III.
Fräulein
Hedwig Wagner hatte von ihrer Herrschaft die Erlaubniß erhalten,
eine durchreisende Freundin am Bahnhofe begrüßen zu dürfen. In
freudiger Erwartung verließ sie die Villa und ging eilig in der
herrlichen feuchtwarmen Luft des Sommerabends dahin. Selbst die
belebtesten Verkehrsstraßen waren ohne Staub und frei von Hitze. Nur
in der großen grell erleuchteten Bahnhofshalle war nichts von der
wundervollen Temperatur zu bemerken, die draußen herrschte; es war
dumpf und heiß unter den von Kohlenstaub erfüllten gewaltigen Bogen
dieses Gebäudes.
Erwartungsvoll
stand das junge Mädchen inmitten der sich drängenden Menschenmasse,
um sie her brauste und lärmte das Leben des großen Verkehrs. Ein
Vorortzug fuhr ein, hielt, pfiff und dampfte weiter.
Da
gellte ein gräßlicher Schrei durch die Luft, tausendstimmig wurde
er von der Menge zurückgegeben und brach sich wiederhallend an der
Wölbung der Decke.
Ein
Mann war beim Einsteigen ausgeglitten und war unter die Räder des
Zuges gekommen.
Man
zog den Verstümmelten hervor und der Zug fuhr ab. Zuerst wurde ein
allgemeines Unglück befürchtet; als man aber sah, daß keine Gefahr
vorhanden sei, beruhigte sich die Menschenmenge bald, die Panik
verflog rasch wie sie gekommen war, das lebensgefährliche Gedränge,
das auf den furchtbaren Schrei gefolgt war, hörte sofort wieder auf.
— Ein eigentliches Eisenbahnunglück war ja nicht geschehen. Es
hatte nur noch jemand einsteigen wollen, als sich der Zug schon in
Bewegung gesetzt hatte. Das alte Unglück, es kommt so oft vor, wer
sollte sich wohl besonders darüber aufregen! Kaum eine Minute hatte
das gräßliche Ende eines Einzelnen den fluhtenden Strom des
großstädtischen Lebens ins Stocken gebracht.
«Es
wird ein Kranker aus der Irrenanstalt des Professor Schrödter
vermißt, hier ist das Signalement, das seine Abreise verhindern
soll», sagte ein Schutzmann, auf den Bahnhofsvorsteher zutretend.
Der
Beamte überflog das Signalement. «Lassen Sie uns den Verunglückten
recognoscieren, die Sache wird stimmen.»
Rasch
bahnten sich die beiden Männer einen Weg durch die Menge. Der
Tragkorb, in dem der Überfahrene lag, wurde niedergesetzt, es wurde
festgestellt, daß man den vermißten Patienten der Nervenheilanstalt
vor sich hatte, die Träger erhielten deshalb die Weisung, den
Sterbenden dorthin zu bringen.
Fräulein
Wagner begrüßte ihre Freundin, aber die Freude war ihr doch durch
das Unglück verleidet, das sie mit angesehen hatte. —
An
der Thür der Klinik empfing der Professor selbst den
Krankentransport. Er war im Begriffe, in einen wissenschaftlichen
Verein zu gehen, wo er einen Vortrag über medicinische Fragen zu
halten hatte. In dem Verunglückten erkannte er sofort einen
Apotheker, der ihm von seinen Angehörigen als Morphinist überwiesen
war. Schon hatte er gehofft, den Kranken bald als geheilt entlassen
zu können; nun sah er ihn sterbend vor sich, mit abgefahrenen Beinen
und blutendem Kopfe. Der Professor hatte einen Vortrag zugesagt, er
mußte fort.
Eilig
ordnete er an, daß der Verwundete, der zu Turnau’s Station
gehörte, dem Assistentsarzte sofort zu übergeben sei, in zwei
Stunden werde er selbst nachsehen; damit stieg er in die auf ihn
wartende Droschke.
Der
Oberwärter leitete den Transport nach dem, in diesem Hause selten
benutzten Operationszimmer; die diensthabende Schwester erhielt den
Auftrag, den Stationsarzt zu benachrichtigen.
Geräuschlos
trat Schwester Clarissa in Turnau’s Zimmer. Er lag auf einem
niedrigen, weichen Sopha und erhob kaum den Kopf, um sich nach der
Eintretenden umzusehen.
