Er
ging, und sie that ihre Pflicht so still und gelassen an dem Kranken,
wie an alle ihren anderen Pflegebefohlenen. Ihr war die einzelne
Persönlichkeit wirklich gleichgültig, sie sah in jedem Armen und
Elenden nur den ihr von Gott gesendeten Bruder, in dessen Person sie
dem Herrn diente. Turnau dagegen war krankhaft erregt und nervös
angegriffen durch den Anblick der entsetzlichen Wunden, durch den
Geruch des Blutes und die ganze ungewohnte chirurgische Thätigkeit,
die an ihn herangetreten war.
Abgespannt
und erschöpft, dabei in hohem Grade überreizt, kam er in seinem
Zimmer wieder an. Er begab sich zur Ruhe; aber die Nacht, die er
darauf zubrachte, war so, daß er sich selbst sagte, mehrere solche
Nächte würden ihn dem Tode schnell entgegenführen. Die
Überzeugung, daß Arbeit, Aufregung und gewaltsame Selbstüberwindung
ihn ruinieren mußten, erregte ihn so, daß er der Verzweiflung nahe
war. Wenn seine körperlichen Leiden jetzt rascher, als er geglaubt
hatte, seine Auflösung herbeiführten, so hatte er das der
Rücksichtslosigkeit seines Vorgesetzten zu danken.
Der
ganze Egoismus seines Characters empörte sich bei dieser Erkenntniß.
Er gerieth in eine fieberhafte Erregung. Wie oft hatte er mit dem
Gedanken an das Ende gespielt, wie oft hatte er geglaubt, Sehnsucht
nach dem Tode zu empfinden. Nun hatte er dem Tode ins Auge gesehen,
er fühlte die Nähe der Ewigkeit, und es erfaßte ihn eine namenlose
grauenhafte Angst.
«Der
Tod ist der Sünde Sold.»
Immer
wieder mußte er an die Nonne denken, die so ruhig und fest auf
dieses kalte Wort hingewiesen hatte. Er zerbrach sich den Kopf
darüber, wie der Spruch, den sie ihm zugerufen hatte, weiter hieß.
Nach langem Grübeln fiel es ihm ein. —
Er,
der elegante vornehme Mann, dem die Frauen stets entgegengekommen
waren, hätte sich ohne Zweifel in denselben Todesqualen zu den Füßen
der Schwester Clarissa winden können, wie jener Elende, der sich
jetzt in ihrer Pflege befand — sie würde nichts bei seinen Leiden
empfinden, sie würde nichts thun, um ihm das abzunehmen, was ihm
nach ihrer Ansicht bestimmt war zu leiden. Er würde ihr gleichgültig
sein, gleichgültig wie jeder Andere.
Als
er ihr zuflüsterte, daß das Fortleben für den Verstümmelten wohl
kaum wünschenswerth sei, hatte sie ihn angesehen, und diesen Blick
konnte er nicht mehr vergessen. Die ganze Verachtung des irdischen
Leides und des menschlichen Willens, gegenüber einem höhern Willen
hatte in diesem Blicke gelegen. Und dabei war sie schon —
statuenhaft schön — schade um solch ein Weib!
Ob
wohl das blühende freundliche Mädchen, das er gestern bei Bremers
bewundert hatte, im Stande wäre Mitleid, wahres menschliches Mitleid
zu fühlen? Vielleicht wurde es für seine übersättigten Sinne
einen ganz neuen eigenen Reiz haben, die Liebe dieses frischen
Mädchens zu gewinnen. Er war ja jetzt ein stets willkommener Gast
bei Bremers, da konnte er sich dem interessanten Studium dieser
reinen jungfräulichen Seele ab und zu widmen. Dieser Gedanke
beruhigte ihn etwas, die Spannung der Nerven löste sich, die
körperliche Erschöpfung bewältigte die furchtbare Aufregung. Als
der Morgen dämmerte, trat ein leichtes wohltuendes Ausruhen an die
Stelle der nervösen Überreiztheit. Er dachte jetzt auch über den
verhängnisvollen Schritt nach, den er gethan hatte, als er der Frau
des von ihm hochgeachteten Geheimrathes heimlich Morphium gab. Würde
diese Frau sich nicht wieder und wieder mit der Bitte um Morphium an
ihn wenden? Es konnten ihm Unannehmlichkeiten daraus entstehen, er
bereute diese Verpflichtung übernommen zu haben.
