Die
Liebende
»Mon
cœur fui créé pour n'aimer qu'une fois.«
Sie
ist nun einundzwanzig Jahre alt. Ihr Gefühl, das
übermächtige, hat sich bislang nur an kindliche Demut und
schwesterliche
Aufopferung verschwendet, jetzt aber tastet es weiter in die Welt, dies
drängende »besoin d'aimer pour aimer«. Die Frucht ihres Gefühls ist
reif.
Unkund seiner Bestimmung gibt sie sich in dieser Zeit leidenschaftlich
der
Freundschaft hin, und am meisten wendet sich Marcelines Neigung einer
jungen
Griechin Delia zu, einer begabten Schauspielerin des gleichen Theaters.
Zeitgenössische Beschreibungen schildern sie als eine übermütige,
leichtfertige, sinnliche Frau. Wie immer wirkt hier Gegensätzlichkeit
des
Charakters als Anziehung. In ihrem Hause begegnet Marceline dem
Verführer. Hier
beginnt der tragische Roman ihres Lebens. Kapitel auf Kapitel können
wir ihn
aus ihren Gedichten lesen, Zug um Zug den Feldzugsplan ihres
Verführers, das Ermatten
ihres Widerstandes, die Peripetieen ihres Gefühls verfolgen, denn dies
ist das
Wunderbarste dieser Dichterin, daß sie, zaghaft im Wort und keusch im
Wesen,
sich bis auf das Letzte verriet in ihren Versen. Ihre Seele war immer
nackt im
Gedicht.
Delia
spielt auch hier wie auf der Bühne die Rolle der
Verführerin und Marceline die der Unschuld. Der Hauptakteur ist ein
junger
Dichter, Delias Geliebter, der »Olivier« der Elegieen. Die allererste
Szene muß
man sich ersinnen. Eines Tages (vielleicht hat Marceline eben die
beiden
verlassen) stellt der junge Dichter ganz absichtslos in heiterer
Neugier die
Frage an Delia nach ihrer Freundin Herzensangelegenheiten und staunt
bei der
verräterischen Mitteilung, die Zwanzigjährige noch völlig unschuldig zu
wissen.
Delia rät ihm lächelnd, sein Glück zu versuchen. Die
Zumutung reizt und versucht ihn, sie verbinden sich beide übermütig zum
Komplott, dies kühle Herz zu entflammen. Das nächste Mal schon setzt er
sich an
Marcelinens Seite und spricht Worte zu ihr, die sie beglücken und
verwirren, er
spricht mit seiner sanften Stimme, deren Schmelz sie in zahllosen
Gedichten
gerühmt und deren Zauber sie immer wieder unterlegen ist. Delia bleibt
abseits,
lächelnd und der verstatteten Abirrung ihres Geliebten neugierig froh.
Unmerklich ebnet sie ihm die Wege und fördert durch Rat die leichte
Mühe.
Später, viel später erst begreift Marceline diese frivolen Zettelungen,
später,
zu spät, wie sie aufschreit:
»Ce
perfide amant, dont j'évitais l'empire,
Que
vous aviez instruit dans l'art de me séduire,
Qui
trompa ma raison par des accents si doux,
Je le
hais encore plus que vous!«
Aber
anfangs ist sie nur selig und verwirrt. Sie fühlt
zwar gleichzeitig Gefahr; unbewußt, mit dem Instinkte schauert sie vor
der
Versuchung, sie sucht zu flüchten. Eine düstere Ahnung wetterleuchtet
in den
Himmel voll Glück: »Je l'ai prévu, j'ai voulu fuir.« Aber ihr klarer
Wille will
schon nicht mehr zurück. Zwar rettet sie sich zu ihren Schwestern und
vertraut
ihre Angst dem Gesang und der Dichtung, die zum erstenmal an dieser
erhöhten
Wärme des Gefühls in ihr aufkeimt, aber das Verhängnis ist schon im
Zuge, sie
ist ihm verfallen.
