reiter am Meer I


Einige Gäste erhoben sich und verabschiedeten sich von der in Trauer gekleideten Hausfrau und vom Hausherrn, der die Abschiednehmenden durch die Diele zum Vorzimmer begleitete.

Ein Herr und ich waren allein die Letzten in dem großen Bibliothekszimmer, wo wir nach dem Abendessen, zu dem wir geladen gewesen, alle um einen runden Mahagonitisch beim Licht einer grünverschleierten elektrischen Hängelampe plaudernd gesessen hatten.

Ich hatte mich an diesem Abend nicht viel am Gespräch beteiligen können. Die weit geöffneten Türen in die erleuchteten Nebenräume, in das Musikzimmer, in den Speisesaal und in das Teezimmer, in denen überall sanftes Licht und eine unendliche Ruhe sich ausbreiteten, hatten meine Gedanken immer weiter von mir fortgezogen, und es war mir, als stünde mein Stuhl nicht im eines vornehmen Landhauses draußen im Waldhäuserviertel am Rande einer Weltstadt, sondern am Rande eines Weltteils stand ich und sah auf ein Weltmeer, auf einen grauen Ozean, dessen Wasserlinie in der Ferne zu Himmelswolken wurde, zu Nebelbrodem; und nur in weiten Abständen warf manches Mal eine lang gezogene Strandwelle eine weiße Sprühschaumwolke in die Luft. Nur diese eine große Wellenzuckung zeigte Leben auf jenem Wasserweltteil. Sonst waren Himmel und Wasserfläche atemlos ausgebreitet und verschwanden weit draußen im Nichts der Unendlichkeit.

Vor mir aber, ganz nahe am Wasserrand im Dünensande, lebte das rassige Gliederspiel zweier vorüberschreitender Reitpferde, die von zwei Menschen geritten wurden, die ich aber nicht näher beachtete, weil vorerst nur die beiden Pferde und das einheitliche ungeheuerliche Weltallleben von Meer und Himmel meine Aufmerksamkeit anzogen.

Der Glanz von den Flanken der spiegelglatten Tiere und hie und da der Glanz im Meer, der von den weithin streichenden Linienwellen angeregt auf- und abzuckte, machten Pferde und Reiter wie zu Spiegelgebilden,  zu Schattentänzern vor dem weiten Luft- und Wasserraum.

Es war ein hoheitsvolles Schreiten in den Beinen und Fesseln der spielend und tänzelnd auftretenden Pferdegestalten. Es war wie ein Musizieren in der Luft, ein gaukelndes Tönespiel in der adligen Beweglichkeit der Tiere, als müssten das Meer und der Himmel zu einem riesigen Instrument werden, auf dem Melodien geboren wurden beim rhythmischen Vorwärtsschreiten beider Reitpferde.

Es kam mir nicht zum Bewusstsein, dass der lautlose Dünensand alle Geräusche verschlucken könnte. Auch der Sand, schien mir, wurde zu rieselnden Tönen unter der Berührung der zierlichen und rassigen Glieder der Pferde.

Das Weltall um die Reitenden tönte bald gedämpft jauchzend auf, bald klang es schneidend weh zu mir her wie die Geräusche der langen schneidenden Linien der flachen Strandwellen.

Dieses Bild, das ich so lebendig sah, das Bild der zwei Reiter am Meer, hing im nächsten Zimmer, im Musiksaal, in goldenem Rahmen über dem Flügel. Ich konnte es vom Bibliothekszimmer aus nicht mehr sehen, aber das Bild kam immer wieder zu mir.

Der Hausherr hatte mich, als wir nach dem Abendessen aus dem Speisesaal kamen, auf das Bild, das ihm das Lieblingsgemälde seines Hauses war, aufmerksam gemacht. Und ich hatte mich einen Augenblick auf eine Sessellehne gestützt und hatte meinen Körper am Sessel verlassen und war mit meinem Geist durch den Rahmen des Bildes aus dem Haus, aus dem Land weit fort gegangen und an den Meerrand getreten. Als wir dann später im Bibliothekszimmer um den runden Tisch saßen, war es, wie ich es eben beschrieb. Das Bild kam immer wieder zu mir. Es hob die Wände der Zimmer fort. Die Ruhe der beleuchteten Nebensäle wurde zur Ruhe des Weltmeeres, das gedämpfte Licht in den Räumen zur Ruhe des Himmelslichtes über den Urwassern.

So wusste ich, als ich mechanisch aufgestanden war und der Hausherr mit einigen Gästen das Zimmer verließ, bald nicht mehr, was Wirklichkeit und was Unwirklichkeit war.