Wie
tief stand doch dieses genußsüchtige Weib unter der sanften
selbstlosen Nonne, unter der fröhlichen treuen Gefährtin ihrer
eigenen Kinder! Und diese Frau war seine Gesinnungsgenossin, seine
Freundin. Er wußte, daß er nur die Hand nach ihrem Besitze
auszustrecken brauchte; deshalb erschien sie ihm verächtlich und
erbärmlich. Sie war schön, aber niemals würde er sie deshalb
lieben, es war seine feste Überzeugung, das, er überhaupt niemanden
lieben könne.
Der
Gedanke aber, die Hingabe eines Weibes zu besitzen, erregte ihm einen
Überdruß, der an Ekel streifte. Lydia Bremer begehrte nichts als
Genuß — Genuß in der Liebe, Genuß im Morphium; Pflichten kannte
sie nicht. Sie hatte Mann und Kinder, aber als sie von ihm Morphium
empfing, als ihre Blicke ihn zum Danke dafür Liebe ahnen ließen,
konnte sie das vergessen.
Er
aber, der im Interesse der leidenden Menschheit für eine gute Sache
kämpfte, er hatte sich dazu hergegeben, diesem begehrlichen
glühenden Weibe Genuß zu gewähren! Immerhin hatte er nur mit
dieser Handlungsweise die Consequenzen seiner Gesinnung gezogen. Wenn
ihm nur weiter keine Verpflichtung daraus erwuchs, wenn sie nur nicht
etwa eine persönliche Verbindung zwischen sich und ihm darin sah!
Ihn graute davor. — Und dann, dann mußte er lächeln. Wie
sonderbar, daß er in einer schlaflosen Nacht über das Wesen von
drei ihm gleichgültigen Frauen grübelte!
Seit
wann schätzte er überhaupt die Weiber nach ihrer Pflichttreue, nach
ihrer Moral? Was gingen ihn die Tugenden und Fehler der Geheimräthin
Bremer, der Schwester Clarissa und des anmuthigen Kinderfräuleins
an! Ja, dieses Fräulein, es war doch ein Genuß an sie zu denken,
sie zu sehen — —
Es
war fünf Uhr morgens. Turnau glaubte anfangs an eine nervöse
Sinnestäuschung, bald aber überzeugte er sich, daß das Klopfen,
welches er hörte, Wirklichkeit war — Professor Schrödter hatte
die Rücksichtslosigkeit, einen seiner Assistenten morgens um fünf
Uhr wecken zu lassen! Ein derartiger Fall war dem jungen Arzte in den
drei Jahren seiner klinischen Thätigkeit nur sehr selten
vorgekommen. Er war außer sich darüber und beschloß, noch im Laufe
desselben Tages um jeden Preis von dieser persönlichen Abhängigkeit
frei zu werden.
Er
hatte kaum seine Toilette beendet, als schon der Professor
unangemeldet bei ihm eintrat. Er hatte das bei Turnau noch niemals
gethan, weil ihm das steife förmliche Wesen seines reichen
Assistenten innerlich durchaus zuwider war. Aus sehr einfachen
Verhältnissen hatte er sich durch eigene Kraft zu wissenschaftlicher
Bedeutung emporgerungen, ohne sich zugleich äußerlich den
Vorschriften feinerer geselliger Formen zu fügen.
«Störe
ich Sie noch? — Es ist fast halb sechs, sehr viele Menschen haben
bereits ausgeschlafen,» begann er mit rücksichtsloser Ironie. Er
wußte genau, daß Turnau sonst frühestens zur Poliklinik um zehn
Uhr früh aufstand. Der junge Mann stand seinem Vorgesetzten in
tadelloser Haltung gegenüber. «Selbstverständlich stehe ich Ihnen
zur Verfügung, Herr Professor.»
«Der
Kranke, den Sie gestern Abend amputiert haben, ist gestorben. Wenn
Sie in der Nacht einmal nachgesehen hätten, brauchte ich nicht
hierherzukommen, um Ihnen das zu sagen.»
Absichtlich
überhörte Turnau den Vorwurf.
«Habe
ich bei der Amputation einen Fehler gemacht?»
«Ja,
den größten, den Sie machen konnten. Von zwei abgequetschten
Stümpfen haben Sie den Einen amputiert und den Anderen ruhig liegen
lassen. Als ich gestern Abend nachsah, war es bereits zu spät. Nicht
einmal alle Knochensplitter des Schädelbruches waren ordnungsmäßig
entfernt.»
«Um
alles auszuführen, was dieser Fall erforderte, wäre eine sehr lange
Narkose nöthig gewesen. Das war aber nicht opportun wegen einer
Herzschwäche des Patienten, die auch im Krankenbericht constatiert
ist. »
„Glauben
Sie denn, daß ich das nicht weiß?» schrie der Professor grob. „Sie
hätten sich aber Assistenz holen können, damit in kurzer Zeit so
viel wie möglich geschehen konnte.»
