An
Sainte-Beuve
Ich
bin in Douai zur
Weltgekommen, der Heimatstadt meines Vaters, am 20. Juni 1786. Ich war
sein
jüngstes Kind und das einzige, das blond war. Man begrüßte mich mit
Begeisterung, entzückt über mein helles Haar, das man an meiner Mutter
so sehr
bewunderte. Sie war schön wie eine Heilige, man hoffte, ich würde ihr
völlig
gleichen; aber ich habe ihr nur wenig ähnlich gesehen, und wenn man
mich lieb
hatte, so war es um anderer Eigenschaften als der Schönheit willen.
Mein
Vater war Wappenmaler
für Equipagen und Chorstühle. Sein Haus lag neben dem Kirchhof der
kleinen
Pfarrgemeinde Notre-Dame in Douai. Ich hielt es für groß, dieses liebe
Haus,
das ich mit sieben Jahren verlassen hatte. Seitdem habe ich es
wiedergesehen,
es ist eines der ärmsten in der Stadt. Und dennoch liebe ich dieses
Wahrzeichen
einer schönen, vielbeweinten Zeit über alles in der Welt. Ich habe nur
dort den
Frieden und das Glück gekannt, aber auch ein großes, abgrundtiefes
Leid, als
mein Vater keine Wappen mehr zu malen hatte.
Ich
war vier Jahre alt, als
der große Umsturz in Frankreich erfolgte (die Revolution von 1789).
Zwei
Großonkel meines Vaters, die bei der Aufhebung des Edikts von Nantes
nach
Holland geflüchtet waren, boten meiner Familie ihr ungeheures Erbe an,
sofern
man uns Kinder zum protestantischen Glauben übertreten ließe. Diese
beiden
Onkel waren hundertjährige Greise. Sie lebten als Junggesellen in
Amsterdam, wo
sie einen Buchverlag gegründet hatten. Sie haben auch von mir Bücher
gedruckt.
Man
hielt einen
Familienrat. Meine Mutter weinte sehr. Mein Vater war unschlüssig und
drückte
uns ans Herz. Schließlich lehnte man das Anerbieten ab, um nicht unsere
Seelen
zu verkaufen, und wir verblieben in einer Not, die von Monat zu Monat
grausamer
wurde und zu solcher inneren Zerrissenheit führte, daß ich seitdem für
alle
Zeit schwermütig geblieben bin.
Meine
Mutter, voll Mut und
Unbedacht, ließ sich von der Hoffnung hinreißen, ihrer Familie das
Dasein zu
erleichtern, indem sie sich zu einer in Amerika lebenden und reich
gewordenen
Verwandten aufmachte. Von den vier Kindern, die vor dieser Reise
zitterten,
nahm sie nur mich mit. Ich tat es gern; aber als ich das Opfer
gebracht, hatte
ich für immer meinen Frohsinn verloren. Ich verehrte meinen Vater, als
wäre er
der liebe Gott selber. Die Städte, die Straßen und Hafenplätze, wo er
nicht zu
finden war, flößten mir Entsetzen ein: ich hing mich an das Kleid
meiner
Mutter, als wäre dort mein einziger Schutz.
Als
wir in Amerika, in
Guadeloupe, ankamen, war die Cousine inzwischen verwitwet und durch die
Neger
von ihrer Besitzung vertrieben; die Kolonie stand in hellem Aufruhr,
und das
gelbe Fieber herrschte überall. Die Mutter konnte den Schlag nicht
ertragen.
Sie starb – mit einundvierzig Jahren! Ich selbst an ihrer Seite war dem
Tode
nahe. Man führte mich fort, fort von dieser durch den Tod fast
entvölkerten
Insel, und von Schiff zu Schiff wurde ich meinen nun völlig verarmten
Verwandten in Frankreich wieder zugeführt.
Damals
war das Theater für
sie und für mich eine Art Hilfsquelle geworden. Man lehrte mich singen.
– Ich
versuchte, die Muntere zu spielen, aber ich war besser in schwermütigen
und
leidenschaftlichen Rollen. Das entspricht auch besser meinem Schicksal.
Ich
lebte oft allein, weil es mir so gefiel. Man berief mich ans Theater
Feydeau.
Alles deutete auf eine glänzende Zukunft; mit sechzehn Jahren war ich
Sozietärin, ohne es verlangt oder erhofft zu haben. Aber mein
bescheidener
Anteil beschränkte sich damals auf achtzig Franken im Monat, und ich
kämpfte
mit einer unsäglichen Armut.
