«Alles
ist verraten, ich bin verloren, mein Mann hat Verdacht geschöpft,
Professor Schrödter war eben bei uns. Mein Morphium mein ganzer
Vorrath» — —
Sie
konnte nicht weiter sprechen, die Stimme brach ihr.
«Man
hat Ihre Morphiumvoräthe gefunden und confisciert?» fragte er.
«Ja,
ja — es ist entsetzlich, ich kann nicht leben ohne Morphium.
Erbarmen Sie sich, helfen Sie mir, ich habe ja nur Sie, alle Anderen
verfolgen mich, hassen und quälen mich, man treibt mich in den Tod.
O Gott, stehen Sie doch nicht so mitleidslos da — erbarmen Sie
sich.»
«Das
würde wenig helfen. Wenn ich Ihnen heute wieder Morphium gebe, wird
es morgen wieder gefunden.»
«Nein,
geben Sie mir eine tödliche Dosis, ich verspreche Ihnen, man wird
den Rest Ihrer Gabe nur bei meiner Leiche finden.»
«Ich
bedaure, gnädige Frau, einen derartigen Wunsch, in einem Augenblicke
der höchsten nervösen Aufregung ausgesprochen, erfülle ich nicht.»
«Ich
werfe mich vor die Eisenbahn.»
«Wenn
Sie mir das vorher sagen, ist es meine Pflicht die Ausführung dieser
Absicht zu verhindern.»
«So
— sind Sie etwa mein Vormund?»
«Nein
— ich bin Irrenarzt.»
Ein
kurzer Schrei, dann ein krampfartiges zorniges Weinen, folgte auf
diese Ablehnung. Ruhig stand Turnau ihr gegenüber. Er war empört
und angeekelt von dieser Scene.
Wenn
sie wirklich sterben wollte, so hatte sie keinen Grund, erst
hierherzukommen und ihm ein Vertrauen aufzudrängen, nach dem er
durchaus nicht verlangte. Er war aber überzeugt, daß sie gar nicht
ernstlich daran dachte zu sterben. Wenn sie so ungeschickt war, ihr
Geheimnis entdecken zu lassen, so fühlte er sich in keiner Weise
berufen, ihr beizustehen. Ungeduldig wartete er darauf, daß sie sich
so weit beruhigte, um auf gute Manier dahin gebracht zu werden, ihn
zu verlassen.
Sie
faßte sich mühsam. «Wissen Sie, was mein Mann und der Professor
beschlossen haben?»
«Ich
kann es mir denken. Sie sollen in eine Anstalt, um eine
Entziehungscur durchzumachen.«
«Ja«
— sie lächelte. «Ich werde auch ganz fügsam sein und gehen.»
«Das
freut mich.»
«Sie
verstehen, was ich meine?»
«Nein.»
«Schicken
Sie mir postlagernd jede Woche, was ich brauche, Sie wissen es ja.»
«Das
geht nicht, in solchen Anstalten ist die Controlle zu streng, man
würde jeden Stich an Ihrem Körper entdecken. Ich würde damit
riskieren, daß mir die ärztliche Concession entzogen wird.»
»So
rathen Sie mir, helfen Sie mir!»
«Ich
kann Ihnen nicht helfen.»
«Geben
Sie mir Morphium, ich will abreisen, ich werde mich irgendwo
verstecken, wo mich kein Mensch findet.»
«Sind
Sie denn mit Allem, was zu einer solchen Flucht gehören würde,
versehen?»
«Im
Augenblicke nicht, aber bis zum Abende kann ich mir Geld und alles,
was ich sonst noch brauche, erschaffen.»
«Bis
zum Abend wird Ihr Herr Gemahl im Verein mit den Ärzten die nöthigen
Schritte gethan haben, um eine derartige Flucht zu verhindern.»
«So
bin ich verloren.»
«Ich
weiß es nicht.»
Er
zuckte gleichgültig die Achseln und trat ans Fenster.
Zitternd
erhob sie sich und ging ihm nach. Sie griff mit beiden Händen in die
Fenstervorhänge, um sich zu halten. Die Sonne schien ihr ins
Gesicht. Er sah, daß ihre Haut stellenweise welk war. Ihre Augen
waren glasig und starr, plötzlich bildete er sich ein, ihre
Vorderzähne wären falsch. Das war eine abscheuliche Ernüchterung,
wenn er sie etwa bewundert hätte, aber das hatte er ja doch
eigentlich niemals gethan.
