Sie
ließ die Feder, die schon einige Striche gemacht hatte, sinken.
Thränen stürzten ihr aus den Augen. «Ich kann es nicht.» —
«Dann
müssen Sie aber eine Entziehungskur durchmachen, auf einmal kann man
dem Morphium nicht entsagen.» erklärte der Apotheker. Dabei glitt
etwas wie Freude über sein energieloses, junges Gesicht.
«Ich
will aber garnicht entsagen,» schluchzte die junge Frau. «Das
Gesetz soll mich nicht dazu zwingen, das Gesetz geht mich überhaupt
garnichts an, ich thue nichts, was irgend einen Menschen in der Welt
Schaden zufügen könnte.»
«Sie
schaden sich selbst.»
«Das
ist doch ausschließlich meine Sache. Nein diese Bevormundung ist
wirklich empörend!»
«Wenn
ich etwas bei Seite bringen kann, schicke ich es Ihnen in einem
Briefcouvert,» tröstete er, ihr die zwei Gramm hinschiebend, die er
besaß.
Sie
steckte das Pulver ein und trocknete ihre Thränen. «Haben Sie
keinen Bekannten, der mir helfen könnte?» fragte sie aufstehend.
«Vielleicht
wäre das möglich,» sagte er nachdenklich. Außer in Apotheken wird
das Morphium in einzelnen größeren Droguingeschäften geführt.
Dort darf allerdings nur der Besitzer die Recepte machen, die jungen
Leute haben kein Examen gemacht und dürfen es nicht.»
«Ich
mache mir ja die Lösung selbst zurecht, wenn mir nur jemand die rohe
Ware verschafft. Können Sie mir wirklich niemanden empfehlen?»
«O
doch ich glaube, ich kann es. Ferdinand Preyer ist ein so blutarmer
Junge, daß er mehr als hochachtbar sein müßte, wenn er einem
Angebote von zehn Mark für das Gramm zu widerstehen vermöchte.»
«Ist
er gewissenhaft und ängstlich?»
«Ich
fürchte allerdings, daß er das ist, aber wenn er den Betrag für
die entnommene Ware in die Ladenkasse legt, so kann es seinem
Principal doch einerlei sein, was dafür verkauft wurde.»
«Sie
müssen versuchen, ihn zu überreden.»
«Ich
will thun, was ich kann. Seine Mutter ist eine arme Wittwe, zwei
Schwestern von Preyer dienen als Stütze der Hausfrau. Die Beiden und
Ferdinand, der neunzig Mark Gehalt im Monat hat, unterstützen die
Mutter. Drei Kinder gehen noch in die Schule. Von irgend welchem
Vergnügen ist für Preyer niemals die Rede. Der arme Kerl ißt sich
kaum satt; — es wäre einfach übermenschlich, wenn er Ihnen kein
Morphium verschaffte; ich gönne ihm auch den Verdienst.»
Lydia
ging nun, nachdem sie mit Friedrich Rast verabredet hatte, Abends um
acht Uhr wieder in dessen Wohnung zu sein, um daselbst mit Ferdinand
Preyer zusammen zu treffen. Er versprach ihr den jungen Mann
herzubestellen und ihn auf das an ihn gestellte Verlangen
vorzubereiten.
Nachdem
sich der junge Apotheker überzeugt hatte, daß der Corridor
augenblicklich menschenleer war, eilte seine Besucherin hastig die
Treppe hinab, ängstlich den Schleier vor ihr verweintes Gesicht
ziehend.
In
der Nähe des Hauses fand sie zufällig eine leere Droschke. Von der
Aufregung und Angst aufs äußerste erschöpft, stieg sie ein und
fuhr zu einer Modistin. Darauf besuchte sie noch einige
Ladengeschäfte; sie zwang sich dazu, Einkäufe für ihre und der
Kinder Toiletten zu machen, um die wild durch ihr Hirn stürmenden
Gedanken und Besorgnisse zu überwinden. Es gelang ihr schließlich
auch, sich wieder so weit zu fassen, daß sie ihren Kindern und ihrem
Manne unbefangen gegenübertreten und wie gewöhnlich am Mittagessen
theilnehmen konnte.
Die
Kinder waren so lebhaft, daß sie oft bei Tische Veranlassung zu
herzlichem Lachen der Eltern wurden und auch heute führten sie
wieder die Unterhaltung, ohne von ihrem Fräulein, das selbst so
gerne lachte, erheblich daran gehindert zu werden.
Nach
dem Essen forderte Lydia das Fräulein auf, mit ihr und den Kindern
spazieren zu fahren, während der Geheimrath, der später noch in
sein Büreau mußte, sich etwas zur Ruhe zurückzog.
