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Literatur


04.3



Geschichten

Max Dauthendey




  Auf dem Weg zu den Eulenkäfigen I


Ich habe manchmal darüber nachgedacht, wenn ich Frau Claudia nach Jahren in dieser oder jener Weltstadt wiedersah, womit sich ihre Augen vergleichen ließen. Es machte mich oft in ihrer Nähe unruhig, dass ich keinen Maßstab für ihre Augen fand, und wenn ich aus der Ferne, bei Gesprächen oder in Gedanken, das Bild Claudias vor mich hinstellte, stotterte meine Vorstellung, möchte ich sagen, und brachte niemals einen Vergleich zustande, eine Beschreibung jener Frauenaugen.

Sie sind schwarz, aber man kann sie nicht einfach schwarz nennen, denn sie sind nicht schwarz, wenn sie einen treffen. Sie sind von einer Dunkelheit, die ist über Schwarz hinaus, eine abgründigere Farbe, vielleicht müsste man diese Augen Saturnschwarz nennen.

Einmal habe ich von Claudia, welche die Frau eines meiner Freunde ist, und mit der mich nur rein freundschaftliche Beziehungen verbinden, ein wenig ehebrecherisch geträumt.

Es war ein ziemlich harmloser Ehebruchstraum. Da ich gar nicht für Vielweiberei veranlagt bin, erstaunte mich der Traum, und ich musste am Morgen ein kleines Gedicht darüber schreiben. Das Gedicht schilderte ein paar Tanzschritte, die ich im Traum mit Claudia tanzte. Sie war vom Hals bis zum Fuß in einen weißen Seidenschal schlank eingewickelt, und wir hielten uns zum Tanz nah, und dabei sahen Claudias Augen, jene unbeschreibbaren Augen, unerbittlich in mich hinein. Ich fand auch in jenem Gedicht wieder keinen zutreffenden Vergleich für diesen Blick, sondern nur den ganz blöden romanhaften, dass Claudias Auge ähnlich einer Messerklinge war, die auf schwarzem Samt liegt.

Dieser Vergleich mag mir deshalb gekommen sein, weil Claudia einmal in einer zornigen Aufwallung ein spitzes Messer nach ihrem leichtlebigen Gatten geschleudert hatte. Dieses Messer sauste damals, ich weiß nicht, ob ich sagen soll zum Glück oder zum Unglück, an dem sich behend Duckenden vorbei, blieb aber senkrecht wie ein Stahlpfeil im Türbrett stecken, wo es noch eine lange Weile zitterte.

Nur deshalb verzieh ich mir in dem Gedicht jenen romantischen Vergleich. Aber jetzt brauche ich mich überhaupt nicht mehr abzumühen, mir die Augen Claudias zu erklären. Sie selbst hat es neulich getan.
Es war im Winter, ich hatte mich mit einigen Freunden und Freundinnen, unter denen auch Claudia war, verabredet, mich mit ihnen am Eingang des Zoologischen Gartens zu treffen. Ich kam etwas verspätet aus einer Kunstausstellung und dachte, dass alle Freunde schon gekommen wären. Durch die großen Scheiben des Auto blickte ich unruhig der Fahrt voraus, um schnell zu wissen, ob ich wirklich der letzte sei, denn die Verspätung ärgerte mich. Meine Uhr aber schien falsch zu gehen. Ich war noch zu zeitig da, sogar einer der ersten, denn nur Claudia wartete schon vor dem Eingang. Ich sah sie dort im schwarzen Samtmantel mit schwarzem Skunksschal, schwarzer Samtkappe mit schwarzem Reiher, schwarz auf dem hellen kahlen Asphaltpflaster im kahlen Januarnachmittag stehen und sich nach meinem vorfahrenden Auto umsehen.

Aber es ist nicht richtig, wenn ich sage, dass ich all dieses Schwarz, in dem Frau Claudia jetzt immer mit Vorliebe auf der Straße erschien, zuerst gesehen hätte. Ich sah zuerst nur jene schwarzen Augen, nachdem mich ihr Blick aus dem immer todbleichen Gesicht traf. Auch Claudias Haar ist schwarz, wie ihre Kleidung. Dieses schwarze Haar trennt sich aber vom Gesicht nicht mehr als das Kleid. Es lebt nicht mehr als dieses. Leben haben nur Claudias Augen, ein Leben, das ungeheuerlich weit aus dem Gesicht fortgerückt scheint. Nicht Leben, das einem entgegenkommt. Man könnte sagen, dass man eine aufgezeichnete Landkarte vom Leben, Weltteile von einem Leben, in den schwarzen Augen schaute, wenn der Blick jener Frau einen traf.