«Es
gäbe eine Auskunft, eine einzige Rettung,» flüsterte sie, nahe,
ganz nahe an seinem Ohr.»
Er
antwortete nicht.
«Fliehen
Sie mit mir, Wilhelm.»
«Als
was — als Ihr Arzt?»
Da
glitt sie an ihm nieder und umfaßte seine Kniee.» Nehmen Sie meine
Liebe, aber geben Sie mir Morphium.»
Sie
bot sich ihm an — sie war dahin gekommen, sich zu verkaufen.
Er
machte sich los. «Das würde ehrlos von mir sein. Ich kaufe keine
Liebe, gnädige Frau.»
«Sie
brauchen auch meine Liebe nicht zu kaufen, seit Sie mir Erbarmen
gezeigt haben, liebe ich Sie.»
«Ich
will Ihnen noch einmal Morphium geben, Frau Bremer, aber dann bitte,
bitte, verlassen Sie mich, werden Sie ruhiger, überlegen Sie, was
Sie thun wollen. Wenn man Sie hier fände, wären Sie und ich
compromittiert.»
Das
war seine Antwort auf das Geständnis ihrer Liebe. Die Scham
überwältigte sie; sie fühlte, daß sie etwas darbot, was er gar
nicht zu besitzen wünschte. Sie hätte fliehen mögen und sich vor
seinen, vor aller Menschen Blicken verbergen, aber sie rührte sich
nicht. Wie gebannt blieb sie stehen und wartete — wartete auf das
Almosen, das er ihr geben wollte, um sich von ihr zu befreien. —
Sie fühlte die furchtbare Erniedrigung ihrer Lage — aber für
Morphium hatte sie sich vor Friedrich Rast erniedrigt, sie konnte
nicht anders, sie mußte warten. —
Turnau
ging in sein Schlafzimmer, das keine verschließbare Thür vom Salon
trennt. Die Thür vom Schlafzimmer nach dem Corridor war
verschlossen. Mit einem scheuen Blick sah er sich um. Diese Frau, die
ihm ihre Liebe aufdrängen wollte, folgte ihm also wenigstens nicht!
Er sehnte sich nicht mehr nach Liebe. Wie war es nur möglich, daß
sie das nicht begriff? Jede körperliche Lebensthätigkeit war ja
längst bei ihm erloschen; er hatte geglaubt, das Weib müßte es
fühlen, daß ihr in ihm überhaupt kein Mann gegenüberstand — ein
Gespenst, ein dem Grabe entgegeneilender Schatten. — —
Und
an diesen Schatten wollte sie sich anklammern, sich in ihrer
Verzweiflung an ihm halten. Wie gleichgültig sie ihm war! Er hätte
über sie gelacht, wenn er sich nicht so todtkrank gefühlt hätte.
Vorhin,
ihr gegenüber, war es ihm möglich gewesen, sich bis zu sittlicher
Entrüstung aufzuschwingen, er hatte ihr gesagt, daß es für ihn
eine Gemeinheit sein würde, ihre Liebe zu kaufen.
Vor
sich selbst kam er nicht so weit — nicht bis zum sittlichen
Widerstreben, nur bis zum Ekel, zum allgemeinen Lebensüberdruß, zu
einer unsagbaren Stumpfheit.
In
der tötlichen Erschöpfung seines Körpers und Geistes suchte er
jede Erregung zu vermeiden, jeder Störung auszuweichen. Die
Störungen aber verfolgten ihn gradezu.
Wenn
ihn nur jemand von dieser Frau befreit hätte, deren Ansprüche er
sich durch sein Entgegekommen selbst aufgeladen hatte! Sie wartete da
auf ihn, aber er war nicht im Stande zu ihr zurückzukehren. Ruhe
verlangten seine Nerven, nichts als Ruhe sein kranker Körper.
Er
trat an ein kleines Wandschränkchen und nahm daraus einen Kasten, in
dem sich verschiedene kleine Flaschen befanden. Diese Flaschen
enthielten alles, was ihm in der letzten Zeit noch Genußfähigkeit,
noch eine scheinbare äußere Kraft zu geben vermochte. Öfter und
immer öfter aber war jetzt die Wirkung, auch der stärksten Mittel,
ausgblieben. Die zerrütteten Nerven waren tot — es war nicht mehr
möglich sie anzuregen. Er konnte nicht mehr genießen.
