Geschichten
Max Dauthendey
Auf dem Weg zu den Eulenkäfigen I
Ich habe manchmal darüber
nachgedacht, wenn ich
Frau
Claudia nach Jahren in dieser oder jener Weltstadt wiedersah, womit
sich ihre
Augen vergleichen ließen. Es machte mich oft in ihrer Nähe unruhig,
dass ich
keinen Maßstab für ihre Augen fand, und wenn ich aus der Ferne, bei
Gesprächen
oder in Gedanken, das Bild Claudias vor mich hinstellte, stotterte
meine
Vorstellung, möchte ich sagen, und brachte niemals einen Vergleich
zustande,
eine Beschreibung jener Frauenaugen.
Sie sind schwarz, aber
man kann sie nicht einfach
schwarz
nennen, denn sie sind nicht schwarz, wenn sie einen treffen. Sie sind
von einer
Dunkelheit, die ist über Schwarz hinaus, eine abgründigere Farbe,
vielleicht
müsste man diese Augen Saturnschwarz nennen.
Einmal habe ich von
Claudia, welche die Frau
eines meiner
Freunde ist, und mit der mich nur rein freundschaftliche Beziehungen
verbinden,
ein wenig ehebrecherisch geträumt.
Es war ein ziemlich
harmloser Ehebruchstraum. Da
ich gar
nicht für Vielweiberei veranlagt bin, erstaunte mich der Traum, und ich
musste
am Morgen ein kleines Gedicht darüber schreiben. Das Gedicht schilderte
ein
paar Tanzschritte, die ich im Traum mit Claudia tanzte. Sie war vom
Hals bis
zum Fuß in einen weißen Seidenschal schlank eingewickelt, und wir
hielten uns
zum Tanz nah, und dabei sahen Claudias Augen, jene unbeschreibbaren
Augen,
unerbittlich in mich hinein. Ich fand auch in jenem Gedicht wieder
keinen
zutreffenden Vergleich für diesen Blick, sondern nur den ganz blöden
romanhaften, dass Claudias Auge ähnlich einer Messerklinge war, die auf
schwarzem Samt liegt.
Dieser Vergleich mag mir
deshalb gekommen sein,
weil
Claudia einmal in einer zornigen Aufwallung ein spitzes Messer nach
ihrem
leichtlebigen Gatten geschleudert hatte. Dieses Messer sauste damals,
ich weiß
nicht, ob ich sagen soll zum Glück oder zum Unglück, an dem sich behend
Duckenden vorbei, blieb aber senkrecht wie ein Stahlpfeil im Türbrett
stecken,
wo es noch eine lange Weile zitterte.
Nur deshalb verzieh ich
mir in dem Gedicht jenen
romantischen Vergleich. Aber jetzt
brauche ich mich überhaupt nicht mehr abzumühen, mir die Augen Claudias
zu
erklären. Sie selbst hat es neulich getan.
Es war im Winter, ich
hatte mich mit einigen
Freunden und
Freundinnen, unter denen auch Claudia war, verabredet, mich mit ihnen
am
Eingang des Zoologischen Gartens zu treffen. Ich kam etwas verspätet
aus einer Kunstausstellung
und dachte, dass alle Freunde schon gekommen wären. Durch die großen
Scheiben
des Auto blickte ich unruhig der Fahrt voraus, um schnell zu wissen, ob
ich
wirklich der letzte sei, denn die Verspätung ärgerte mich. Meine Uhr
aber
schien falsch zu gehen. Ich war noch zu zeitig da, sogar einer der
ersten, denn
nur Claudia wartete schon vor dem Eingang. Ich sah sie dort im
schwarzen
Samtmantel mit schwarzem Skunksschal, schwarzer Samtkappe mit schwarzem
Reiher,
schwarz auf dem hellen kahlen Asphaltpflaster im kahlen
Januarnachmittag stehen
und sich nach meinem vorfahrenden Auto umsehen.
Aber es ist nicht
richtig, wenn ich sage, dass
ich all
dieses Schwarz, in dem Frau Claudia jetzt immer mit Vorliebe auf der
Straße
erschien, zuerst gesehen hätte. Ich sah zuerst nur jene schwarzen
Augen,
nachdem mich ihr Blick aus dem immer todbleichen
Gesicht traf. Auch Claudias Haar ist schwarz, wie ihre Kleidung. Dieses
schwarze Haar trennt sich aber vom Gesicht nicht mehr als das Kleid. Es
lebt
nicht mehr als dieses. Leben haben nur Claudias Augen, ein Leben, das
ungeheuerlich weit aus dem Gesicht fortgerückt scheint. Nicht Leben,
das einem
entgegenkommt. Man könnte sagen, dass man eine aufgezeichnete Landkarte
vom
Leben, Weltteile von einem Leben, in den schwarzen Augen schaute, wenn
der
Blick jener Frau einen traf.