Es stand eine weite gedämpfte Festlichkeit um mich, von der ich mich halb nicht trennen konnte, und halb wieder getrennt fühlte, da diese Festlichkeit nicht mir gehörte. Denn es war die Festlichkeit der Schmerz und Freude ausgleichenden Todesstunde, die aus den Zimmern dieses Hauses noch nicht gewichen war, die den Alltagsräumen eine höhere Verklärung hatte geben können, als es sonst hier laute Feste vermocht hatten.

Ich war in demselben Hause vor Jahren zu einem großen Abendfest gewesen, aber die erlesen geschmückten Frauen und geistesgewandten Männer hatten bei Tanzschritten, Witz und Fröhlichkeit, bei Wein und Musik keine ähnliche Größe der Festlichkeit schaffen können, keine ähnliche Erhöhung des Hauses, wie es jetzt ein einziger Mensch getan, ein junger Mensch, der einzige Sohn, der durch seinen Todesschritt das Haus an den Rand der Unendlichkeit gestellt hatte. Wie diesem war es nur dem Künstler gelungen, das Haus fortzuheben, ihm, der jenes Gemälde geschaffen, das nicht bloß über dem Flügel im Nebenzimmer hing, sondern das die Kraft hatte, Haus und Beschauer an das Erdende zu entrücken, dorthin, wo das Reich der fliehenden Wasser, das menschenleere Reich der Ozeane beginnt, darauf der Mensch nur zeitweiliger Gast sein, aber nicht Fuß fassen kann, wo ihn Tiefe und Weite verschlängen, wenn er die Grenze von der Wirklichkeit zum Nichts überschreiten würde.

Ich stand noch unschlüssig, überlegend, ob ich den Gästen, die gegangen waren, folgen sollte, oder ob ich noch bei der Todesfestlichkeit, die in diesen Räumen lag und mich anzog, verweilen durfte.
Der Gestorbene war ein junger Musiker gewesen. Drüben am Flügel hatten Mutter und Sohn oft Stunden verbracht, wenn sie sang, was der junge Mann erdacht; wenn er ihr vorspielte, was die Stimme seiner Jünglingsgefühle, seines Jünglingsernstes und seiner Jünglingseinsamkeit auftönen lassen musste.

Damals waren beider Herzen, das der Mutter und das des Sohnes, wie die zwei Reiter am Meer gewesen, deren Pferde im gleichen Takt schritten, und die melodisch vor der Unendlichkeit des Himmels und des Meeres, vor der Zukunft und vor der Vergangenheit hinzogen.

Nun war die Einheit zerrissen. Die zarte und zierliche, tief getroffene Mutter stand noch fassungslos vor dem unfassbaren Schmerz. Die Melodie der Einheit war abgebrochen. Das Leben gab keinen Klang mehr als den des Schluchzens. Schluchzen noch nachts in den Träumen, Schluchzen morgens beim Erwachen,  Schluchzen am Tage beim Schreiten durch die lautlosen Räume des Hauses und durch den noch lautloseren Raum des eigenen Herzens.

In den letzten Sommertagen war der junge Mann noch Leben und Lebenslust gewesen. Dann war er erkrankt. Seine Lunge fieberte. Die Sprache, seine Stimme, starb zuerst. Dann entglitt der Blick, die Augen erlöschten, und der warme Körper, den die Mutter umschlang, entfremdete sich selbst dem Mutterherzen und verschwand in der Kälte des Todes.

Nun waren Monate vergangen. Niemals mehr hatte die Mutter den Flügel im Musikzimmer öffnen können. Sie hatte den Sohn immer noch begraben müssen, den Gestorbenen immer wieder begraben.

Sie hatte noch nicht die Kraft gehabt, den Sohn verklärt vor sich auferstehen zu lassen. Aber alles Abschiednehmen muss von einem Wiederkommen abgelöst werden. Auf die Trennung, die das Sterben bringt, folgt die Wiederkehr, die Stunde der Auferstehung. Das Leben lässt sich nicht bis ins Unendliche begraben, auch das tote Leben nicht. Auch im Tod ist ein Wellenschlag. Das Land hat seine Berge und Hügel, das Meer seine Wellen und Wogen, der Himmel seine Wolken und seine Glätte. Und auch das vergangene Leben hat sein Gehen und Wiederkehren.


oben

weiter





_____________________________

Geschichte: "Zwei 'Reiter am Meer" Max Dauthendrey,
aus: Geschichten aus den Vier Winden",
Seite 129-142.

wikimedia

Logo 180
: "Zwei Reiter am Meer", Max Liebermann,
Entstehung nach 1900, Aufbewahrungsort Bremen, Kusthalle,
Kupferstichkabinett - gemeinfrei

zeno.org

  lifedays-seite - moment in time