In einer Ecke
des städtischen Kirchhofes war großer
Kehraus. Zusammengethürmt lagen dort welke Kränze und Palmen, alle
gleichmäßig
graubraun, als wären sie nie bunt und farbenprächtig gewesen. Hie und
da sah
das schmutzige Ende einer Atlasschleife oder eine schwarz gewordene
Goldfranze
aus dem Gewirr hervor. Alte Weiber mit braunen, welken Armen und
häßlichen,
gleichgültigen Gesichtern stachen mit Mistgabeln hinein in den Haufen
ehemaliger
Gaben der Pietät, oder vielleicht auch nur der Convenienz. Gedankenlos
schleuderten sie die Kränze auf einen Karren, und ein altes, blindes
Pferd
humpelte mühsam damit fort, um die Abfälle des Friedhofes dahin zu
bringen, wo
aller Müll und Schutt aus der Stadt abgeladen wurde.
Mariä
Himmelfahrt stand vor der Thür; deshalb war es nothwendig, den
Kirchhof frei und sauber zu machen für die Aufnahme neuer
Liebesgaben, neuer Kränze, neuer Palmen.
«Gelobt sei’st
du Maria,» sagte eines der alten Weiber und riß die braune
Guirlande von dem Steinbilde der heiligen Jungfrau los, um sie zu den
übrigen Kränzen zu werfen.
«Und gebenedeiet in Ewigkeit,
Amen,» fügte die andere Alte hinzu.
Dann grüßten sie beide
ehrerbietig und traten zur Seite, um zwei Nonnen Platz zu machen, die
mit Blumen und Kerzen erschienen, das Bild der Himmelskönigin zum
Feste zu schmücken.
Die Schwestern beugten die Kniee vor
der
roh gearbeiteten Statue und begannen darauf, sie so freundlich und
farbig wie möglich heraus zu putzen.
Eine schlanke, bleiche
Dame in eleganter Sommertoilette betrat den Kirchhof. Sie grüßte
das Marienbild und dann die Schwestern. «Zünden Sie auch für mich
eine Kerze an,» sagte sie näher tretend und drückte ein Geldstück
in die Hand einer der Nonnen. Darauf nickte sie den Schwestern zu und
ging langsam nach der Reihe der Erbbegräbnisse.
Neugierig
näherten sich die beiden alten Arbeiterinnen dem Gnadenbilde.
«Was
mag denn die Frau Geheimräthin für Kummer haben, daß sie eine
Kerze opfert,» begann die Eine.
«Wer weiß denn, ob es wegen
einer Fürbitte ist; so reiche Leute haben der Allerheiligsten nur zu
danken und können nicht genug danken, wenn sie auch alle Tage zehn
Kerzen opfern wollten,» meinte die Andere.
«Es ist wohl nur
eine Festgabe zu morgen, die Geheimräthin Bremer ist eine liebe,
gläubige Seele.» sagte die ältere der beiden Schwestern.
«Nicht
einmal Kränze hat sie mitgebracht für die Gräber ihrer Eltern.»
bemerkte wieder die Alte, der die freundliche Äußerung der frommen
Schwester durchaus nicht zu gefallen schien.
«Ja,
die reichen Leute haben so ihre besonderen Moden,» stimmte die
andere Alte ihr bei, «fromm nennt man sie doch, wenn sie auch viel
weniger thun als Andere, denen es sauer genug wird.»
«Die
Fürsprache der Heiligen ist mehr werth als Gaben und Opfer,»
verwies die jüngere der beiden Nonnen in strengem Tone. Darauf
verließ sie mit ihrer Gefährtin den Kirchhof.
Die alten
Weiber rafften mit ihren Mistgabeln eine zweite Karre voller Kränze
zusammen; die Geheimräthin Bremer ging an ihnen vorbei und ließ
sich müde und langsam auf einer kleinen Bank nieder, die zur Seite
von zwei, mit schwarzen Granitplatten gedeckten Gräbern aufgestellt
war.
«Das Andenken der Gerechten bleibt
im Segen.» —
Mit
Goldbuchstaben war dieser Spruch in die glänzend schwarze
Steinplatte eingemeißelt.
