II.
Die
Gewohnheit des Morphiumgebrauchs hatte allmählich dahin geführt,
daß Lydia Bremer mit freiem Kopfe, ohne irgend welche Nachwirkungen
des Genusses erwachte, auch wenn sie am Tage vorher etwas mehr als
die gewöhnliche Dosis ihres Mittels gebraucht hatte. Die Lösung
aber, die ihr Turnau gegeben hatte, mußte doch wohl weit über das
Maaß hinausgehen, an das sie gewöhnt war.
Sie
hatte die Absicht gehabt, an Mariä Himmelfahrt das Hochamt zu
besuchen, das um 9 Uhr früh statt fand. Das Stubenmädchen brachte
ihr deshalb den Kaffee zu einer etwas früheren Stunde als sonst in
ihr Schlafzimmer. Sie richtete sich im Bette auf, um nach dem
Servierbrett zu greifen; aber als sie den Kopf vom Kissen erhob, sank
sie sofort, von heftigem Schwindel erfaßt, wieder zurück. Sie
empfand dabei keinen Schmerz, nur eine drückende Benommenheit des
Kopfes. In rasendem Wirbel schien sich alles um sie zu drehen,
Kälteschauer und Unbehaglichkeit erfaßten ihren ganzen Körper.
Sie
schloß die Augen, um sich von diesem Zustande zu befreien; es war
vergeblich. Vorsichtig, ohne sich aufzurichten, griff sie nun nach
einer kleinen Tasche, die zwischen ihren Matratzen lag. Kaum
vermochten die unsicher tastenden Hände das Morphiumglas zu
entkorken. Nach dem Gebrauche des Mittels aber wurden ihre Bewegungen
etwas fester, sie konnte sich aufrichten, der Schwindel ließ nach,
aber so wie sonst war es doch immer noch nicht. Kurz entschlossen
griff sie zum zweiten Male zum Morphium.
Nun
strömte ein unendliches Wohlbehagen durch ihre Nerven. Sie streckte
sich lächelnd aus, genoß mit Bewußtsein die nun eintretende
eigenthümliche Leichtigkeit ihrer Glieder und richtete sich dann
frisch und elastisch auf. Sie ließ das Fräulein mit den Kindern
hereinkommen, erfreute sich an dem Jubel der Kleinen bei den munteren
Spielen, die das junge Mädchen anzuregen verstand und schickte
endlich die fröhliche Gesellschaft in den Garten, um ihre Toilette
beenden zu können.
Zur
gegebenen Zeit rief sie ihren Mann ab zum Kirchgang. Sie trug ein
hellgraues Kleid, das zu ihrem Teint eigentlich nicht paßte. Die
Taille war aber so geschickt mit weiß arrangiert, ebenso der Hut,
eine Nadel von funkelnden Rubinen schloß den Spitzenkragen, so daß
die Toilette doch tadellos und sogar vortheilhaft war.
«Du
bist recht hübsch angezogen, Kind,» bemerkte der Geheimrath
wohlgefällig, als Lydia bei ihm eintrat, «indessen finde ich, daß
Du blaß und angegriffen aussiehst. Ich habe auch in letzter Zeit
tüchtig gearbeitet und denke, die Erholung in Heringsdorf wird uns
Allen recht gut thun. Wie würde Dir diese Wohnung gefallen?»
Er
reichte seiner Frau die Photographie und den Grundriß einer kleinen
Villa. «Die Wohnung ist bis zum Ende der Saison frei.»
«Es
mag ganz hübsch dort sein, ich wußte aber nicht, daß Du so bald
reisen kannst.»
«Die
Saison ist schon halb zu Ende, Lydia, bist Du etwa mit Deiner
Toilette noch nicht ganz reisefertig?»
Sie
schien zu überlegen. «Für die Kinder wäre noch einiges
anzuschaffen, für mich weniger, ich möchte auch dem Fräulein etwas
Garderobengeld für die Reise geben.» —
«Brauchst
Du vielleicht Geld?»
«Nicht
viel, fünfhundert Mark werden für den Augenblick genügen.»
Er
gab ihr das Geld und sie sagte, daß sie gleich nach der Kirche noch
einige Besorgungen machen wolle.