Unterwegs
befestigte sich in Lydia die Überzeugung, daß sie mit der Wahl des
neuen Fräuleins ihren Kindern eine wahre Wohlthat erwiesen hatte.
Fräulein Hedwig war so herzlich, von so natürlicher Heiterkeit und
selbstloser Hingabe, daß die Herzen der Kinder sich ihr zuwandten
wie Blumenkelche dem Sonnenlicht.Während der Fahrt durch den warmen
schattigen Waldweg plauderten und jubelten die Kleinen
ununterbrochen, während die Mutter ihnen schweigend und verstimmt
gegenüber saß. Sie konnte ihre Gedanken nicht davon losreißen, auf
welche Weise sie sich wohl für die Zukunft das Mittel verschaffen
könne, das doch nur ihr allein ein egoistisches Genießen gewährte,
an dem kein anderer Mensch Antheil nahm.
In
fröhlicher Stimmung kehrte die kleine Gesellschaft nach Hause
zurück. Lydia fühlte ihre Nerven etwas ruhiger werden; so vermochte
sie ihrem Manne, der die Seinen schon im Garten empfing, freundlich
entgegen zu treten.
Er
gab seiner zurückkehrenden Frau einen erbrochenen Brief und
entschuldigte sich, daß er so indiscret gewesen war, denselben zu
öffnen.
«Der
Überbringer sagte mir auf meine Frage, daß er in einer Brauerei in
der Humboltstraße arbeite. Das erschien mir so eigentümlich, daß
ich nur eine Bettelei vemuthen konnte. Ich wußte nicht, daß Dein
Schuster so weit draußen wohnt. Bist Du denn mit Deinem bisherigen
Lieferanten in der Hauptstraße nicht mehr zufrieden?»
Lydia
fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg bei dieser harmlosen
Frage ihres Mannes. Was für ein endliches Verhängniß zwang sie
doch, Lügen — ganz gemeine Lügen zu ersinnen. Wie unwürdig, wie
erbärmlich stand sie da vor sich selbst und vor Friedrich Rast, der
ihr auf diese Weise eine Mittheilung zukommen ließ!
Sie
griff nach dem Blatte: «Gnädigste Frau habe ich zu benachrichtigen,
daß Ferdinand Preyer die gewünschten Waren nicht liefert. Weiß nun
nicht, ob die Schuhe mit Stahlperlen oder schwarzen Schleifen
garniert werden sollen und bitte um weitere Befehle. Hochachtend,
Friedrich Rast.»
Sie
las, und es wurde ihr dunkel vor den Augen, als sie zu Ende war.
Ferdinand Preyer lieferte also die gewünschten Waren nicht! Der arme
Commis, der von seinem geringen Gehalte noch seine Mutter
unterstützte, verschmähte das Gold, das die reiche Frau ihm bot,
wenn er mühelos ein Vorrecht benutzte, das der Zufall in seine Hand
gelegt hatte. Sie hatte versucht, einen armen Menschen zu bestechen,
ihn zu einer Pflichtverletzung zu verführen, sie bot ihm ein
Verdienst, das seine ganze Lage ändern, ihn und die Seinen aller
Sorgen entheben konnte und er — — — «lieferte die gewünschten
Waren nicht.»
Was
für ein Ungethüm von Pedanterie mußte dieser unbestechliche junge
Mann sein! Was für eine Willenskraft mußte er besitzen, um in
seinem freudlosen genußleeren Dasein nicht überhaupt für seine
eigene Person nach dem Morphium zu greifen, das ihm doch erreichbar
war! Ob er wohl in seiner übertriebenen Pflichttreue Ähnlichkeit
mit Fräulein Hedwig hatte, die auch ein Leben der Armuth und Arbeit
mit innerer Befriedigung hinnahm, ohne zu einem Betäubungsmittel zu
greifen? Ob er wohl auch so froh, so innerlich glücklich, so reich
an Liebe war, wie dieses Mädchen?
Etwas
wie Haß und Neid regte sich in Lydia’s Herzen. Sie hätte sich
rächen mögen an dem, der ihr diese Schwierigkeiten bereitete.
«Du
ärgerst Dich wohl über Ferdinand Preyer, der Dir die letzte
Ergänzung einer hübschen Toilette zu versagen scheint, Kind?»
Lydia
starrte noch immer wie betäubt auf das Briefblatt in ihrer Hand. Die
Stimme ihres Mannes schreckte sie auf, sie sah in sein gütig
lächelndes Antlitz.