Nach einer Weile kamen
die andern Freunde, und
wir traten
in den leeren Zoologischen Garten ein, wo die blätterlosen Bäume öde
gegen den
mattgrauen Winterhimmel standen und, ebenso wie die Augen Claudias, nur
Lebenslinien, hoch von der Erde weggerückt, Haltung und Bestimmung
zeigten,
aber keine blätterrauschende Sommerfreude.
„Wo wollen wir zuerst
hin?“ fragte einer den
andern.
Jemand schlug vor, zu den
Raubtieren zu gehen.
Ein anderer
wollte zu den Affen. Ein dritter zu den Papageien. Nur Claudia sagte
immer
dazwischen:
„Aber zu den Eulen
müssen wir auch gehen! Ihr wisst nicht, wie schön die Eulen sind. Ihr
habt ihre
Augen sicher nie betrachtet. Ich sage euch, es sind wunderschöne Vögel.
Ich
gehe nie aus dem Zoologischen Garten fort, ohne bei den Eulen gewesen
zu sein.“
Als Claudia so eifrig die
Eulen bevorzugte, ging
sie in
der Mitte der kleinen Gesellschaft, von den Damen und Herren umgeben,
und sie
blickte nur ab und zu nach links und rechts, und sie lächelte. Und ich
musste
an den Rattenfänger von Hameln denken, der an der Spitze einer
Kinderschar
schreitet und diese mit seinen eindringlichen gleichmäßigen
Flötenlauten in
einen finsteren Berg lockt, der sich bald hinter den Ahnungslosen
schließen
wird.
So gingen diese schwarzen
Augen, die ich bis zu
jener
Stunde immer noch nicht beschreiben konnte, allen anderen Augen voran,
von
denen keine mit so Schicksalstiefen Blicken, unheimlichen Flötenlauten
ähnlich,
anziehen konnten wie Claudias Augen. Mir schien, wir andern wären
plötzlich
alle schwarz wie Claudia gekleidet, als sie uns immer wieder von den
düsteren
Eulen sprach. Eulen waren ihr die liebsten Tiere des ganzen
Gartens und die schönsten Vögel der Welt. Und ich
konnte mich bald nicht mehr des Wunsches erwehren, zu keinen anderen
Tieren zu
gehen als zu den Eulen. So ging es schließlich allen, die um Claudia
waren. Die
Eulen wurden für jeden der Mittelpunkt des Gartens. Und während die
Stimme der
schwarzäugigen Frau die Eulen pries, wie ich es noch nie von jemandem
gehört
hatte, und während einer nach dem andern seine eigenen Wünsche fallen
ließ, sah
ich auf dem Fünfminutenweg hin zu den Eulenkäfigen Claudias Leben, das
sich
rasend vor mir abspielte. Man sagt, dass einem von einem Turm oder Berg
Stürzenden innerhalb der Sturzsekunden das Leben in blitzartigen
Bildern vor
den Augen vorüber rase. So geschah es mir mit Claudias Leben auf dem
Weg zu den
Eulenkäfigen.
Vorher hatte ich es nie
im Zusammenhang gesehen.
Nie
hatte sie selbst mir viel erzählt. Nur Andeutungen, nur Sätze und nur
kurze
Geschehnisse, erzählt von gemeinsamen Freunden über sie, lagen
zerstreut in
mir.
Nun aber schossen mir
alle diese Eindrücke, wie
von einem
Magneten angezogen, auf dem Weg zu den Eulen zu einem so
tragischen Lebensbilde zusammen, dass mich jeder Schritt
marterte, den ich neben Claudia weitergehen musste. Und doch lockte
mich die
Erhabenheit eines verfinsterten Menschenlebens, so wie schmerzliche
Flötenlaute
bestricken und uns fortführen können in ein Dickicht, durch Stacheln
und
Dornen.
Claudia war einst eine
starke, mutige, das Leben
herausfordernde, tapfere, junge Studentin gewesen. Der Mann, den sie
heute noch
liebt, trotzdem er ihr Grauen einflößt, trotzdem er täglich Mühlsteine
an ihre
Seele hängt, war damals ein hoher schlanker Student. Claudia hatte ihm
den
Namen Dagon gegeben; Dagon, der biamesische Gott des Ungeheuerlichen,
der Gott
des Verschlingens ohne Ende, der Gott der Lebensunsicherheit, zu dem
alle
Sterblichen beten, und der ihnen nichts für ihr Gebet gibt, keine
andere Gewissheit
als den Tod. Dagon, der Gott des grauenhaften Nichts, der
Schicksalsrachen, der
die Menschheit zermalmt, dem niemand Widerstand leisten kann, der Gott,
für den
die Blumen welken, die Vögel tot aus dem Himmel fallen, vor dem aus
Furcht die
Erde zu zwei Dritteilen in das bittere Angstwasser ihrer Meere gehüllt
steht,
während nur ein Drittel der Erde Dagon die Stirnen der Berge
als Widerstand hinstellt.
