Erleichtert
athmete Lydia auf. Es that ihr unsagbar wohl, verstanden zu werden.
Nur Verurtheilung Ihrer Leidenschaft, im günstigsten Falle Mitleid
mit einem krankhaften Zustande hatte sie überall angetroffen, wo sie
es je gewagt hatte, leise Andeutungen über die Erbitterung zu
machen, die sie oft empfand, wenn es ihr fast unmöglich erschien,
sich Morphium zu verschaffen. Die Aufregung dieser Erbitterung
brachte sie dann zuweilen zum Sprechen.
«Sie
finden also meine Schwäche nicht unbedingt unmoralisch, Herr
Doctor?» fragte die junge Frau.
«Im
Gegenteil,» antwortete er lebhaft.» Alle Religionsstifter der Welt
empfehlen den Menschen, ihre Leidenschaften zu bekämpfen. Die
natürliche Beschaffenheit unserer Nerven setzt diesen Bestrebungen
unüberwindliche Hindernisse entgegen. Das Morphium allein besiegt
die Leidenschaften in jeder Brust. Wenn ein neuer Prophet seinen
Anhängern zur Bekämpfung ihrer natürlichen, menschlichen Triebe
Morphium zur freien Verfügung stellte, so würde er bald eine
Gemeinde um sich sehen, der jedes Laster fremd wäre.»
«Ich
habe augenblicklich nicht genug Morphium genossen, um dem kühnen
Fluge einer prophetischen Phantasie bis zu dieser Höhe folgen zu
können,» bemerkte Lydia lächelnd, erstaunt den leidenschaftlich
erregten Mann ansehend.
«Soll
ich Ihnen geben, was etwa noch fehlt?» fragte er eifrig.
Sie
nickte glückselig und sah erwartungsvoll zu ihm auf.
«Wie
viel Procent gebrauchen Sie, gnädige Frau?»
«Sechs,»
gestand sie mit ängstlichem Zögern.
«Da
steht Ihnen also noch manche herrliche Steigerung bevor,» sagte er
seufzend und zog aus seiner Brusttasche ein kleines Glas. Wie wenig
er ihr gab, das war ja fast nichts — ah diese Enttäuschung — !
War das ein Scherz oder — — —
Da
ging es wie ein Ruck durch all ihre Nerven — wie ein Schlag traf
die unbekannte starke Lösung ihr Gehirn. Sie griff nach der Stirn
und dann nach der Brust. Es rieselte ihr unter der Haut wie Sand, ein
angstvolles Unbehagen erfaßte sie.
Er
sah, wie kalte Schweißtropfen auf ihre Stirn traten und wie ihr
Gesicht sich entfärbte. «Habe ich Ihnen zu viel gegeben, gnädige
Frau?» fragte er.
«Nein,»
stammelte sie halb bewußtlos, «bitte beobachten Sie mich nicht, es
wird mir schon wieder wohl — sehr wohl.» —
Ihre
Hände zitterten, wie sie das sagte, wie aus weiter, weiter Ferne
hörte sie ihre eigene Stimme — die Steigerung des Genußes! —
«Ich
schreibe ein Buch über den Mißbrauch der verschiedenen Narkotica
und mache zu dem Zwecke meine Beobachtungen, bitte entschuldigen Sie
daher den indiscreten ärztlichen Blick,» sagte er höflich.
«Ein
Buch?» Sie nahm alle Willenskraft zusammen, um zu sprechen, als sei
nichts geschehen. Er sollte nicht denken, die Dosis sei zu stark für
sie gewesen; sie wußte nicht, daß sie den Ehrgeiz recht viel
vertragen zu können, mit all ihren Leidensgenossen theilte.
«Ein
Buch,» — wiederholte sie noch einmal langsam und mit schwerer
Zunge. Es war ihr, als hätte sie Sand im Munde, sie konnte kaum
sprechen, aber sie sprach nun doch. «Wollten Sie Ihrer ärztlichen
Thätigkeit nicht entsagen, sagten Sie das nicht kürzlich?»
«Nein,»
entgegnete er, vorläufig muß ich noch als Assistenzarzt in der
Nervenheilanstalt thätig sein. Ich habe keine Privatpraxis, und der
Chef läßt mir so viel freie Zeit wie möglich. Er interessiert sich
selbst für meine Arbeit, zu der mir meine Erfahrungen in seiner
Anstalt den Stoff bieten. Nach Fertigstellung meiner Broschüre werde
ich allerdings meine jetzige Stellung verlassen.»
«Der
Professor sagte neulich, Sie wollten Universitätslehrer werden?» O
wie mühsam brachte sie die Worte über die Lippen!