«Es
handelt sich um eine Lederstickerei, ehe der zugeschnittene Schuh
fertig gemacht wird, Arnold, dieser Preyer ist langsam und
ungefällig,» log sie, halb bewußtlos vor lähmendem Schrecken.
Bremer
lachte. «Das Unglück scheint mir nicht groß zu sein, Liebling»,
tröstete er.
«Schwarze
Schuhe sind doch immer das hübscheste für einen so zierlichen Fuß,
wie du ihn besitzt.»
Dann
verabschiedete er sich von seiner Frau, die sich kaum noch zu
beherrschen vermochte, küßte die Kinder und fuhr nach seinem
Büreau.
Als
Lydia das Geräusch der sich entfernenden Räder hörte, hielt sie
nicht länger an sich. Sie wandte sich jäh ab von den Kindern und
dem Fräulein, stürzte die Treppe hinauf, schloß sich in ihrem
Schlafzimmer ein und warf sich vor ihrem Bett auf die Kniee.
Auf
irgend eine Weise mußte sie ihrer leidenschaftlichen Aufregung Luft
machen, so drückte sie denn ihr Gesicht auf ein Kissen und schrie —
schrie so laut und so lange wie sie konnte, bis endlich die Thränen
kamen und ein krampfartiges hysterisches Weinen ihr Erleichterung
brachte. Dann setzte sie sich an den Toilettentisch, nahm wieder
Morphium, badete ihr Gesicht in kaltem Wasser und versuchte
mechanisch ihren Anzug, ihr Haar und ihren Teint wieder in Ordnung zu
bringen. «Was nun?» fragte sie sich nach Beendigung ihrer Toilette
mit einem trüben, starren Blick in den Spiegel. — Ja, was nun?
Sie
nahm eine Gebetschnur und kniete vor dem Bilde der Mutter Gottes
nieder. Heute an ihrem höchsten Ehrentage würde die Heilige
sicherlich die Gebete der Menschen mit besonderer Gnade aufnehmen.
Sie wollte um Erleuchtung bitten, um Frieden, um Ruhe der Seele. Mit
Selbstüberwindung sprach sie die vorgeschriebenen Worte, aber die
Seele ließ sich nicht zwingen, mit den Lippen zu beten. Ihre ganze
Seele schrie nach Morphium, nur allein nach dem Mittel, auf dessen
Erlangung sich jetzt nach den Enttäuschungen dieses Tages eine
krankhafte Leidenschaft concentrierte. Sie ließ sich schließlich
gehen in ihrem unstillbaren Drange. Die hohe göttliche Jungfrau
versteht ja die Schwäche des Weibes, hat sie doch selbst einst in
der Gestalt einer irdischen Jungfrau gelebt. So betete Lydia endlich
ganz offen und kindlich um Morphium. «Gieb es mir, Gebenedeiete»,
flehte sie, «ich will auch vor Dir wandeln wie eine Christin und
meine Kinder will ich lehren, Dich zu lieben. Dich zu ehren und
anzubeten.»
Den
Menschen bot sie Gold, der Himmlischen bot sie die Seelen ihrer
Kinder, für sich aber begehrte sie nur das Eine — mochten es ihr
Menschen oder Engel gewähren — nur das, was sie nicht lassen
konnte, was sie haben mußte und was man ihr grausam versagte.
Beruhigt
und gestärkt stand sie vom Gebet wieder auf. Ein Gedanke, den ihr
wahrscheinlich die Hochheilige selber eingab, blitzte durch ihr
Gehirn. Turnau — Doctor Turnau mußte ihr helfen. Sie war fest
überzeugt, daß dieser Plan von der heiligen Jungfrau selbst in ihr
Herz gelegt war; so konnte er also nicht fehlschlagen.
Sie
brauchte nur der Barmherzigen zu vertrauen, so erhielt sie gewiß,
was sie so glühend ersehnte.
Sie
ließ eine Droschke holen und fuhr nach der Nervenheilanstalt des
Professors Schrödter, in der Turnau wohnte.
In
dem ruhigen Vertrauen auf das Gelingen ihres Planes war die
fieberhafte Aufregung, die sie vorhin erfüllte, gewichen. Sie ließ
den Wagen einen Umweg machen und fuhr am Kirchhofe vorbei. Eine Frau
mit mehreren Körben voller Kränze und Blumen hatte für den Festtag
an der Kirchhofsthür einen Verkauf eingerichtet. Lydia stieg aus,
kaufte zwei Kränze von dunkelrothen Rosen und legte sie mit einem
stillen Gebet auf die Gräber ihrer Eltern.