Er
schob den Kasten von sich. Im Nebenzimmer, von welchem er nur durch
eine Portière getrennt war, hörte er ein Geräusch. — Richtig
—man wartet da auf ihn. Zitternd und verlangend verzehrte sich ein
Weib nach seiner Liebe. —
Er
konnte nicht mehr lieben. Er konnte ja seit Wochen nicht mehr
genießen, — nicht mehr schlafen. So müde, so todt müde und doch
keine Ruhe. —
Nicht
mehr genießen und nicht mehr leben!
Hatte
er das nicht immer gedacht, ausgesprochen sogar vor ihr — und nun?
Ja,
nun war das Ende da, — nicht mehr genießen! Es war unmöglich;
weder die Morphiumspritze, noch die Liebe, noch sonst irgend etwas im
Leben bot ihm noch irgend einen Genuß.
Die
kleine Freundin war da, so scharf so spitz, so vertraut. Vielleicht
konnte sie ihm doch noch eine — noch eine letzte Freude gewähren!
Da
war ein kleines Glas — das hatte er sich reserviert für das Ende;
das Ende — ja das war doch nun da.
Er
entkorkte das Fläschchen. Ein scharfer Alkoholdunst schlug ihm
entgegen. Man kann Morphium höchstens bis zu zwölf Procent in
Wasser auslösen, stärkere Lösungen erfordern Alkohol. Es ist ein
Schmerz, als ob man ein Glied in glühende Kohlen legte, wenn man
sich Alkohol unter die Haut spritzt. Aber jetzt — du lieber Gott,
war es denn nicht das Ende?
Er
biß die Zähne zusammen. Der Arm wurde dunkelroth, es war wie ein
Brand. Aber es wirkte. Das Gefühl, als ob die Knochen des Kopfes
auseinanderfallen wollten, ließ nach. Er vermochte beinah wieder zu
denken.
Noch
einmal also! Er zog die Spritze zurück, sie rollte zur Erde.
Ja
richtig, um sie wieder zu erlangen, muß man sich bücken. Mit blöden
Blicken stierte er darauf hin — wozu, wozu — wenn es doch nun
einmal das Ende sein mußte?
Wenn
sich das Weib nebenan doch nur ruhig gehalten hätte! Herrgott, die
Sache konnte doch nun nicht mehr lange dauern!
Ohne
hinzusehen, griff er in ein kleines Fach seines Schrankes. Er hielt
nun einen Revolver in der Hand. Müde setzte er sich auf den Rand
seines Bettes. Mit irrem Lächeln sah er die Waffe an. «Der Tod ist
der Sünde Sold» — es ging aber noch weiter, der Spruch war damit
nicht aus. Wie doch?, wie doch?
Richtig
im Notizbuche, da mußte es stehn. —
Aber
das Notizbuch? Aufstehen und es holen, oder sich bücken und die
Spritze aufheben? Wozu? Wozu?
Ein
wahnsinniges Geräusch erfüllte plötzlich sein Hirn, wie mit
eisernen Schrauben fühlte er seine Schläfen gepreßt. Die
Alkohollösung war eine tötliche. Aber für ihn doch wohl nicht. —
— Das Ende, das Ende! —
Er
fühlte nichts mehr, er dachte nichts mehr, seine Blicke verdunkelten
sich. Langsam hob er den kurzen blanken Lauf des Revolvers in die
Höhe, setzte ihn fest an seine Schläfe und drückte ab. Dumpf
krachte der Schuß in dem kleinen von Teppichen und schweren Stoffen
verhängten Raum. —
Eine
Secunde nur stand Lydia Bremer wie erstarrt, dann stürzte sie
vorwärts.
Ein
Blick zeigte ihr, was geschehen war. Vielleicht lebte der Mann noch,
der ihr den Schimpf angethan hatte, ihre Liebe zu verschmähen — es
war ihr gleichgültig; keine Minute ihrer Zeit widmete sie ihm. Sie
sah das Kästchen mit seinem Inhalte von kleinen Flaschen.
Geräuschlos glitt sie darauf zu und mit einem einzigen gierigen
Griff ließ sie die sämmtlichen Gläser in ihrer Tasche
verschwinden.
Hastig
durchwühlte sie noch den Auszug eines Tisches, aber sie fand nichts
mehr. Kaum eine Minute blieb ihr Zeit; man hatte den Schuß im Hause
gehört; das Zimmer füllte sich mit Menschen.
Professor
Schrödter stellte den Tod seines Assistenten fest. Er nahm an, daß
Turnau in einem Augenblicke geistiger Umnachtung gehandelt habe.