Claudia hatte diesen
Namen wie in einer Vorahnung
ihres
Schicksals dem jungen Studenten gegeben, damals noch nicht wissend, wie
tief
erkennend sie dabei war. Denn wie stark der Gott allmächtiger Willkür
in dem
Geliebten verkörpert war, das erfuhr sie erst im Laufe der Zeit.
Es waren zuerst nur
Kleinigkeiten gewesen, die
Claudia
den Namen Dagon und damit die Erscheinung des gruseligen Gottes vor die
Augen
führte, wenn sie den jungen Mann und zukünftigen Lebensgefährten
beobachtete.
Es belustigte sie, den Geliebten auf Widersprüchen zu ertappen, aus
denen er
sich lächelnd und kühl überlegend oder mit einem gewandten
Geistessprung ins
Blaue ihren starken schwarzen Augen entrückte. Damals merkte sie
zuerst, dass
jener Mann in noch einer ihr fremden Dimension lebte, die sie nicht an
anderen
Menschen kannte, die Dimension des Fabelhaften, die Dimension, in der
die
Wirklichkeit und der Schein, die Wahrheit und die Lüge nebelhaft
ineinander
gleiten. Eine Welt war in ihm, wo Wirklichkeit auf dem Kopf steht und
Unwirklichkeit wird, ähnlich wie Häuser am Ufer
eines Flusses im Spiegelglanz des Wassers mit dem Dach nach unten
stehen und
scheinbar auf einer anderen Weltseite leben, einer Welt, die tief
scheinen
will, unergründlich aussehen will, die aber nichts ist als ein auf den
Kopf
gestelltes Zerrbild der Wirklichkeit.
So spiegelte das Gehirn jenes Mannes, mit
scheinbaren
Unergründlichkeiten verblüffend, die Ufer des Lebens wieder, indem es
das Feste
beweglich machte, es wahnwitzig verzerrte, es für unergründlich ausgab.
Ehe Claudia sich mit dem Studenten verlobte, war
ein
anderer Mann ihrem schwarzen Blick verfallen, ein junger Adeliger, der
sich von
ihrer Anziehungskraft nicht losmachen konnte, trotzdem er von Claudia
nichts zu
hoffen hatte. Sie trug damals ihr schwarzes Haar kurzlockig geschnitten
und,
nach Knabenart, in der Mitte gescheitelt. Sie rauchte auch, als es noch
nicht
allgemein war, dass Frauen Zigaretten rauchten. Sie wäre vielleicht
auch am liebsten
in Herrenkleidung ausgegangen. Ihr immer elfenbein blasses Gesicht
zeigte rote
frische trotzige Lippen, und alles Verwegene, Herausfordernde,
menschlich Kühne
erregte sie, da ihr eigener junger Körper der Welt knabenhaft verwegen
und
widerspruchsvoll gegenübertrat.
Ein Freund jenes jungen Adeligen suchte sie eines
Tages
in ihrem Studentenzimmer auf und bat sie, sich doch zu entscheiden, ob
sie
nicht die Frau seines Freundes werden wollte. Als sie „nein“ sagte,
schlug der
Abgesandte, der ein ernster und zielbewusster Mensch war, in ehrlichem
Zorn mit
der Hand auf den Tisch und fragte Claudia, was sie veranlasse, die Hand
eines
ehrbaren jungen Mannes mit einem Nein abzuweisen.
Die Gefragte sagte ganz einfach, dass sie bereits
gewählt
habe, und nannte den Namen Dagons.
„Dann prophezeie ich Ihnen, dass sie niemals
glücklich
werden,“ entfuhr es dem heftig Erregten, der seinen Freund verdrängt
sah von
einem, der ihm Widerwillen einflößte. „Aber sagen Sie mir, ehe ich
gehe,“ fügte
er hinzu, „was haben Sie gegen meinen Freund einzuwenden?“
„Dass er adelig ist,“ antwortete ihm frei und
stolz die
junge Studentin, „ist der Grund, der immer bleiben würde, wenn ich
nicht
bereits einen andern vor ihm gewählt hätte. Ich will nicht, dass man in
seiner
Familie auf mich als auf eine Bürgerliche herabschaut.“
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Geschichte: "Auf
dem Weg zu den Eulenkäfigen"
Max Dauthendrey,
aus: Geschichten aus den
Vier Winden", Seite 143 - 171.
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Hofheinz-Döring, 1965,
Aufbewahrungsort: Galerie Brigitte Mauch,
Göppingen, Quelle: Peter Mauch
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