Als unbesoldeter Stadtrath hatte der
Mann,
dessen Leib hier ruht, gewirkt. In uneigennütziger Weise hatte der
umsichtige Leiter eines großen industriellen Unternehmens seine
Arbeitskraft in die Dienste seiner Mitbürger gestellt, nachdem er
die eigenen Geschäfte in die Hände seines Sohnes gelegt hatte. Als
er dann heimging, um an der Seite seiner vorangegangenen Gattin von
den Werken des Lebens auszuruhen, erfuhr man, daß er in seinem
Testamente fast alle wohlthätigen Anstalten seiner Vaterstadt mit
Legaten bedacht hatte. Nun hatten ihm die dankbaren Mitbürger den
Denkstein gesetzt, auf dessen flimmernder Schrift die Blicke der
einzigen Tochter sinnend ruhten. Die untergehende Sonne warf einen
röthlichen Schein über ihr durchsichtig blasses Gesicht. Langsam
hob sie die breiten dunklen Lider, die Augen entschleierten sich nur
zum Theil, halb blieben die Lider über den unnatürlich weiten
Pupillen liegen, was dem ganzen Gesichte etwas unbeschreiblich müdes,
krankes gab. Sie richtete dann ihre Blicke gerade auf den
untergehenden glutrothen Sonnenball, aber trotz des scharf
einfallenden Lichtes zogen sich die Iris nicht zusammen, sondern
blieben weit und dunkel geöffnet, wie bei manchen Blinden.
Langsam
stellte sie die Füße auf den Rand von ihres Vaters Grab, lehnte
sich zurück in der bequem geschweiften Bank und athmete mit Genuß
die von Blüthenduft durchtränkte Luft des Sommerabends.
Eine
himmlische Ruhe war um sie her. Duft, Wärme, Licht und Frieden.
Wohin das Auge sah, warten herrlich gepflegte Blumen, freundlich
schimmernde Steine mit Goldschrift und Kränzen bedeckt. Die Vögel
zwitscherten in den Kronen der alten Bäume, es war so schön und so
still an der Stätte des Todes, wie es selten da ist, wo das Leben
mit all seinen Rechten noch herrscht.
Wie ein Gebet ging der
Hauch des Windes durch Blumen und Blätter. Die scheidende Sonne
verklärte den Garten des Herrn. Alle Inschriften flammten und
leuchteten auf, auch die auf dem Grabe des alten Stadtrathes: «Das
Andenken der Gerechten bleibt im Segen.»
Mit nervöser Hast
sah die junge Frau um sich her. Sie war allein, ganz allein mit den
Toten. Ein befriedigtes Lächeln zeigte sich einen Augenblick auf
ihrem Gesicht. Das gab ihren traurigen müden Zügen eine eigenartige
Schönheit.
Sie hatte aus der Tasche ihres Kleides ein kleines
schwarzes Etui und ein fest verkorktes Fläschchen genommen. Mit
stiller, tief innerlicher Befriedigung sah sie auf den Inhalt des
Fläschchens, der wasserhell und ganz unschuldig aussah. Nur einige
kleine weiße Crystalle, die nicht ganz aufgelöst darin schwammen,
zeigten, daß es eine starke Morphiumlösung war. Dieser kleine, so
schwer zu erlangende Vorrath bildete einen überaus kostbaren Besitz
für die junge Frau, an dessen Anblick sie sich erfreute und
berauschte, ehe sie sich entschloß, das Fläschchen zu öffnen.
Langsam füllte sie die kleine
Spritze – fünf Strich, -
sechs Strich – nein, es war nicht möglich zu widerstehen, sie zog,
bis die Glasröhre voll war. Dann verkorkte sie erst sehr sorgfältig
das Fläschchen und überzeugte sich, daß der Verschluß wasserdicht
war. Ein verlorner Tropfen war ja unersetzlich.
Vorsichtig
schob sie das Kleinod in die Tasche des Kleides zurück. Erst als es
da in Sicherheit war, steckte sie mit energischem Druck die Nadel auf
das kleine Instrument. Ihre Hände zitterten dabei, theils in der
Vorfreude des zu erwartenden Genusses, theils in der Schwäche, in
der das Bedürfniß nach diesem Genusse beruht.
