Briefe
Marceline
Desbordes-Valmore hat viele Briefe geschrieben (obwohl) sie in
ihrer ewigen Armut oft erschrak vor den zwei Sous Postporto und häufig,
wenn
ihr ein Brief zu gewichtig geraten schien, den Galten erschrocken
fragte: Du hast
wohl dafür viel bezahlen müssen). Aber Mitteilung, Ausströmung des
Gefühls, war
ihr unüberwindbares Bedürfnis: mit Briefen kann man trösten, sich und
den
andern. Man kann sich in ihnen ausbluten wie in Tränen.
So
schrieb sie viele Briefe, und dank dieser Übermächtigkeit des Gefühls
gehören sie zu den schönsten, die wir Frauen verdanken. Sie sind nicht
zu
vergleichen mit den literarischen der grande épistolaire de France, der
Madame
de Sévigné, und ebensowenig mit den bezaubernden, aber doch auf
Spiegelwirkung
und Gelesensein gestimmten etwa der Rahel und der Bettina. Nie hat sie,
die
Allzubescheidene, geahnt, daß diese Mitteilungen, in denen sich das
Alltägliche
der Haushaltsorgen, der Geldnot, der kleinen Plackereien des Lebens
unmittelbar
den elementarsten Ausbrüchen der Empfindung mengt, jemals gedruckt
werden
könnten: ganz locker, impulsiv, nur dem innern Aufdrang nachgebend sind
ihre
Briefe geschrieben (meist bis hinab an den Rand, um nicht Papier zu
verschwenden, das ihr kostbarer schien als ihr eigenes strömendes
Gefühl). Nie
bemühen sie sich tiefsinnig, literarisch oder geistig zu werden, und
tatsächlich, ihre, gedankliche Fracht ist gering; Marceline
Desbordes-Valmore
war viel zu sehr echte Frau, um strikt-logisch und
metapysisch-aufbauend zu
denken. Aber statt geistvoller Gedanken enthalten ihre Briefe oftmals
etwas,
das ich Gefühlsgedanken nennen möchte, spontane Erkenntnisse des
Herzens,
wahrhaftige Gefühlsblitze, die auch sprachlich überraschendste Formen
finden.
Das ist nicht kokett-geistreich, sondern im seelischen Sinne genail,
wenn sie etwa
vom Wochenbett ihrer Tochter einer Freundin schreibt: „Un petit berceau
me
retient au los d’Ondine, heureusement délivrée (et moi aussi!). Vous
saurez quelque jour, combien on est enceinte de l’enfant de ses
enfants.“ Solche urdichterische Worte
tropften ihr locker und häufig aus der fließenden Feder, ohne daß sie
selbstbewundernd absetzte, und fast jeder Brief, selbst der
flüchtigste, findet
aus seiner Zärtlichkeit des Gefühls immer auch den überraschendsten
Zartsinn des
Ausdrucks. Man kann die einzelnen Herrlichkeiten, die wortgewordenen
Schreie,
Seufzer, Liebesempfindungen, die spontanen Entdeckungen inmitten ihrer
naiven
Mitteilungen kaum zählen, so dicht drängen sie ineinander.
Aber
das Schönste dieser Briefe: sie sind vollkommen wahr. Es gibt keine
einzige Lüge in den vielleicht zweitausend Schreiben, es sei denn die
allzu
verzeihliche des Mitleids. Nackte Seele enthüllt sich, aber nicht in
der
bewußten Gebärde einer, die den spätern Spiegel der Öffentlichkeit vor
sich
weiß (und ihm, wie Rahel, wie Bettina, nicht ungern entgegentritt).
Weder
schamhaft sich verhaltend noch schamlos zudringlich sich eröffnend,
spricht hier
eine Frau zu vertrauten Menschen über alle Geheimnisse ihres Lebens und
Gefühls.