«Das
Andenken der Gerechten bleibt im Segen.» Das war die Antwort, die
diese Stätte der Erinnerung ihr gab, auf alle die bangen Fragen, die
ihr Herz durchstürmten. Möchte der Segen an ihr in Erfüllung gehn
auf dem Wege, den sie jetzt ging.
Mit
diesem Wunsche im Herzen betrat die junge, bildschöne Frau gleich
darauf die Junggesellenwohnung eines eleganten Lebemannes. Die
Leidenschaft, die sie hierhergeführt hatte, ließ sie vergessen, was
in ihrer Lage peinlich und anstößig war.
Auch
Turnau trat ihr unbefangen entgegen, fast als hätte er diesen
ungewöhnlichen Besuch erwartet.
Er
ergriff Lydias Hände, sah ihr in die Augen und mit einem milden
gütigen Lächeln, das sein regelmäßiges Gesicht außerordentlich
schön erscheinen ließ, fragte er leise: «Sie wollen Morphium
haben, nicht wahr, Frau Bremer?»
Wenn
er jetzt die Arme um sie gelegt und sie an sich gezogen hätte, so
wäre sie sein gewesen, willenlos, selig, ohne jedes Widerstreben.
Sie hatte bei ihrem Manne nie die wahre Gluth der Liebe kennen
gelernt und sie war nie ganz verstanden. Jetzt sah sie sich
verstanden und fand ein Entgegenkommen, das sie bis in die Tiefe des
Herzens tröstete und beglückte.
Statt
aller Antwort wandte sie sich von dem Freunde ab und weinte
bitterlich.
Dieser
Gefühlsausbruch setzte ihn nicht in Verlegenheit, regte ihn aber
auch nicht auf. Er versuchte nicht, seine hübsche Freundin zu
trösten, sondern nahm ihr gegenüber Platz und erwartete mit dem
ruhig beobachtenden Blicke des Arztes, was sie thun würde.
Sie
fühlte bald, daß ihr Benehmen nicht mit den üblichen Formen des
Verkehrs in Einklang zu bringen sei und suchte sich gewaltsam zu
fassen.
«Wie
hübsch Sie eingerichtet sind», sagte sie, ihre Thränen trocknend,
«gar nicht wie ein Gelehrter, viel eher wie ein die Schönheit
liebender Künstler — sogar Blumen finden bei Ihnen die nöthige
Pflege . . . »
«Ich
habe ein kleines Abonnement bei einem Gärtner, gnädige Frau», er
nahm die Rücksicht, ihre Erregung unbeachtet zu lassen und auf den
Ton einzugehen, den sie anzunehmen sich bemühte, »persönlich habe
ich eigentlich kein Interesse für Botanik, nur als Zimmerdekoration
liebe ich Pflanzen. Ich verstehe nämlich etwas vom Decorieren, mein
Talent dafür hätte sicherlich ausgereicht zum Tapezierer, wenn
nicht gar zum Regisseur.»
Die
reiche, geschmackvolle Ausstattung des Zimmers bestätigte seine
Worte. «Ich sehe hier gar keine anatomischen Präparate», bemerkte
Lydia, erstaunt um sich blickend.
«Nein,
damit umgebe ich mich nicht. Die Anstalt hat Räume genug, wo man
solche Sachen aufstellen kann, ohne damit die Harmonie des einzigen
Zimmers zu stören, das man wirklich bewohnt. Ich bin nämlich sehr
häuslich, gnädige Frau. Die Biergespräche meiner Altersgenossen
interessieren mich so wenig, daß ich fast jeden Abend zu Hause
bleibe, um mich derjenigen Lectüre widmen zu können, die mich
interessiert. Ich wüßte kaum, was ich in einer Kneipe anfangen
sollte, da ich außerdem sehr mäßig in materiellen Genüssen bin,
ich trinke beispielsweise fast nichts.»
«Und
doch gelten Sie für recht unsolide, darf ich es sagen — sogar für
blasiert.»
«Ich
bin auch blasiert, meine gnädigste Frau, Sie dürfen das ganz ruhig
sagen. Eine ärmliche Umgebung wäre mir unerträglich, und wenn ich
mich hier zwischen meinen eigenen Sachen am wohlsten fühle, so ist
das nicht etwa häusliche Tugend, sondern Bequemlichkeit —
Blasiertheit, wenn Sie wollen.»
«Nein,
nein, machen Sie sich nur nicht schlecht», sie konnte schon wieder
lächeln, wie sie das sagte, «es muß und wird noch dahin kommen,
daß Ihre Tugend allgemein anerkannt wird.»