«Diese
Anordnung zu treffen, wäre Ihre Sache gewesen, Herr Professor. Sie
haben den Verunglückten vor mir gesehen. So gut wie ich mit einem
Auftrage in dieser Hinsicht beehrt wurde, konnte mir auch einer der
Herren Collegen zur Seite gestellt werden.»
«Ach
was, die Geschichte fiel auf Ihrer Station vor. Sie hätten sich
selbst die nöthige Hülfe verschaffen müssen. Wir sind doch keine
Soldaten, bei denen jeder nur auf einen Befehl von oben wartet, ehe
er handelt. Sie aber haben überhaupt keinen der anderen Herren
benachrichtigen lassen. Hielten Sie den Fall von vornherein für
hoffnungslos? »
«Jedenfalls
für so compliciert, daß ich nicht wagte, nach eigenem Ermessen
irgend eine Änderung der von Ihnen getroffenen Dispositionen
vorzunehmen.» Turnau sprach noch immer tadellos höflich und mit
vollster Selbstbeherrschung, während der Professor bei jedem Worte
mehr seine Ruhe verlor.
«So
— Sie bleiben also bei Ihrer Ansicht, daß ich allein Schuld bin?»
fragte er wüthend.
«Warum
muß denn da überhaupt jemand schuld sein? Es war eben ein
Unglücksfall mit tödtlichem Ausgange. Es wäre ja geradezu
entsetzlich gewesen, wenn wir den Verstümmelten durchgebracht
hätten. »
«Wirklich?
Nun das muß ich sagen, Herr Doctor, für einen Arzt ist das ja eine
sehr eigentümliche Anschauungsweise. Kann es denn überhaupt einen
Fall geben, in dem der Arzt nicht verpflichtet ist, alle Hülfsmittel
der Wissenschaft anzuwenden, um das bedrohte Menschenleben zu
verlängern und zu erhalten?»
«Ich
weiß es nicht. Das ist eine philosophische, wenn Sie wollen eine
religiöse, aber keine medicinische Frage. » — — —
«Und
Sie erlauben sich daher diese Frage zurückzuweisen, mein Herr
College, nicht wahr?» höhnte der auf äußerste gereizte Mann. „In
unserm Falle liegt die Frage aber durchaus auf dem Gebiete der
Medicin, die Frage ist rein sachlich, und die Antwort darauf ist es
ebenfalls. Diese Antwort aber lautet dahin, daß Sie Herr Doctor
Turnau eben durchaus nicht alles gethan haben, was Sie thun konnten,
um ein entfliehendes Menschenleben zurückzuhalten. Sie sagen, daß
ich als Chef hätte genauere Anordnungen treffen können. Das hätte
ich vielleicht gethan, wenn ich gewußt hätte, daß einer meiner
Assistenten sich einbildet, man könnte kein guter Psychatriker sein,
ohne zugleich als Chirurg die verhängnisvollsten Fehlgriffe zu
begehen.»
Mit
Turnaus Ruhe war es nun auch zu Ende. Eine grobe Antwort auf den
groben Angriff vermochte er nicht zu geben. Das war seiner feinen
sensitiven Natur zu sehr entgegen. Er wurde todtenbleich, lehnte sich
an einen Schrank, neben dem er stand und schwieg.
Der
Professor, der trotz seines polternden Tones nicht die Absicht gehabt
hatte, den jungen Mann zu beleidigen, erschrak, als er die Wirkung
seiner Worte sah. Turnaus scheinbare Ruhe hatte ihn gereizt, und er
hatte im Ärger mehr gesagt, als er hatte sagen wollen.
„Ich
habe Sie erschreckt, Turnau,« lenkte er gutmüthig ein. »Es liegt
mir ja fern, Ihnen die Schuld an dem Tode eines Menschen aufbürden
zu wollen. Aber Sie können sich wohl denken, daß es mir nicht
einerlei ist, wenn so etwas in meiner Anstalt passiert.
Es ist doch immerhin ein Privatunternehmen und keine königliche
Klinik. Ich vertrete der Welt gegenüber alles, was hier unter meiner
Leitung geschieht. — Wir wollen nachher die Obduction vornehmen,
dann können wir den Fall noch eingehender und ruhiger besprechen,
als es jetzt möglich ist.«
Turnau
verbeugte sich schweigend und tief vor seinem Vorgesetzten.