»J'étais
à toi peut-être avant de t'avoir vu,
Ma
vie, en se formant fut promise à la tienne,
Ton
nom m'en avertit par un trouble imprévu,
Ton
âme s'y cachait pour éveiller la mienne. –
Je
l'entendis un jour et je perdis la voix,
Je
l'écoutais longtemps, j'oubliais de répondre,
Mon
être avec le tien venait de se confondre,
Je
crus, qu'on m'appelait pour la première fois.«
Er
merkt ihre Verwirrung und seine Macht. Immer
dringlicher werden seine Bewerbungen. Er spricht zu ihr in Délias
Gegenwart,
sie wagt ihm nicht zu antworten. Sie flüchtet aus dem Haus (Zug um Zug
kann man
die Szene aus ihrem Gedicht verfolgen), um ihm, nein, um sich selbst,
ihrem
eigenen Verlangen zu entgehen.
»Je
fuyais tes regards, je cherchais ma raison,
Je
voulais, mais en vain, par un effort suprême,
En me
sauvant de toi me sauver de moi-même.«
Aber
er folgt ihr auf die Straße. Sie sind zum erstenmal
allein, sie erschreckt, schüchtern, mit klopfendem Herzen, er klug und
berechnend. Mit unnachahmlichem Geschick weiß er an die einzige Saite
ihres
Herzens zu rühren, die bisher geklungen, an das Unglück. Er weiß, daß
ihre Güte
stärker ist als ihre Lust, und vertraut lieber dem Mitleid als
Mittlerin, als
stürmisch leidenschaftlicher Werbung. Er stellt sich traurig,
melancholisch,
heuchelt Weltschmerz und Überdruß, und sie, die Leiderfahrene, vergißt
ihn zu
fürchten, weil sie ihn leiden sieht und selbst das Leiden kennt. Die
Tröstung
scheint ihr eine Pflicht. Nun weigert sie ihm nicht mehr das
Beisammensein, und
rascher folgen nun die Kapitel im Roman ihrer Liebe. Ein Rendezvous
wird
vereinbart. Ihr ganzes Wesen fiebert ihm entgegen, vergebens sucht sie
mit
einem Buche ihre Ungeduld zu täuschen, aber ihr Herz spricht lauter und
überschlägt alle Worte:
»Ah,
je ne sais plus lire!
Tous
les mots confondus disent ensemble: il vient!«
Sie
kann nicht mehr lesen, sie kann nicht mehr leben,
sie kann nicht mehr atmen, sie kann nicht mehr schlafen. Aber alle
diese Qualen
liebt sie um seinetwillen, sie liebt diese Schlaflosigkeit, weil sie
von Denken
durchwirkt ist, von Denken an ihn:
»Je
ne veux pas dormir; oh! ma chère insomnie,
Quel
sommeil aurait ta douceur?«
Und
wenn er nun naht, so weiß sie nicht mehr zu
fliehen, magnetisch hält seine Nähe sie fest:
»Hélas!
Je ne sais plus m'enfuir comme autrefois!«
Schon
ahnt sie, daß sie ganz an ihn verloren ist und
jener große Sturm über ihre Sinne gekommen, den sie manchmal auf der
Bühne
durch fremdes Schicksal brausen sah. Ihre Angst ist längst nicht mehr
Widerstreben, sie ist bloß Furcht vor dem Neuen, Furcht vor dem Glück.
Sie
erkennt sich erschreckt seinem Willen leibeigen und daß gar nicht mehr
sie es
ist, die dem Letzten noch widerstrebt. Er kann sie nehmen, wann er
will, sie
fühlt es, sie weiß es. Und der Aufschrei:
»Ma
sœur, je n'avais plus d'appui que sa vertu«
sagt
ihr ganzes Schicksal.
Er
zögert nicht länger. Der Augenblick – auch einem
minder Wissenden unverkennbar – ist gekommen. Er naht drängend und
glühend.