Kopfschüttelnd
blätterte er in dem Notizbuche, das der Todte bei sich trug, während
er geglaubt hatte, es läge im Nebenzimmer. Der Professor hoffte eine
Aufklärung über die Beweggründe zu der traurigen That darin zu
finden.
Endlich
fand er eine Notiz, die das Datum der vergangenen Nacht trug. «Der
Tod ist der Sünde Sold, aber die Gnade Gottes ist das ewige Leben in
Christo Jesu unserem Herrn.» Daneben stand, daß er wünsche diesen
Spruch auf seinen Grabstein setzen zu lassen.
Der
Professor reichte Lydia das kleine Buch. Sie las den Spruch und
schlug wie verzweifelt die Hände vor ihr Gesicht.
«Sie
waren dabei, Frau Geheimräthin, sollten Sie den Zusammenhang nicht
ahnen, wissen Sie nichts — gar nichts? »
Er
sah sie durchdringend an. Sie fühlte, daß Alles für sie auf dem
Spiele stand — — ihre Ehre — — von allen Seiten ruhten
neugierige Blicke auf ihr.
«Morphium»
stammelte sie, verzweifelt, außer sich —
«Ah
— also weiter brauchen wir nach Ihrer Morphiumquelle nun nicht mehr
zu suchen, Turnau war der Schuldige, er gab Ihnen das Gift, er selbst
ging zu Grunde daran, o ich verstehe, ich verstehe.»
Über
das breite Gesicht einer Wärterin glitt ein höhnisches Lächeln.
Lydia sah es, das Blut stieg ihr ins Gesicht, sie empfand eine
leidenschaftliche Wuth, die ihrem Wesen bis dahin fremd gewesen war.
«Herr
Professor, was müssen Ihre Leute von mir denken, wenn Sie mich so
fragen!»
Sie
bemühte sich, so kalt und so ruhig zu erscheinen wie sonst — es
war ihr nicht möglich. Der Professor empfand, daß er sich in
irgendeiner Weise nicht ganz correct benommen hatte. Sein Ton klang
weniger rücksichtslos schroff, als er sie fragte, wie sie dazu
gekommen sei, Turnau aufzusuchen, anstatt den jungen Arzt zu sich zu
bitten.
«Sie
haben mir selbst heute den letzten Tropfen Morphium weggenommen, den
ich besaß,» erklärte sie rasch «nur durch ein heimliches
Zusammentreffen mit Turnau konnte ich hoffen, das Verlorene wieder zu
erlangen.»
„Es
wäre aber doch eine Gemeinheit von ihm gewesen,» polterte Schrödter
nun doch wieder los, «Sie sind meine Patientin, mein Assistent mußte
darauf Rücksichten nehmen.»
Lydias
Blicke trübten sich, sie empfand mit bitterem Schmerze ihre Ohnmacht
gegenüber der ihr aufgezwungenen Behandlung des Nervenarztes.
«Doctor
Turnau war heute
sehr
unzugänglich, mein Besuch war vergeblich,» sagte sie kurz.
«Ein
Sterbender — das will ich glauben, — ich habe heute zum ersten
Male bemerkt, wie krank er war — werfen wir keinen Stein auf den
Todten.
«Wie
meinen Sie das, Herr Professor?»
In
athemloser Spannung hingen die Augen aller Anwesenden an den Lippen
des Arztes. Schrödter sah ein, daß es in diesem Augenblicke in
seiner Hand lag, eine Berechtigung, einen Makel von dem Namen der
Geheimräthin fern zu halten — er dachte an den Gatten der jungen
Frau. Was für ein Heiligthum war diese Frauenehre für diesen Mann.
Gewissermaßen erklärend wandte er sich an das Personal seiner
Anstalt, das ihn jetzt fast vollzählig umstand.
«Herr
Doctor Turnau ist schon längere Zeit leidend gewesen, heute früh
fand ich ihn unzurechnungsfähig, er wird in der Aufregung, die
seiner That voranging, kaum erkannt haben, wer bei ihm war,
vielleicht hat er Sie überhaupt nicht bemerkt, gnädige Frau.»
Lydia
begriff. «Doch, er hat mich erkannt, aber er ließ mich im Salon
warten, während er die entsetzliche That im Schlafzimmer
vorbereitete; erst nach dem Geräusch des Schusses wagte ich es, ihm
zu folgen. »
Nach
dieser Erklärung athmete sie auf, man achtete nicht mehr so auf sie.
Die Leute beschäftigten sich mit der Leiche, die Ärzte zogen sich
zurück.