Dank so unbedingter Echtheit werden diese Briefe unentbehrliche
Dokumente nicht
allein ihrer Biografie: selten ist das Seelenhafte wirklicher
Weiblichkeit
überhaupt so transparent geworden wie durch die aufrichtige
Selbstmitteilung
dieser einen Geliebten, Frau und Mutter.
In der vorliegenden Auswahl sind zum
überwiegenden Teile die Briefe
fragmentarisch mitgeteilt, das alltäglich Familiäre und gleichgültig
Private
von ihnen abgelöst. Nur insofern sie das äußere und innre Leben der
Dichterin
im Rückschein auf Zeit und Umgebung sichtbar machen, sollten sie
übermittelt
sein, und ich hoffe, diese Auswahl genügt, um die in der Einleitung
versuchte
Skizze mit ihren eigenen Worten zu untermalen.
An
den unbekannten Geliebten
Von
den Briefen Marcelinens an „Olivier“, den unbekannten Geliebten, sind
im ganzen nur zwei durch den Zufall der Autographenkataloge aufgefunden
worden
– kaum als Briefe eigentlich anzusprechen, vielmehr „Zettelgen“, wie
Goethe die
hitzig raschen Botschaften an und von Frau von Stein nannte. Die
wesentlichen
sind vernichtet (oder wenn tatsächlich Henri de Latouche der Verführer
war, im
Jahre 1817 bei der deutschen Invasion mit allen dessen Dokumenten und
dem
Nachlaß André Chéniers verbrannt). Die vorliegenden beiden bilden nebst
den
Gedichten das einzige, was wir verbürgt von jener entscheidenden
Episode
besitzen, unzulänglich, sie zu erhellen, und nur flackernde Blitze in
dem
geheimnisvollen Dunkel jener tragischen Verstrickung.
An
Olivier
Jänner
1809 oder 1810
Komm morgen
nicht, Vielgeliebter, ich habe tausenderlei lästige Arbeit,
Pflichtbesuche. Gestern erhielt ich den Besuch eines – reichlich
gepuderten –
Mannes von Geist, der sich, um Gnade zu erlangen, zuerst auf die Kniee
niederließ. Ich habe gelacht und die
Huldigung seiner Bonbons und seiner Almanachs entgegengenommen. Was
sage ich,
das kostbarste Buch der Welt, da sich der Name all dessen, was ich
liebe, darin
befindet! Diesen Namen, der über mein Schicksal entscheiden wird, habe
ich
geküßt . . . Adieu, mein Olivier.
Und
meine drei Brüder, meine drei Freunde? Bringe sie mir doch bitte mit,
daß kein Tag ohne diese Arbeit vergeht. Denke daran, daß Du Dich dabei
mit
meinem Glück befassest. Ich will es, dieses geliebte Holzbein, diesen
armen
zerlumpten Dichter und besonders diesen häßlich, interessanten Barbier.
Wie
gut Du daran getan hast, sie nach Spanien zu versetzen, ihnen ist
niemals kalt. Komm, komm Du dort hin, kleiner Freund. Komm, uns in
reinster
Sonne zu wärmen. Indessen werde ich Dich Samstag am Kamin meiner
Freundin
sehen.
1809 oder 1810
Besinne
Dich
Deines Versprechens, teurer Vielgeliebter; vergiß nicht, daß
ich eine Seele einzig nur dazu besitze, um Dich zu lieben, Dir zu
folgen und an
all Deinen Handlungen teilzunehmen.
Bleiben
wir niemals mehrere Tage, ohne einander zu sehen; zu sehr habe ich
gelitten; morgen um vier Uhr erwarte ich Dich. Liebe mich, mein kleiner
Freund,
gib
meinem Herzen Antwort, o ich flehe Dich an, lieb mich recht! Das ist,
als ob ich Dir sagte: Schenk mir das Leben. Deine Liebe ist mehr noch,
Olivier,
mein Olivier, mein Olivier. Du weißt nicht, bis zu welchem Grade Du
mich
glücklich oder unglücklich machen kannst.