Ich
mußte meine
Zukunftsaussichten der momentanen Not opfern und kehrte, im Interesse
meines
Vaters, in die Provinz zurück.
Mit
zwanzig Jahren mußte
ich dem Gesang entsagen, weil ich Schmerzen dabei hatte und weinen
mußte – aber
mein kranker Kopf war stets voll Melodieen, und ein immer gleicher
Rhythmus
gab, mir unbewußt, meinen Gedanken Form.
Ich
mußte sie
niederschreiben, um den fiebernden Klängen zu entgehen, und man sagte
mir, es
sei eine Elegie.
Herr
Alibert, der meine
sehr angegriffene Gesundheit zu heilen suchte, riet mir, da kein
anderes Mittel
helfen wollte, damit fortzufahren. Das versuchte ich, ohne je etwas
gelesen
oder gelernt zu haben, so daß es mir qualvoll Mühe schuf, meine
Gedanken in
Worte zu kleiden. Dies ist gewiß der Grund der Unklarheiten, die man
mir zum
Vorwurf macht, die ich jedoch selbst nicht beheben konnte. Ich änderte,
ohne
bessern zu können, und ich hatte nie die Kraft, mich mit diesen
Aufzeichnungen
von Dingen, die ich vergessen wollte, lange zu beschäftigen, - ich
hatte so viel
anderes zu tragen! Ich bin, wie jedermann, zum Leiden auf der Welt –
und man
sollte eher richtig denken, als richtig sprechen lernen. Wenn ich gut
sprechen
höre, fühle ich mich hingerissen, ohne mehr dabei zu empfinden als eine
köstliche Träumerei. Zur Selbsterkenntnis aber hilft es mir gar nichts.
* *
*
Allererste
Liebe
Ich
stand an der Tür des
Elternhauses; es war nicht mehr Tag und noch nicht Nacht. Ich erblickte
ihn
durch den zarten Schleier, der zur Abendstunde in den Straßen schwebt.
Seine
Schritte eilten, wie ein Engelshaupt blickte sein Kopf mit den blonden
Locken
nach unserm Hause. Er kam aus dem Friedhof hinter unserm alten Wall; er
kam
herbei. Wir sahen uns ernsthaft an, wir sprachen leise und wenig. Guten
Abend,
sagte er, und ich empfing aus seinen Händen, die er mir hinstreckte,
eine
Anzahl großer Blätter: er hatte sie von den Bäumen auf dem Wall geholt,
um sie
mir zu bringen. Ich nahm sie mit Freuden; ich betrachtete sie lange,
und ich
weiß nicht, welche Verwirrung meine Blicke schließlich zu Boden zog.
Sie
blieben auf seinen nackten Füßen haften, und der Gedanke, daß er sich
an der
Baumrinde verletzt hatte, machte mich traurig. Er erriet es, denn er
sagte: „Es
ist nichts!“ Wieder blickten wir uns an, und plötzlich grüßte ihn mein
Herz:
ich sagte mit schwacher Stimme, die nicht beben sollte: „Leb wohl
Henry!“ Er
war zehn Jahre alt, ich sieben.
Großer
Gott! Welch einen
Reiz behalten doch solche kindliche Freundschaften! Sein Bild ist
meinem
Gedächtnis mit derselben Frische eingegraben, die jene grünen Blätter
ausströmten, als Henry sie in meine Hände legte.
Was
ist aus Henry geworden?
Von welchen Augen mag er das eingefordert haben, was er in meinen
erstaunten
und vertrauten Blicken sah? Ich erinnere mich nicht, ob er schön war.
Seine
Züge, sein Mund sind mit entschwunden; nur seine Augen sprechen noch zu
mir. In
ihnen spiegelte sich unbewußt seine Seele. Die kurzen Worte, die er mit
leiser
Stimme hinwarf, - mein Ohr kennt noch ihren Tonfall, und jetzt weiß
ich, daß
sie mich ergriffen. Damals war mir das nicht bewußt. Ich stand nur und
wartete
auf Henry, ohne mich von der Stelle zu rühren, ohne den Kopf von jener
Richtung
abzuwenden, aus der er auftauchen mußte . . . und er kam. Er kam immer,
ohne
mir je gesagt zu haben, daß ich ihn erwarten sollte. Das Glück segne
ihn dafür!