Die
junge Nonne, der vielleicht noch von ihrem weltlichen Leben her eine
solche Formlosigkeit unangenehm war, berichtete mit den knappsten,
notwendigsten Worten von dem Unglücksfall und den Dispositionen, die
der Professor darüber getroffen hatte. Ohne eine Antwort abzuwarten,
verließ sie darauf den Arzt.
Turnau
richtete sich langsam und mit Mühe auf, sein Gesicht bedeckte eine
fahle Blässe, die Augen waren glanzlos, die eiskalten Hände
zitterten. Die schönen, regelmäßigen Gesichtszüge waren entstellt
durch eine tödtliche Schwäche, die jeden Ausdruck verwischte.
Schlaff lagen die Muskeln unter der welken Haut. Nur noch die aller
concentriertesten Morphium-Lösungen vermochten seinen abgestumpften
Nerven Anregung zu geben. Er combinierte seine Injectionen mit Äther
und sogar mit Chloroform. Trotzdem versagte die Wirkung zuweilen
schon nach ganz kurzer Zeit. Es folgte dann eine an Bewußtlosigkeit
streifende Schwäche. Vorübergehend erinnerte dieser Zustand an
Schlaf, bald aber pflegte der Unglückliche zu erwachen. Seine Pulse
jagten, er hörte das Blut im Kopfe brausen und hämmern,
Sehstörungen quälten ihn, Lichter und Funken sprangen vor ihm auf.
Die Geräusche des Blutes steigerten sich ihm zu geheimnißvollen,
grauenhaften Tönen, er glaubte, Worte daraus hervorklingen zu hören,
Worte und Rufe, die ihn in Verzweiflung und Todesangst stürzten.
Schließlich steigerte sich dieser Zustand zu einer nervösen
Aufregung, die hart an die Grenze des Wahnsinns streifte und ihn
zwang, mit zitternden Händen, mit umflorten Blicken und stockendem
Herzschlag wieder und wieder zur Morphiumspritze zu greifen.
So
abgestumpft auch schließlich die Nerven waren, sie mußten angeregt,
sie mußten künstlich gereizt werden, weil der Zustand der
Ernüchterung einfach nicht mehr zu ertragen war.
Man
schläft nicht mehr, wenn man ein gewisses Stadium des Morphinismus
hinter sich hat.
Tag
und Nacht verlangen die zerrütteten Nerven ihr Linderungsmittel, Tag
und Nacht dauert die krankhafte Erregung. Kommt aber dann einmal die
Stunde, wo die Nerven nicht mehr darauf reagieren, wo kein Mittel
mehr hilft, so kommt auch der Tod.
Unter
entsetzlichen Qualen, die nichts mehr zu lindern vermag, geht der
vergiftete Körper zu Grunde. Den Geist umnachtet dann in der Regel
der Wahnsinn.
Turnau
wußte, daß er diesem Ende nicht mehr sehr fern war. Mit großer
Energie versuchte er bisweilen einzelne Stunden der Ernüchterung
auszuhalten. Je länger er die schmerzhafte Schwäche ertragen hatte,
um so genußreicher war dann nachher die Wirkung der von neuem
angewendeten Mittel.
In
einer solchen Stunde großer Leiden störte ihn die Botschaft seines
Chefs.
Der
farbige Schleier, der die Lampe verhüllte, hatte die Schwester
seinen Zustand übersehen lassen. Er hatte von dem, was sie gesagt
hatte, nichts verstanden. Er wußte nur, daß sie ihn rief, daß die
Erfüllung ärztlicher Pflichten von ihm gefordert wurde.
Noch
nie hatte er seine Stellung als Assistent so drückend als Fessel
empfunden. Seine Mittel erlaubten ihm, ohne Ausübung eines Berufes
zu leben, wo und wie er wollte. Im Interesse seines Buches, um der
Studien willen, die er hier machte, hatte er diese Abhängigkeit bis
jetzt ertragen. Nun fühlte er aber, daß es Zeit für ihn sei, sich
frei zu machen. Er war noch auf zwei Monate verpflichtet. Wenn er
jetzt auch beschloß, sich krank zu melden und Ersatz für seine
Thätigkeit zu stellen, so konnte ihm das doch in diesem Augenblicke
nicht helfen. Die Stationsschwester hatte ihn gerufen — er mußte
kommen.