«Ich
will gar nichts werden,» antwortete er dumpf. «Mein Buch,» — er
lachte in sich hinein, es war ein so eigenes Lachen, daß Lydia
selbst in dem Taumel ihrer Sinne davon erschreckt den Kopf hob.
«Nun
was ist denn mit ihrem Buche, weshalb lachen Sie?»
«Ach,
Verzeihung, es kann ja niemand wissen, wie komisch ich mir das denke,
wenn einmal, natürlich nach meinem Tode, der kluge Professor, der
den Morphinismus mit allen Waffen der Wissenschaft bekämpft, das
Werk seines ehemaligen Assistenten lesen wird.»
«Aber
weshalb schreiben Sie denn das Buch, wenn Sie den Standpunkt der
anderen Nervenärzte nicht zu theilen vermögen?» fragte Lydia,
sichtlich unangenehm berührt von dem sonderbaren Benehmen ihres
Gefährten.
«Mein
Buch wird ein wissenschaftlicher Protest gegen das Verbot des freien
Verkaufes der narkotischen Mittel,» sagte er nun beinahe feierlich.
«Persönlich leide ich nicht unter diesem Verbote, denn ich bin
Arzt, aber ich kenne die Verzweiflung und den Jammer des
Morphinisten, der sich der Unmöglichkeit gegenüber sieht, sich
Morphium zu verschaffen. Anständige, hochachtbare Leute greifen in
ihrer Verzweiflung zu den ehrlosesten Mitteln, und von diesem Jammer
will ich sie zu erlösen versuchen. Ich habe ein Material gesammelt,
welches entsetzliche Schlaglichter auf diese Zustände wirft. Gegen
das Versprechen ihnen zu helfen, für ein einziges Rezept haben
zahlreiche Unglückliche mir gebeichtet. Ach — ich weiß, wie tief
sich einige, sonst reine, unnahbare Naturen gedemüthigt haben, um
durch Bestechung, durch Betrug, einerlei wie, zu dem zu gelangen, was
sie bedürfen, wie der Hungrige Brot bedarf, um sich zu erhalten.»
Sie
erhob sich halb und sah mit gefalteten Händen zu ihm herab. «Sie
wollen helfen, Sie könnten helfen — o Gott Herr Doctor, nein,
nein, Sie können auch den Wall von Härte und Verständnißlosigkeit
nicht niederreißen, an dem Tausende rütteln und an dem Alle, Alle
ohnmächtig abprallen.»
«Ob
ich es kann, weiß ich allerdings nicht, aber ich will es wenigstens
versuchen», sagte er, etwas zur Seite rückend, so daß sie wieder
Platz nehmen konnte.
«Ich
will wenigstens vor der Welt die dunklen Wege erhellen, auf die man
mit erbarmungsloser Härte eine Menge kranker Menschen gedrängt hat.
Ich will es zeigen, wohin ein Gesetz führt, das nur dazu da ist,
umgangen zu werden, weil es nicht befolgt werden kann. Die ganze
Kraft meiner geistigen Fähigkeiten stelle ich in den Dienst dieser
Aufgabe, dieses Strebens, das mir edel und würdig erscheint, weil es
dem willkürlich Unterdrückten, der nichts verbrach, zu Hülfe
kommen will. Die Menschheit soll darüber aufgeklärt werden, wie
weit die Bevormundung der Polizei geht, und auch Nicht-Morphinisten
hoffe ich für die Frage zu interessiren, die ihnen jetzt
gleichgültig ist.»
«Und
dann?»
«Und
dann?» Träumerisch wiederholte er die bange Frage, die sie leise
aussprach. «Ja dann, gnädige Frau – zu Ende führen werde ich den
Kampf nicht. Ich kann nur noch so lange leben, wie ich zu genießen
vermag. Nennen Sie es Egoismus, Krankheit, Schwäche, wie Sie wollen,
aber wenn einmal die Stunde kommt, in der meine Nerven aufhören zu
reagieren, die Stunde, in der auch die letzte Steigerung und
Komplication nicht mehr zum Genusse führt, dann lege ich die Feder
aus der Hand. Mit dem Leben hört auch die Verpflichtung auf, weiter
zu kämpfen.»
«Mit
dem Leben?»
«Natürlich,
liegt denn nicht das Ende des Lebens ebenso in unserer Hand, wie der
Genuß, dem wir uns ergeben?»
Sie
schauderte doch bei dieser letzten Consequenz, zu der er so leicht
und ruhig gelangte. Sie befand sich ja auf demselben Wege wie er.