Nach einer Weile kamen die andern Freunde, und wir traten in den leeren Zoologischen Garten ein, wo die blätterlosen Bäume öde gegen den mattgrauen Winterhimmel standen und, ebenso wie die Augen Claudias, nur Lebenslinien, hoch von der Erde weggerückt, Haltung und Bestimmung zeigten, aber keine blätterrauschende Sommerfreude.

„Wo wollen wir zuerst hin?“ fragte einer den andern.

Jemand schlug vor, zu den Raubtieren zu gehen. Ein anderer wollte zu den Affen. Ein dritter zu den Papageien. Nur Claudia sagte immer dazwischen:

„Aber zu den Eulen müssen wir auch gehen! Ihr wisst nicht, wie schön die Eulen sind. Ihr habt ihre Augen sicher nie betrachtet. Ich sage euch, es sind wunderschöne Vögel. Ich gehe nie aus dem Zoologischen Garten fort, ohne bei den Eulen gewesen zu sein.“

Als Claudia so eifrig die Eulen bevorzugte, ging sie in der Mitte der kleinen Gesellschaft, von den Damen und Herren umgeben, und sie blickte nur ab und zu nach links und rechts, und sie lächelte. Und ich musste an den Rattenfänger von Hameln denken, der an der Spitze einer Kinderschar schreitet und diese mit seinen eindringlichen gleichmäßigen Flötenlauten in einen finsteren Berg lockt, der sich bald hinter den Ahnungslosen schließen wird.

So gingen diese schwarzen Augen, die ich bis zu jener Stunde immer noch nicht beschreiben konnte, allen anderen Augen voran, von denen keine mit so Schicksalstiefen Blicken, unheimlichen Flötenlauten ähnlich, anziehen konnten wie Claudias Augen. Mir schien, wir andern wären plötzlich alle schwarz wie Claudia gekleidet, als sie uns immer wieder von den düsteren Eulen sprach. Eulen waren ihr die liebsten Tiere des ganzen Gartens und die schönsten Vögel der Welt. Und ich konnte mich bald nicht mehr des Wunsches erwehren, zu keinen anderen Tieren zu gehen als zu den Eulen. So ging es schließlich allen, die um Claudia waren. Die Eulen wurden für jeden der Mittelpunkt des Gartens. Und während die Stimme der schwarzäugigen Frau die Eulen pries, wie ich es noch nie von jemandem gehört hatte, und während einer nach dem andern seine eigenen Wünsche fallen ließ, sah ich auf dem Fünfminutenweg hin zu den Eulenkäfigen Claudias Leben, das sich rasend vor mir abspielte. Man sagt, dass einem von einem Turm oder Berg Stürzenden innerhalb der Sturzsekunden das Leben in blitzartigen Bildern vor den Augen vorüber rase. So geschah es mir mit Claudias Leben auf dem Weg zu den Eulenkäfigen.

Vorher hatte ich es nie im Zusammenhang gesehen. Nie hatte sie selbst mir viel erzählt. Nur Andeutungen, nur Sätze und nur kurze Geschehnisse, erzählt von gemeinsamen Freunden über sie, lagen zerstreut in mir.

Nun aber schossen mir alle diese Eindrücke, wie von einem Magneten angezogen, auf dem Weg zu den Eulen zu einem so tragischen Lebensbilde zusammen, dass mich jeder Schritt marterte, den ich neben Claudia weitergehen musste. Und doch lockte mich die Erhabenheit eines verfinsterten Menschenlebens, so wie schmerzliche Flötenlaute bestricken und uns fortführen können in ein Dickicht, durch Stacheln und Dornen.

Claudia war einst eine starke, mutige, das Leben herausfordernde, tapfere, junge Studentin gewesen. Der Mann, den sie heute noch liebt, trotzdem er ihr Grauen einflößt, trotzdem er täglich Mühlsteine an ihre Seele hängt, war damals ein hoher schlanker Student. Claudia hatte ihm den Namen Dagon gegeben; Dagon, der biamesische Gott des Ungeheuerlichen, der Gott des Verschlingens ohne Ende, der Gott der Lebensunsicherheit, zu dem alle Sterblichen beten, und der ihnen nichts für ihr Gebet gibt, keine andere Gewissheit als den Tod. Dagon, der Gott des grauenhaften Nichts, der Schicksalsrachen, der die Menschheit zermalmt, dem niemand Widerstand leisten kann, der Gott, für den die Blumen welken, die Vögel tot aus dem Himmel fallen, vor dem aus Furcht die Erde zu zwei Dritteilen in das bittere Angstwasser ihrer Meere gehüllt steht, während nur ein Drittel der Erde Dagon die Stirnen der Berge als Widerstand hinstellt.