Mehrere
Minuten vergingen, bis er dazu im Stande war. Seine Mittel lagen
bereit, aber ihre Wirkung war keine unmittelbare. Erst nachdem er
mehrere combinierte Injectionen in ganz kurzen Zwischenräumen
angewendet hatte, war er soweit, daß er wieder zusammenhängend zu
denken vermochte.
Im
Operationszimmer ließ er sich den Vorfall, der ihm schon berichtet
war, noch einmal erzählen, ehe er an die Bahre trat, auf der der
Verunglückte lag. Es war kein anderer Arzt zu Hülfe gekommen. Dem
hochmütigen und blasierten Turnau kam ohne eine Bitte von seiner
Seite niemand auf die Station. Er dachte indessen nicht daran, einem
seiner Collegen deshalb ein gutes Wort zu geben. Ein für alle Mal
hielt er sich von jeder Vertraulichkeit, von jedem zwanglosen Verkehr
fern. Jetzt war er geistig vollkommen klar, er beherrschte sein
Wissen und seine Gedanken, er brauchte niemanden.
Der
Anblick, den der Verwundete darbot, war grauenhaft. Beide Beine waren
an den Oberschenkeln abgequetscht. Das eine lag bei den blutigen
Sachen, die das Wartepersonal von dem zerfetzten Körper lostrennte.
Das Andere hing noch lose durch Fleisch und Muskeln verbunden am
Körper, der zersplitterte Knochen lag frei.
Schwester
Clarissa suchte dem enormen Blutverluste vorläufig Einhalt zu thun.
Turnau
beugte sich über diese ächzenden, wimmernden Überreste eines
menschlichen Leibes, er erkannte sofort, daß der Verwundete bei
vollem Bewußtsein war.
«Chloroform»,
stöhnte der Mensch.
«Gewiß,
gleich, aber es könnte Ihnen die Besinnung zu früh nehmen, ich will
Ihnen erst etwas anderes geben, was den Schmerz auch stillt; Sie
haben doch vielleicht noch irgend etwas zu sagen», antwortete
Turnau.
«Nein,
jetzt nicht mehr, es ist zu spät, jetzt will ich kein Morphium mehr.
Jetzt lasse ich mich ja heilen, rasch, rasch, heilt mich doch, ich
halte ja still, ich thu’s nicht mehr heimlich», kam es kaum
vernehmlich über die blaugrauen Lippen.
Der
junge Arzt legte die Flanellmaske auf. «Sind Sie ein Selbstmörder?
» fragte er dabei.
«Nein,
nein, es war nur ein Fluchtversuch — ein Unglück. Man wollte mich
heilen, gegen meinen Willen — ich will nicht geheilt sein —»
«Ja,
ich verstehe Sie. Man wollte Sie zu einem anderen Berufe zwingen,
weil Sie als Apotheker doch wieder dem Morphium verfallen wären, das
wollten Sie nicht.»
«Ich
will nicht — ich will nicht. — — —»
Das
Bewußtsein schwand, Turnau führte die nothwendige Amputation aus,
Schwester Clarissa arbeitete ihm wunderbar in die Hand.
Augenscheinlich war der Körper, als die Beine unter ihm weggerissen
wurden, mit furchtbarer Wucht hintenübner auf die Steinplatten des
Bahnhofes geschleudert, denn es wurde auch ein complicierter
Schädelbruch festgestellt.
Nachdem
die Verbände angelegt waren, fragte die Schwester, ob Turnau den
Stumpf des anderen Beines, der im Notverband lag, nicht auch abnehmen
wolle.
«Keinenfalls,
ohne ausdrückliche Anweisung des Professors,» antwortete der junge
Mann, sich eifrig die Hände waschend.
«Chloroform»,
stöhnte der Kranke, der schon wieder zu sich kam, da er als
Morphinist sehr unempfänglich für die Einwirkung narkotischer
Mittel war.
Turnau
trat an den Tisch heran. «Ich darf Ihnen jetzt höchstens Morphium
geben,» erklärte er. «Die Operation ist vorüber, eine andauernde
Narkose könnte höchstens den Erfolg haben, Ihr Leben abzukürzen,
vielleicht sehr rasch zu enden.»
«Was
liegt daran» — murmelte der Unglückliche. Turnau wendete sich an
die dienende Schwester. «Geben Sie ihm immerhin Chloroform,» sagte
er leise, «der arme Kerl hat das Leben satt, ein Genuß mag es auch
in seiner Lage nicht sein.»