«Das Andenken der Gerechten bleibt im Segen». — Wie Feuer tanzten
die Buchstaben der Inschrift vor ihren Augen. Genuß, Genuß des
Lebens, und dann das Ende. Das Leben fortwerfen, das nicht mehr
bietet, tönte es neben ihr. Sie glaubte, alles drehe sich im Kreise
um sie her, nur der schwarze Grabstein vor ihr stand fest in dem
Wirbel, aber er glühte und flammte von der untergehenden Sonne
beleuchtet, es that ihr weh, darauf niederzusehen.
Vorher
hatte sie sich so leicht, so frei gefühlt, und nun dieser Schwindel
und dieser Druck um die Stirn, wie von einem eisernen Bande. Das war
also die Steigerung ihrer Genüsse.
«Ist
das ein Lebenszweck, Genuß, nur Genuß, der sich steigert, bis er
aufhört, weil der Körper versagt?» fragte sie leise.
«Gewiß,
Frau Bremer, der Genuß ist ebenso gut ein Lebenszweck, wie die
Arbeit,» sagte er, «es kommt nur darauf an, daß man seine
moralischen Grundsätze damit in Einklang zu bringen versteht.
Indirect dient so mancher ausschließlich dem Genusse des Lebens. Der
Künstler schafft seinen Nebenmenschen und sich selbst geistige
Genüsse, Andere wieder begnügen sich damit, sich in den Dienst des
materiellen Behagens zu stellen. Es giebt aber noch ein Drittes im
Menschen, das außer den groben Organen des Körpers, außer dem
Geiste, fähig ist zu genießen, das sind die Nerven. Warum soll ich
nicht meinen Lebenszweck darin suchen, Anderen zugänglich zu machen,
was mir eine so große Befriedigung der Nerven bringt? Es haben schon
Leute sich mit geringeren Aufgaben für ihr Dasein begnügt, und ich
habe nicht umsonst gelebt, wenn ich auch nur einen Stoß führe, der
das Gesetz in’s Schwanken bringt, das ich bekämpfe.»
«Ich
wollte, ich könnte an Ihren praktischen Erfolg glauben, Sie kämpfen
ja gegen eine empörende Ungerechtigkeit.»
«Der
Droguest, der Arzt, selbst Krankenwärterinnen vermögen sich stets
Morphium zu verschaffen. So lange es unter einigen dieser Leute
Armuth und Bestechlichkeit giebt, wird das süße Gift auch käuflich
bleiben, indirect käuflich, — allerdings nur um sehr hohen Preis.»
«Ich
glaube auch, daß es dem Unbemittelten sehr häufig positiv unmöglich
gemacht wird, die Hindernisse zu besiegen, die das Geld überwindet.
Ist das nicht auch eine soziale Seite unserer Frage?» meinte Turnau.
«Der
Arme hat den Alkohol,» wandte sie ein.
«Den
Alkohol? Ja,» er wurde bitter, fast leidenschaftlich in seinem Ton.
«Die Genußsucht des Volkes ist eben eine brutale Macht, der man
nicht mit einem einfachen Verbot des Verkaufs begegnen kann. Feinere
Nerven brauchen raffiniertere Genüsse. Der Alkohol verhält sich zum
Morphium wie ein bluttriefender Schauerroman zu einer geistvollen
psychologischen Studie. Das Leben ist so öde und traurig; die
Mittel, die es erträglich machen können, sollte man nicht
beschränken.»
Sie
sah müde zu ihm auf. «Öde und traurig,» wiederholte sie sinnend.
«Nein, ich kann das eigentlich von meinem Leben nicht behaupten;
mein Mann ist sehr rücksichtsvoll und die Kinder — aber Sie, wieso
finden Sie Ihr Dasein nicht nach Ihren Wünschen?»
Er
antwortete nicht, und sie empfand es unbehaglich, daß sie den jungen
Mann beinah zu einem persönlichen Vertrauen aufgefordert hatte, das
er ihr nicht in der freundschaftlichen Weise entgegenbrachte, in
welcher er sich bisher gegen sie ausgesprochen hatte.
«Befinden
Sie sich jetzt wohler, gnädige Frau?» fragte er nach einigen
Minuten des Schweigens.
«O
vollkommen wohl», versicherte sie rasch aufstehend.
Er
bot ihr den Arm, und sie nahm ihn unbefangen an. Er bemerkte in
diesem Augenblicke, daß sie elegant gekleidet war. Ihre Anmuth und
Grazie berührten ihn sympatisch, aber es lag ihm fern, sich in das
schöne Weib eines Anderen zu verlieben. Nicht sein sittliches
Bewußtsein schützte ihn davor; es hatte Zeiten gegeben, wo er den
Vortheil seiner Lage erkannt und benutzt haben würde, aber diese
Zeiten waren vorüber. Wie eine Lähmung lag der gewaltige Einfluß
des Morphiums und des Äthers auf seinen Nerven und Sinnen.