„Um
Gottes Willen, seien Sie doch nicht so versteinert, ich muß doch
schelten, wenn nicht in meinem Sinne operiert
wird. Das passiert
den jüngeren Herrn überall, Sie müssen das nicht so schwer
nehmen,« begann der Professor noch einmal.
Das
Schweigen des hochmütigen jungen Menschen war ihm furchtbar
peinlich. Er hatte das Gefühl, sich in seinem äußeren Benehmen
wieder etwas vergeben zu haben. Grade Turnau gegenüber passierte ihm
das öfter, deshalb war ihm auch der in tadellos vornehmen Formen
erzogene Assistent so sehr unangenehm.
«O
bitte, Herr Professor, wenn ich einen Tadel verdient habe, so muß
ich ihn hinnehmen.» Turnau sagte das so ruhig und gleichgültig, als
ob er sich durchaus nicht beleidigt fühle.
Der
Vorgesetzte verlor dadurch den letzten Rest seiner Sicherheit.»Bei
der Obduction können Sie den Vortrag halten,» sagte er beinah
verlegen, wie um auf etwas anderes zu kommen.
«Ich
bitte mich von der Obduction gütigst dispensieren zu wollen. Ich
hatte schon seit einiger Zeit die Absicht, mich krank zu melden und
bitte um die Erlaubnis, für den Rest des Quartals einen Collegen zu
meiner Vertretung engagieren zu dürfen.»
Er
war also doch empfindlich! «Na meinetwegen bleiben Sie von der
Section weg. Wegen der Vertretung suchen Sie mich wohl in meiner
Wohnung auf.»
«Wie
Sie wünschen, Herr Professor.»
«Auf
Wiedersehen denn.»
«Auf
Wiedersehen, Herr Professor.»
Noch
eine durchaus salonmäßige Bezeugung, die der Professor ziemlich
ungeschickt erwiederte. Er war es gewöhnt, seine Assistenten durch
einen Händedruck oder ein oberflächliches Kopfnicken zu grüßen.
Bei Turnau ging das natürlich nicht. Fataler Mensch, hätte Offizier
oder Diplomat werden sollen, blos nicht Arzt, dachte der Professor,
als die schwere weiche Portière von Turnaus Zimmer sich hinter ihm
schloß. Na, vielleicht wird er mal Modearzt bei nervösen Damen —
Specialität Migräne; — er war im Grunde seines Herzens froh, daß
er ihn los wurde.
Turnau
aber fühlte sich nach diesem erneuerten Angriff auf seine künstlich
überreizten Nerven ernstlich und körperlich krank. In tiefster
Erschöpfung streckte er sich auf seinem weichen Schlafsopha aus, um
körperlich wenigstens auszuruhen. Die nöthigen Schritte zu seiner
Ablösung von dem Posten, den er nicht mehr auszufüllen vermochte,
beschloß er zu einer späteren Tagesstunde zu thun.
Er
lag zeitweise in einer Art von Halbschlaf oder Betäubung; er wußte
nicht wie lange er gelegen hatte, aber die Sonne schien ziemlich heiß
durch die schweren herabgelassenen Vorhänge, als ein ungewöhnliches
Geräusch ihn aufschreckte.
Die
Thür zu seinem Zimmer wurde hastig aufgerissen und mit maßlosem
Staunen sah er Lydia Bremer unangemeldet eintreten. —
Turnau
verlangte von einer Dame in allererster Linie elegante sorgfältige
Toilette, nachlässig gekleidete Frauen waren ihm gradezu abstoßend.
Bisher war ihm der Verkehr mit Frau Bremer angenehm gewesen, weil sie
in ihrer Erscheinung und in ihrem Benehmen eine elegante vornehme
Frau war; mit Entsetzen bemerkte er jetzt bei ihrem ungestümen
Eintritt, wie unvortheilhaft und verändert sie aussah. Das sonst
sorgfältig frisierte Haar war nicht gebrannt, man sah einzelne dünne
Stellen, die die Haut kaum bedeckten. Die Gesichtszüge waren durch
eine maßlose Aufregung verzerrt, von Thränenspuren entstellt, die
notwendigsten Kunstgriffe der Toilette waren versäumt. Ein loser
Abendmantel bedeckte einen Schlafrock, dessen zerdrückte Spitzen die
deutlichen Spuren des Liegens in Sophakissen oder gar auf dem Bette
aufwiesen.
Peinlich
unangenehm berührt, erhob sich der Arzt. Seine kühle Begrüßung
durch eine ganz kurze Verbeugung schien die erregte, vielleicht
verzweifelte Frau nicht zu sehen.