Ihre Tränen scheuchen ihn zurück, eine letzte kurze Sekunde lang, aber
seine
sanfte Stimme, diese Stimme, deren Bezauberung sie immer und immer
wieder
erlag, löst ihre Arme, und sie fühlt ihre Seele entfliehen in einem
ersten Kuß:
»J'ai
senti fuir mon âme effrayée et tremblante:
Ma
sœur, elle est encore sur sa bouche brûlante!«
Mit
einem Male wird sie der ganzen tragischen
Wirklichkeit bewußt, und mit dem grauenhaften Irrtum erkennt sie
schauernd die
abgekartete Komödie, der sie zum Opfer gefallen. Sie erkennt, daß sie,
auch
diesmal wie so oft im Theater, ihr eigenes unendliches Gefühl an ein
Spiel
gewandt hat. Ihre Brust birst von Verzweiflung. Aber wem soll sie
klagen, wem?
Von Delia, der Freundin, ist sie verraten, alle andern Menschen hat sie
vergessen, verloren über diesen einen. In dieser Herzensnot wirft sie
sich an
die Brust ihrer Schwester, und an sie gerichtet ist das unsterbliche
Gedicht
des Entsetzens, in dem die gellen Schreie der ersten Verzweiflung noch
nicht in
das strömende Metall der Worte eingeschmolzen sind. Spitz und heiß von
ihrem
Blute, durchstoßen die Schreie wie Dolche die zitternden Zeilen:
»Ma
sœur, il est parti! Ma sœur, il m'abandonne!
Je
sais qu'il m'abandonne, et j'attends, et je meurs!
Je
meurs! Embrasse-moi! Pleure pour moi ... Pardonne!
Je
n'ai pas une larme, et j'ai besoin de pleurs.
Tu
gémis! Que je t'aime! Oh! jamais le sourire
Ne te
rendait plus belle aux plus beaux de nos jours.«
Sie
weiß, daß er ihr verloren ist, aber sie will es
nicht glauben. Sie betet, sie fleht um einen Betrug, um eine Hoffnung,
weil sie
die Wahrheit nicht ertragen kann. Gleichsam auf die Kniee wirft sie
sich vor
ihrer Schwester und bettelt, bettelt um eine fromme Lüge:
»Sans
retour! Le crois-tu? Dis moi, que je m'égare,
Dis,
qu'il veut m'éprouver, mais qu'il n'est point barbare,
Dis,
qu'il va revenir, qu'il revient ... trompe-moi,
Mais
obtiens qu'il me trompe à son tour comme toi.
Va
le lui demander, va l'implorer ...«
Und
dabei weiß sie ihn bei einer andern, sie weiß es,
sie sieht es. In weißen, schlaflosen Nächten taucht das Bild greifbar
nah auf:
»Oh
comme il la regarde, oh comme il est près d'elle,
Comme
il lui peint l'ardeur qu'il feignit avec moi.«
Und
sie flüchtet vor ihm, vor jeder Bewegung, vor
seinem Blick, sie rettet sich zu ihren Schwestern auf das Land, in die
Einsamkeit. Sie verläßt das Theater, sie gräbt sich ein in ihre Trauer,
irgendwo in einem verlassenen Winkel Frankreichs. Das Kaiserreich
stürzt um sie
zusammen, die Völkerschlacht bei Leipzig wird geschlagen, die Kosaken
ziehen
ein in Paris, aber man spürt es nicht in ihren Versen, ihren Briefen.
Ihre
ganze Nation, Zeit und Raum, alles ist ihr, der echten Frau, gering
gegen das
Gefühl. Sie weiß nur, daß sie ihn liebt, noch immer liebt, trotzdem sie
längst
das verwegene Spiel durchschaut. Nur um den eigenen Stolz zu retten,
das Gefühl
zu entschuldigen, das dem Ungetreuen doppelt getreue, forscht sie im
eigenen
Verhalten nach einer Schuld. Sie sucht in sich einen Anlaß zu finden.