Auch
Lydia, die Gattin eines älteren, pedantischen, trockenen Mannes,
dachte nicht daran, daß in ihrem vertraulichen Verkehr mit dem
jungen Arzte irgend etwas Unerlaubtes sein könne. Aber auch sie
handelte nicht in vollem Bewußtsein tugendhafter Ehrbarkeit, sondern
ebenfalls unter dem Einflusse einer krankhaften Abstumpfung ihrer
natürlichen Gefühle und Triebe.
«Das
Andenken der Gerechten bleibt im Segen,» sagte sie leise mit einem
Abschiedsblicke nach ihres Vaters Grab.
«Wenn
ich mein Vermögen der Stadt hinterlasse, bekomme ich am Ende auch
einmal eine so schöne Grabschrift,» scherzte Turnau. Es war wieder
das, was Lydia kokettieren mit Weltschmerz und Todesahnungen nannte.
Andere urtheilten noch härter über diesen eigenthümlichen
Characterzug des jungen, wohlhabenden Mannes. Man hielt ihn im
allgemeinen auch nicht für so krank wie er war, und sah in dem aus
seinem Wesen sprechenden Lebensüberdrusse nur die Folgen einer
übermäßigen Blasiertheit, der nichts mehr genügte, was sich an
Genüssen des täglichen Lebens ihm bot.
«Soll
ich dafür sorgen, daß man auch Sie nach Ihrem Tode zu den Gerechten
erhebt?» fragte Lydia, lächelnd auf seinen Ton eingehend.
«Es
wäre unbescheiden, gnädige Frau; für einen armen Morphinisten wird
sich schon noch ein demütigeres Verslein finden.» «Wohl der
Menschheit, wenn jeder seine Grabschrift verdient hätte,»
antwortete sie, mit einem Blick über alle die Kreuze und Steine
hinschweifend, die in steinernen Lettern so viel von Liebe und Tugend
zu erzählen wußten, wie man im Leben wohl selten beisammen finden
wird.
Dann
trat sie auf das Weihwasserbecken zu, bekreuzte sich mit dem Wasser,
verließ an Turnaus Arm den Kirchhof und fuhr mit ihm zusammen in
ihrem Wagen, der auf sie gewartet hatte, nach Hause.
Vor
der Bremerschen Villa dehnte sich ein von Rosenbeeten unterbrochener
Rasen aus, dessen Mitte ein zierlicher Springbrunnen bildete. Eine
Allee von Kastanienbäumen führte zu dem etwas von der Straße
zurückliegenden Gebäude und an demselben vorbei nach dem dahinter
liegenden Garten.
Auf
dem Kieswege unter den schattigen Bäumen spielten zwei hübsche
Kinder unter der Aufsicht einer Bonne. Als sie ihre Mutter aus dem
Wagen steigen sahen, wollte das junge Mädchen sie zu der Ankommenden
führen, um diese zu begrüßen. Die Kinder aber hingen sich an ihre
Pflegerin und steckten die Köpfe in die Falten des einfachen
schwarzen Wollkleides, welches das Fräulein trug.
Die
Bonne versuchte, sich von ihnen los zu
machen und zeigte bei diesen lebhaften Bewegungen, in dem eng
anschließenden,
schlichten Kostüm eine vollendete Grazie. Sie war tadellos gewachsen,
jede
Bewegung war schön, so daß Turnau, der sonst wenig Sinn für weibliche
Reize
hatte, davon ganz betroffen war.
“Wer ist die junge Dame?” fragte er leise.
“Fräulein Wagner, eine Fröbel'sche Kindergärtnerin; dann begrüßte sie
die
Kinder, die endlich widerstrebend, mit scheuen Blicken auf den
Begleiter ihrer
Mutter, herbeikamen.
Auch das Fräulein begrüßte jetzt die Herrin. Das Gesicht des jungen
Mädchens
war breit und gewöhnlich. Die Züge waren grob, selbst die freundlich
blickenden
grauen Augen zu klein und zu tief liegend, um dem Gesichte irgend
welchen Reiz
geben zu können. Trotz der schönen Gestalt war das Mächchen nicht
hübsch, nur
die Lippen waren blühend und roth, die Zähne glänzend weiß, und ein
Ausdruck
von Jugendlust, Frohsinn und Güte verklärte die ganze Erscheinung.
“Mein Gott, Fräulein, wie albern sich die Kinder noch immer benehmen,
wenn
Gäste da sind, gewöhnen Sie ihnen das doch ab,” tadelte die junge Frau.