Sie schob den
Ärmel ihres Kleides vom Handgelenk zurück. Ein Leinwandstreifen
wurde sichtbar. Sie riß ihn rasch los. Der kleine Verband bedeckte
eine breite, wenn auch nicht tiefe Wunde, die durch den
Morphiumgebrauch entstanden war. Seit Jahren bedurften die kranken
Nerven des anregenden Mittels, und um die Schönheit ihrer Arme nicht
zu opfern, hatte sie diese eine Stelle ganz preisgegeben. Der
mißhandelte Körpertheil wehrte sich zwar durch Schmerzen und
anhaltende Eiterung gegen das ihm aufgezwungene Gift, aber
schließlich wurde die Stelle doch ziemlich unempfindlich.
Sie
senkte auch jetzt, wie immer die Nadel hier ein. Ein leichter Schmerz
zog für einen Augenblick ihre Brauen zusammen, aber das dauerte
nicht lange. Der Inhalt der Morphiumspritze verschwand unter der
Wunde, der Leinwandstreifen bedeckte rasch wieder die Stelle.
Sorgfältig reinigte sie mit einem kleinen Stück Draht das
gebrauchte Instrument, dann klappte sie das Etui zu, steckte es ein
und lehnte sich gegen den Rücken der Bank, um die Wirkung zu
erwarten.
Mit wonnigem Behagen fühlte sie, wie
ein
berauschendes Empfinden ihr Gehirn, ihre Glieder erfüllte und
zugleich lähmte. Alle Wünsche, alle Bedürfnisse des Körpers und
Geistes lösten sich in Befriedigung und süße Mattigkeit. Der
kranke stumpfe Ausdruck der Augen schwand und machte einem lebhaften,
sprühenden Blicke Platz. Die Nerven wußten nichts mehr von
Abspannung und Schwäche.
Sie hätte jetzt auf jedem Feste
glänzen, jede Arbeitsleistung übernehmen können. Dabei waren ihre
Glieder aber doch schwer, so daß sie es entschieden als
Annehmlichkeit empfand, zu keiner Bewegung genöthigt zu sein. Nur
der Kopf war leicht und frei — so frei, so klar, als ob ein vorher
auf dem Gehirn lastender Druck plötzlich entfernt wäre. Sie hatte
Durst empfunden, das war jetzt vorbei, sie fühlte sich wohl,
namenlos wohl und zufrieden. Ihr vorher gelblich blasses Gesicht nahm
etwas Farbe und Wärme an, sie drückte die kühlen, weißen Finger
gegen ihre Wangen. Dann zog sie langsam, gedankenlos lächelnd die
Handschuhe wieder an, die auf der Bank lagen.
Sie hatte den
Augenblick für ihren Genuß gut gewählt, denn mit der, vorher
herrschenden Ruhe war es nun vorbei. Ein Leichenwagen fuhr durch das
große Portal, hielt vor der Kapelle, und ein Sarg wurde zu einer
offenstehenden Gruft getragen. Viele Menschen folgten; der Geistliche
begann eine Rede, und wenn die einsame Frau auch davon nichts hören
konnte, so war sie in ihrem Alleinsein dennoch gestört.
Außerdem
näherte sich ihr jetzt auch ein Herr, der geradewegs auf sie
zukam.
«Was für ein entzückendes kleines
Refuge Sie hier
besitzen, Sie sind zu beneiden, gnädige Frau,» begann er, sie
begrüßend.
Sie sah lächelnd zu dem großen
blonden Manne
empor. «Es sind die Gräber meiner Eltern, Herr Doctor Turnau,»
antwortete sie mit einer einladenden Bewegung auf die freie Hälfte
der Bank deutend.
Er nahm sofort augenscheinlich
erfreut Platz.
«Ist das Stück Rasen, auf dem diese Bank steht für Sie reserviert,
gnädige Frau?»
«Nein, die Eltern kauften es für
meine
unverheirathete Schwester. Elise wird voraussichtlich einsam bleiben,
bis sie den Rollstuhl mit dem Sarge vertauscht. Für meinen Mann und
mich ist noch Platz im Bremerschen Erbbegräbnisse.»
«Ich
finde, es hat einen ganz eigenen Reiz, genau die Stätte zu kennen,
die uns einmal bestimmt ist,» bemerkte er, indem er den leichten
Sommerhut abnahm und das blonde Haar aus der hübschen weißen Stirn
strich. Sie lachte: «Das ist wieder eine von Ihren paradoxen
Ansichten, mit denen Sie sich manchen Menschen vielleicht interessant
machen, andrerseits aber sich nicht nur Widerspruch zuziehen, sondern
auch viele ungünstige Urtheile über sich hervorrufen.»