Claudia hatte diesen Namen wie in einer Vorahnung ihres Schicksals dem jungen Studenten gegeben, damals noch nicht wissend, wie tief erkennend sie dabei war. Denn wie stark der Gott allmächtiger Willkür in dem Geliebten verkörpert war, das erfuhr sie erst im Laufe der Zeit.

Es waren zuerst nur Kleinigkeiten gewesen, die Claudia den Namen Dagon und damit die Erscheinung des gruseligen Gottes vor die Augen führte, wenn sie den jungen Mann und zukünftigen Lebensgefährten beobachtete. Es belustigte sie, den Geliebten auf Widersprüchen zu ertappen, aus denen er sich lächelnd und kühl überlegend oder mit einem gewandten Geistessprung ins Blaue ihren starken schwarzen Augen entrückte. Damals merkte sie zuerst, dass jener Mann in noch einer ihr fremden Dimension lebte, die sie nicht an anderen Menschen kannte, die Dimension des Fabelhaften, die Dimension, in der die Wirklichkeit und der Schein, die Wahrheit und die Lüge nebelhaft ineinander gleiten. Eine Welt war in ihm, wo Wirklichkeit auf dem Kopf steht und Unwirklichkeit wird, ähnlich wie Häuser am Ufer eines Flusses im Spiegelglanz des Wassers mit dem Dach nach unten stehen und scheinbar auf einer anderen Weltseite leben, einer Welt, die tief scheinen will, unergründlich aussehen will, die aber nichts ist als ein auf den Kopf gestelltes Zerrbild der Wirklichkeit.

So spiegelte das Gehirn jenes Mannes, mit scheinbaren Unergründlichkeiten verblüffend, die Ufer des Lebens wieder, indem es das Feste beweglich machte, es wahnwitzig verzerrte, es für unergründlich ausgab.

Ehe Claudia sich mit dem Studenten verlobte, war ein anderer Mann ihrem schwarzen Blick verfallen, ein junger Adeliger, der sich von ihrer Anziehungskraft nicht losmachen konnte, trotzdem er von Claudia nichts zu hoffen hatte. Sie trug damals ihr schwarzes Haar kurzlockig geschnitten und, nach Knabenart, in der Mitte gescheitelt. Sie rauchte auch, als es noch nicht allgemein war, dass Frauen Zigaretten rauchten. Sie wäre vielleicht auch am liebsten in Herrenkleidung ausgegangen. Ihr immer elfenbein blasses Gesicht zeigte rote frische trotzige Lippen, und alles Verwegene, Herausfordernde, menschlich Kühne erregte sie, da ihr eigener junger Körper der Welt knabenhaft verwegen und widerspruchsvoll gegenübertrat.

Ein Freund jenes jungen Adeligen suchte sie eines Tages in ihrem Studentenzimmer auf und bat sie, sich doch zu entscheiden, ob sie nicht die Frau seines Freundes werden wollte. Als sie „nein“ sagte, schlug der Abgesandte, der ein ernster und zielbewusster Mensch war, in ehrlichem Zorn mit der Hand auf den Tisch und fragte Claudia, was sie veranlasse, die Hand eines ehrbaren jungen Mannes mit einem Nein abzuweisen.

Die Gefragte sagte ganz einfach, dass sie bereits gewählt habe, und nannte den Namen Dagons.

„Dann prophezeie ich Ihnen, dass sie niemals glücklich werden,“ entfuhr es dem heftig Erregten, der seinen Freund verdrängt sah von einem, der ihm Widerwillen einflößte. „Aber sagen Sie mir, ehe ich gehe,“ fügte er hinzu, „was haben Sie gegen meinen Freund einzuwenden?“

„Dass er adelig ist,“ antwortete ihm frei und stolz die junge Studentin, „ist der Grund, der immer bleiben würde, wenn ich nicht bereits einen andern vor ihm gewählt hätte. Ich will nicht, dass man in seiner Familie auf mich als auf eine Bürgerliche herabschaut.“

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Geschichte: "Auf dem Weg zu den Eulenkäfigen"
 
Max Dauthendrey,  aus: Geschichten aus den
Vier Winden", Seite 143 - 171.

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Logo 184: "Waldmärchen", Margret Hofheinz-Döring, 1965,
Aufbewahrungsort: Galerie Brigitte Mauch,
Göppingen, Quelle: Peter Mauch

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