«Aber
überanstrenge Dich nicht, ziehe das Fräulein zu Deiner Hülfe heran,»
bat er.
Während
des Gottesdienstes ruhten die Blicke des fürsorglich liebenden
Mannes oft auf dem zarten Gesichte der jungen Frau. Er wußte, daß
ihr der Hausarzt wegen häufiger Migräne-Anfälle ab und zu den
Gebrauch der Morphiumspritze gewährt hatte. Dabei war er aber fest
überzeugt, daß dieses Mittel nur durch die Hand des Arztes und mit
dessen Einverständniß gebraucht würde. Daran, daß seine Frau das
Morphium selbst und heimlich gebrauchen könne, dachte er nicht.
Der
alte Medicinalrath, der seinem Hause ein lieber Freund war hatte ihm
gesagt, daß eng zusammengezogene Pupillen und breite glanzlose Iris
der Augen ein untrügliches Zeichen des Morphinismus seien. An die
Complication mit Atropin hatte der gute alte Herr selbst nicht
gedacht und so wurde auch er durch die dunkel leuchtenden Augen der
Kranken getäuscht.
Bremer
war fest überzeugt, daß seine Frau krank sei. Das schlaffe,
gleichgültige Sich gehen lassen, welches er seit einiger Zeit an ihr
bemerkte, widersprach ihrem sonstigen Wesen durchaus. Ehe er aber
einen Specialarzt für Nervenleiden zu Rathe zog, beschloß er noch
einmal eingehend mit dem Medicinalrath zu sprechen.
Nach
der Kirche trennte sich der Geheimrath von seiner Frau. Er hatte
einige Besuche zu machen, und Lydia ging, um Einkäufe zu besorgen
nach der belebtesten Straße, wo sich die größten Läden befanden.
Ohne
einen Blick auf die Auslagen in den Fenstern zu werfen, eilte sie
vorwärts. Bald bog sie in einen weniger belebten Seitenweg ein,
durchschritt eine öffentliche Promenade und betrat einen Stadttheil,
in dem ihre elegante Erscheinung überall auffiel. Sie befand sich
zwischen langen Reihen hoher unschöner Häuser, die alle viele
Fenster hatten und von vielen Menschen bewohnt wurden. Zuletzt trat
sie in den Thorweg einer Bierbrauerei, ging durch das Vorderhaus über
den Hof, zwischen Fässern und Rollwagen hindurch nach dem
Quergebäude.
Sie
drückte den Elfenbeingriff ihres weißen Spitzenschirmes fest an die
Brust, schob den Schleier vom Gesicht zurück und stieg mit
fliegendem Athem und zitternden Knieen in nervöser Hast die schmale
halbdunkle steile Treppe hinauf.
Bei
jedem Stockwerk wurden die Entreethüren niedriger, beengter,
schmutziger. Nach drei Treppen hörten die abgeschlossenen Wohnungen
überhaupt auf. Eine Menge Thüren mündeten in einen engen, langen
Gang. Es war unerträglich schwül in diesem Treppenhause, aus jeder
der zahlreichen Wohnungen drangen Küchendämpfe und Lärm heraus. Es
roch nach Kaffee, nach angebranntem Fett, nach trocknender Wäsche,
nach Seife – vor allen Dingen aber nach Menschen, nach
zusammengedrängten, armen, schmutzigen Menschen. An vielen Thüren
befanden sich Visitenkarten mit dem Namen des Zimmerbewohners.
«Friedrich
Rast,» stand auf einer dieser Karten zu lesen. Lydia klopfte mit
ihrem Schirm an die Thür. Ein junger Mann öffnete ihr und ließ sie
ein.
Das
Zimmer war ganz nett und freundlich möbliert: Ein Sopha mit braunem
Ripsüberzuge, zwei Schränke von hellem Holz, ein Spiegel zwischen
den Fenstern, ein kleiner Teppich, auf einer Kommode eine Uhr und
zwei Leuchter. Das Stübchen schien für den Empfang eines Besuches
aufgeräumt worden zu sein, denn es lag nichts von den Sachen des
Bewohners umher. Eine halb offene Thür ließ ein ebenfalls gut
eingerichtetes Schlafzimmer sehen. An den Fenstern waren saubere
Gardinen und einige blühende Pflanzen. Die Aussicht über ein freies
Feld und eine Reihe Bäume entschädigte für die Häßlichkeit, die
der Eingang bei der Wohnung bot. Der Inhaber dieser Stuben, ein
junger Mensch von etwa zwanzig Jahren, war sorgfältig, wenn auch
nicht elegant gekleidet.