«Sie
sind kein Chirurg, Herr Doktor, wollen Sie bestimmt sagen, daß der
Kranke verloren ist?»
«Nein,
ich bin durchaus kein Chirurg,» bestätigte der junge Psychiatriker,
der nur so viel wie das Staatsexamen erforderte, von der Chirurgie
gelernt hatte. «Ich will dem Menschen auch durchaus kein
Todesurtheil sprechen, aber eine Chloroformnarkose will ich
verantworten.»
«Bitte,
dann führen Sie das auch selbst aus,» entgegnete die Nonne mit
ruhiger Würde.
Er
sah in das marmorkalte schöne Mädchengesicht. Was für ein Räthsel
war diese mitleidlose Härte den furchtbarsten Schmerzen gegenüber
bei einer Schwester, deren ganzes Leben der dienenden Liebe gewidmet
war.
Der
Kranke schrie und stöhnte herzzerreißend.
«Sehen
Sie nicht, wie er leidet?» fragte Turnau.
«Ich
sehe es, aber ich kann und darf nicht ändern, was Gottes Wille ist.
Wäre es nicht der Wille der Heiligen, daß dieser Mensch durch
Schmerzen zum Leben eingehen soll, so würde er nicht so leiden.»
«Aber
die Heiligen lassen auch zu, daß Menschen bei solchen Unglücksfällen
auf der Stelle todt sind» bemerkte Turnau.
«Es
steht auch geschrieben ›der Tod ist der Sünde Sold‹.»
Das
fürchterliche Geschrei des Operierten peinigte die Nerven des
kranken Mannes; er sah, daß mit der frommen Schwester nichts
anzufangen war; so ließ er sie bei ihrer Beschäftigung des
Aufräumens. Entschlossen griff er selbst nach der Chloroformmaske
und trat noch einmal an das Operationsbett heran.
Er
goß auf, nahm den Puls des Kranken in die Hand und sah unwillkürlich
um sich.
Das
ganze blutige Bild des Zimmers, der Geruch der Maske, des Jodoforms
und des Karbols erregte ihm schon nach wenigen Augenblicken einen
derartigen Ekel, daß er sich vollständig außer Stand fühlte, das
einmal übernommene Liebeswerk zu Ende zu führen.
Wie
sollte er auch eigentlich dazu kommen, sich kurz vor seinem Abgange
noch möglicher Weise mit dem Professor zu überwerfen um dieses
fremden, gleichgültigen Menschens willen!
Freilich,
auch dieser Kranke war Morphinist — gegen seinen Willen wollte man
ihn heilen — das Resultat des Versuches war diese Flucht,
vielleicht war es dennoch eine Flucht aus dem Leben gewesen.
Wie
hatte doch die Schwester gesagt? «Der Tod ist der Sünde Sold.» Vor
langer Zeit hatte Wilhelm Turnau diesen Spruch auch in der Schule
gelernt. Sollte er jetzt die Bedeutung der alten Lehre erkennen?
Aber
immerhin war dieser Kranke kein Opfer der Verkaufsbeschränkungen,
sondern nur ein Opfer verwandtschaftlicher Vorurtheile. Soweit hatten
ihn seine lieben Angehörigen gebracht, nun versagte auch noch die
erbarmende Liebe der Nonne seinen Todesqualen gegenüber. Sollte die
Einsicht des mit seinen Ansichten so allein stehenden Sonderlings
hier allein standhalten?
Wieder
schwand das Bewußtsein des Operierten. Der Puls setzte aus. Wenn ich
noch einmal aufgieße, ist er todt, sagte sich der Arzt. Zögernd
griff seine Hand nach der schwarzen Flasche.
«Was
liegt daran,» murmelte der Kranke in seiner Betäubung noch einmal.
«Was
liegt mir daran,» setzte Turnau in seinem Innern hinzu. Dann riß er
dem Kranken die Maske herunter. «Schwester Clarissa!»
«Herr
Doctor wünschen?»
«Sorgen
Sie für die Umbettung und wenn der Professor kommt, so fragen Sie,
ob Sie Morphium geben dürfen. Ich gehe in mein Zimmer, im Nothfalle
rufen Sie mich.»
«Ja,
Herr Doctor.»
oben