Vergebens. Sie sucht und sucht in sklavischer Demut und muß es doch
gegen den
eigenen Willen verneinen:
»L'ai-je
trahi? Jamais! Il eût mon âme entière;
Hélas!
j'étais étreint à lui comme le lierre.«
Aber
trotz alledem gelingt es ihr nicht, ihn zu
hassen, ihm zu zürnen. Resigniert gesteht sie's ein:
»Ah!
je ne le hais pas, je ne sais point haïr«,
und
bald weiß sie, daß es mehr ist als Nicht-Hassen;
beschämt, vernichtet, erniedrigt wird sie gewahr, daß sie trotz alledem
noch
immer Liebe für ihn fühlt. Erschreckt vertraut sie es den Versen an,
erschreckt
über sich selbst:
»Ma
sœur, je l'aime donc toujours,
Quel
aveu, quel effroi, quelle triste lumière.«
Und
wie glücklich ist sie, da sie hört, daß er krank
ist, wie glücklich, einen Vorwand zu finden vor sich selbst, ihn wieder
lieben
zu dürfen:
»Comment
ne plus l'aimer quand il est malheureux.«
Endlich
nach zwei Jahren Widerstand ist ihr ganz klar,
daß keine Härte in ihr ist, kein Haß und kein Widerstand, und nichts
als der
Wunsch, ein einziger, brennender, glühender Wunsch, ihn wiederzusehen.
Sie
sucht, sie bettelt um eine Versöhnung, sie wendet sich an ihre
Schwester,
wendet sich selbst an Delia, die sie verraten hat, nur um ihn
wiederzugewinnen.
Bedingungslos kapituliert sie, erlöst gibt sie ihren Stolz preis:
»Fierté,
j'ai plus aimé mon pauvre cœur que toi.«
Er
läßt sich erbitten. Sie soll ihn wiedersehen. Und
kaum daß sie es weiß, daß ihr Wunsch erfüllt werden soll, überkommt sie
das
alte Schreckgefühl. Sie zögert, sie sucht Entschuldigungen und findet
sie
schließlich:
»Dieu!
sera-t-il encore mon maître?
Mais,
absent, ne l'était-il pas?«
Sie
weiß, daß eine neue Verbindung nicht Glück mehr
sein wird wie einst, ein Glück der Wollust und des Taumels, sondern ein
Glück
in Tränen, Glück des Mißtrauens; aber sie nimmt das Joch freudig auf
sich,
obwohl seiner Schwere bewußt. Wie eine Gefangene tritt sie vor ihn hin.
Ihren
Stolz hat sie zertreten und ihre Scham, schauernd beugt sie den Nacken
für
dieses Glück der Erniedrigung:
»Prenez
votre victime et rendez lui sa chaîne,
Moi,
je vous rends un cœur encore tremblant d'amour.«
Er
hebt die Knieende zu sich empor, ein kurzes Zwischenspiel der
Versöhnung
beginnt. Aber dies von Demütigung und Mitleid genietete Beisammensein
ist nicht
von langer Dauer. Bald verläßt er sie wieder, und diesmal wird es ein
Abschied
für immer. Er verstrickt sich in andere Abenteuer, seine Gestalt
verlischt im
Namenlosen. Marceline faßt ihr Kind, ihren letzten Besitz, und wandert
wieder
zurück ins Leben. Die Zuflucht ihrer Liebe ist vernichtet, aber eine
andere
Macht im Tausch erstanden, Tröstung ihres Unglücks: die Dichterin in
ihr ist
geboren. Ihr Gefühl, zurückgestoßen von dem einen, entlädt sich nun
gegen das
All, beschwingte Verse entäußern ihre einsame Qual, ihre
niedergehaltenen
Tränen werden zu aufklingendem Kristall.