«Gott
sei Dank, daß Sie da sind Herr Rast,» sagte Lydia und sank
erschöpft auf das kleine weiche Sopha nieder.
«Der
Dienstmann hat alles richtig an mich telefoniert, gnädige Frau,»
antwortete Friedrich Rast lächelnd. «Mein durchreisender Vater
wünscht mich zu sprechen, der Provisor hat mich daraufhin beurlaubt,
hier bin ich, und auf meinem bescheidenen Sopha sitzt ja nun auch
mein ehrwürdiger Alter.»
«Lassen
Sie die Scherze, Herr Rast, ich bin sehr aufgeregt und habe es eilig.
Mein Mann hat unsere Abreise früher angesetzt, und mein Vorrath
reicht höchstens noch drei oder vier Tage. Ich brauche mindestens
zwölf Gramm für die Saison in Heringsdorf. Rechnen Sie doch –
sechs Gramm geben ein Fläschchen für hundert Einspritzungen,
eigentlich bekommt man aber nur etwa achtzig heraus, durchschnittlich
brauche ich vier am Tage, also in drei Wochen ein Fläschchen, das
macht zwölf Gramm in sechs Wochen.»
«Zwei
Gramm jede Woche, das ist zu viel, gnädige Frau.»
«Was
geht Sie denn das an? Hier sind Einhundertundzwanzig Mark, das Gramm
zu zehn Mark gerechnet; bei unserer Medicinaltaxe von sechzig
Pfennigen für das Gramm können Sie doch mit dem Geschäfte
zufrieden sein.»
Der
junge Apotheker schob fünf von den Goldstücken mit verlegener Miene
zurück. «Ich habe nur zwei Gramm. — —»
«Aber
Herr Rast! » Lydia wurde todtenbleich und sah den jungen Mann so
entsetzt an, daß er einiges Mitleid empfand.
«Ich
habe wahrhaftig nicht die Absicht, Ihnen Schwierigkeiten zu machen,
Frau Geheimräthin,» aber heute war es nicht möglich. Es fehlt eine
Menge von hundert bis hundundfünfzig Gramm in der Apotheke. Der Chef
hat gerast und getobt und uns Alle Morphiomanen genannt. Einer von
uns muß es ja am Ende auch sein, denn ich habe noch nie mehr als
zehn Gramm auf einmal genommen. Es giebt gewiß unter uns Apothekern
ebenso viele Morphiumsüchtige wie unter den Ärzten. Vielleicht aber
bin ich auch nicht der Einzige, der das Mittel heimlich verkauft, —
die Versuchung ist ja so groß. »
Ein
Zug, wie von körperlicher Qual trat auf Lydias Gesicht. «Herr Rast,
denken Sie noch an den Abend, wo Sie auf der Brücke hinter dem
Theater standen?» fragte sie mühsam.
«Ja,
ich denke daran, so oft sich mein Gewissen regt über das, was ich
für Sie thue, gnädige Frau. Meine Schulden betrugen damals nur etwa
hundert Mark, aber ich habe acht Geschwister, ich hätte doch diese
Schulden nicht machen dürfen. Das kleine Kolonialwarengeschäft
meines Vaters ernährt kaum die Familie. Anstatt von meinem ersten
Gehalt nach Hause abzugeben, was ich dank Ihrer Güte jetzt kann,
mußte ich von meinem armen Vater hundert Mark fordern, die er mir
natürlich nicht geben konnte. Es war hart— eine furchtbare Strafe
für meinen Leichtsinn.» ——
«Ich
habe Sie damals vor einem Schritte der Verzweiflung bewahrt, wollen
Sie mich dafür jetzt verzweifeln lassen, Herr Rast?»
«Aber
Frau Geheimräthin, verzweifeln Sie denn, wenn Ihre Morphiumquelle
einmal versagt?»