«Ah
– ein offenes Wort, ich danke Ihnen dafür, gnädige Frau. Die
ungünstigen Urtheile muß ich zu tragen wissen, aber ich strebe
weder darnach Widerspruch zu erregen, noch mich interessant zu
machen. Nur aus einer nervösen Beunruhigung heraus empfinde ich
zuweilen das Bedürfniß, irgend einen Gedanken, selbst einen
sonderbaren Gedanken auszusprechen, wenn er mir gerade durch den Kopf
geht.»
«Dieses Bedürfniß ist natürlich,»
antwortete sie,
«viel natürlicher für einen gut situierten Mann Ihres Alters, als
der Wunsch, die Stätte zu kennen, an der Ihr, jetzt so
jugendkräftiger Körper einst zu Staub werden wird.»
Ein
trübes Lächeln glitt über die Züge des jungen Mannes. «Dieser
jugendkräftige Körper ist der Auflösung und Verwesung näher, als
es den Anschein hat. Wenn wir morgen übers Jahr Mariä Himmelfahrt
feiern, brennen vielleicht auch für mich schon die Kerzen auf dem
Altar.»
Sie sah ihn ruhig und forschend an.
«Warum
spielen Sie mit dem Gedanken an das Ende des Lebens?» fragte sie
ernst. «Glauben Sie nicht, daß auch für Sie noch Stunden der
Befriedigung und des Genusses möglich sind, die mit dem Tode
aufhören müssen?»
Wie sie ihn so ansah, leuchtete der
rothe
Strahl der Sonne in ihre erweiterten Pupillen hinein, er sah
aufmerksam darauf hin, dann lächelte er: «Ich danke Ihnen, gnädige
Frau, daß Sie mich mit einer moralischen Bemerkung verschont haben.
Ich war eigentlich schon darauf gefaßt gewesen. Sie haben übrigens
recht, ja — auch ich glaube noch an Stunden des Genusses, an
Momente höchster, auf Erden möglicher Befriedigung. — Was ich
damit meine, verstehen Sie sicherlich, denn ich sehe, Sie gebrauchen
Atropin. Bitte, versuchen Sie nicht, den Mediciner darüber zu
täuschen, Sie gebrauchen Atropin, um die Einbuße an Schönheit, die
das Auge des Morphinisten erleidet, damit auszugleichen.»
Sie
senkte betroffen den Blick. «Ja, ich gebrauche Atropin,“
entgegnete sie zögernd, «aber nicht aus Eitelkeit, wie Sie
vielleicht annehmen. Wenn Sie selbst Morphinist sind, so wissen sie
auch, daß die Koketterie des Weibes ebenso wie der Ehrgeiz des
Mannes in der Seele des Morphinisten erlischt.»
Er nickte
verständnißvoll. «Gewiß gnädige Frau,» entgegnete er, «ich
billige den an sich gefährlichen Atropingebrauch, weil er Ihnen den
Dienst leistet, Ihre Umgebung über Ihren Morphinismus zu täuschen.
In Ihrem Falle ist gewiß keine Koketterie im Spiele. Sie riskieren
Ihr Augenlicht, aber Sie müssen es ja. Wer gönnte Ihnen den Genuß,
der Ihnen unentbehrlich ist, und wer verdiente wohl in Ihr Geheimniß
eingeweiht zu werden? Sie sind wie alle Morphinisten gezwungen, eine
Umgebung zu täuschen, die getäuscht sein will.»
Erleichtert
athmete Lydia auf. Es that ihr unsagbar wohl, verstanden zu werden.
Nur Verurtheilung Ihrer Leidenschaft, im günstigsten Falle Mitleid
mit einem krankhaften Zustande hatte sie überall angetroffen, wo sie
es je gewagt hatte, leise Andeutungen über die Erbitterung zu
machen, die sie oft empfand, wenn es ihr fast unmöglich erschien,
sich Morphium zu verschaffen. Die Aufregung dieser Erbitterung
brachte sie dann zuweilen zum Sprechen.
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