«Ja,»
antwortete sie dumpf. «Ohne Morphium muß ich verzweifeln. O, mein
Gott, man giebt doch den Ärmsten Almosen, warum versagt man dem
Kranken das, was ihm Lebensbedürfniß, was ihm nöthiger ist als das
tägliche Brot!»
«Es
liegt eine große Härte in dem Verbot des Verkaufs,» sagte der
junge Mann mitleidig. «Es ist auch eine ganz unnütze Härte, denn
sie dient nur dazu, die Verkäufer in Versuchung zu führen und die
Kranken zu Lug und Trug zu veranlassen. Ist es nicht eine Schmach,
daß eine Dame wie Sie, gnädige Frau, in dieses Haus kommen muß, um
so einen armen Teufel wie mich für eine Handlung zu bezahlen, die
meine Existenz kosten kann?»
«Ja,
es ist eine Erniedrigung, eine Schande für uns Beide, für Hunderte
außer uns, aber wir können die Ungerechtigkeit nicht aus der Welt
schaffen, die dem Einen ruhig das anvertraut, wonach sich die
Sehnsucht des Anderen vergeblich verzehrt. Wenn nur der
Morphiumhunger nicht immer stärler und stärker wiederkehrte bei
dem, der einmal an das Reizmittel gewöhnt ist. Ich kann nicht leben
wenn ich kein Morphium habe, sagen Sie mir, wie machen es Andere, die
dasselbe Bedürfnis empfinden?»
«Andere
fälschen Recepte!»
«Und
das geht?»
«Ja,
es geht oft. Die meisten Kranken greifen zu diesem Mittel, denn
Wartepersonal oder Droguisten sind doch schließlich nur selten
bestechlich. Noch seltener aber sind gefällige Ärzte, die das
Mittel aus der Hand geben. Außerdem erhält man es auf ein
gefälschtes Recept hin auch zum landesüblichen Preise, was
ebenfalls die meisten Menschen berücksichtigen müssen. Natürlich
werden aber in allen Apotheken die Recepte über Chloroform, Äther,
Cocain, Chloral, Morphium und ähnliche Mittel genauer angesehen als
andere Vorschriften.»
«Und
wenn man eine Fälschung entdeckt?»
«Dann
schickt in der Regel der Profisor das Recept demjenigen Arzte zu, auf
dessen Namen es gefälscht wurde.»
Lydia
schlug die Hände in furchtbarer Aufregung vor das Gesicht und
schluchzte krampfhaft. «Ich vermöchte eine solche Schmach nicht zu
überleben.»
«O,
das passiert aber so oft,» meinte er gleichmüthig.
Sie
starrte fassungslos vor sich hin. «Herr Rast, wie ist das, wie wird
es gemacht — —Recepte zu fälschen?»
Er
legte zwei abgestempelte Recepte vor sie hin. «Da sehen Sie, das
sind zwei echte Recepte von zweien unserer ersten Chirurgen. Das eine
lautet auf eine fünf — das andere auf eine vierprocentige Lösung.
Stärkere Vorschriften sind gewöhnlich unecht. Hier haben Sie Papier
und Feder, gehen sie an die Fensterscheibe und pausen Sie die beiden
Recepte durch, zur Vorsicht machen Sie sich zwei Exemplare von jeder
Vorschrift. Dann können Sie durch Dienstmänner oder Kinder, die Sie
dafür bezahlen, die Recepte beide machen lassen. Ich kann Ihnen
leicht durch Abdampfen in einem Filtrierapparat die dünnen Lösungen
etwas verstärken. Aber entschließen Sie sich rasch, damit ich die
Recepte in das Buch zurücklegen kann, ehe sie vermißt werden.»
Widerstrebend
griff Lydia nach dem Schreibmaterial, das ihr der junge Mann anbot.
Sie kam sich maßlos erniedrigt vor durch die gesetzwidrige Handlung,
die sie vor diesem Zeugen zu begehen im Begriff stand.
Was
mußte dieser, gesellschaftlich tief unter ihr stehende leichtsinnige
junge Mensch von ihr denken — von ihr, die von dem eigenen Gatten,
von allen Menschen, die sie kannte, mit Auszeichnung behandelt wurde!