Mit
leidenschaftlichem Entzücken fühlte sie in ihrer Tasche die kleinen
Gläser. Auf Jahre hinaus würden diese concentrierten Lösungen
genügen, um daraus das verhältnismäßig schwache Mittel
herzustellen, dessen sie bedurfte. O, wie wollte sie diesen Schatz
hüten, wie sorglich und vorsichtig wollte sie alles verstecken, man
sollte sie nicht zum zweiten Mal überlisten. Nun aber nach Hause und
vor allen Dingen Alles in Sicherheit bringen.
Die Freude, die
sie erfüllte, ließ sie die entsetzliche Demüthigung vergessen, die
sie erlitten hatte. Sie empfand auch keinen Schmerz über das jähe
Ende des Mannes, den sie noch vor einer Stunde zu lieben geglaubt
hatte. Sie liebte nichts mehr auf der Welt außer dem Genusse, und
genießen konnte sie jetzt — maßlos, unbeschränkt,
heimlich.
Geräuschlos verließ sie das Zimmer
des Verstorbenen
und eilte die Treppe hinab. Das Herz schlug ihr bis zum Halse hinauf
— fort, nur fort.
«Entschuldigen Sie, gnädige Frau,
ich
möchte mir gestatten, Sie zu begleiten,» Professor Schrödter stand
plötzlich neben ihr, kalt und mißtrauisch sah er sie an.
O,
wie sie ihn haßte — sie hätte ihn ins Gesicht schlagen, ihn von
sich stoßen mögen, sie war fassungslos.
«Lassen Sie mich —
der Schreck, die Aufregung — ich möchte allein sein.»
«Ich
halte es für meine ärztliche Pflicht, Sie zu begleiten, auch wenn
Ihnen das direct unangenehm sein sollte.»
«Es ist mir so
unangenehm, daß es eine Zudringlichkeit wäre, wenn Sie darauf
beständen.»
Das war eine Beleidigung, nun mußte
er sie doch
lassen. Aber er wich nicht von ihrer Seite.
«Ich werde diese
Zudringlichkeit vor Ihrem Herrn Gemahl zu rechtfertigen wissen.»
Mit
diesen Worten hob er sie in den Wagen, stieg zu ihr ein und fuhr an
ihrer Seite ihrer Wohnung zu. Es sah fast so aus, als ob er heimlich
lächelte über ihren ohnmächtigen Zorn. Sie wurde immer bleicher,
und in ihren Augen brannten verhaltene Thränen.
Der Geheimrath
erschrak, als er an den Wagenschlag trat und ihr verzerrtes,
entstelltes Gesicht ihm entgegensah. Sie sah alt und fast häßlich
aus in dieser wahnsinnigen Aufregung mit ihrem nachlässigen Anzuge.
«Um Gottes Willen, was ist denn mit
meiner Frau geschehen?
Lydia, wie siehst Du aus! Herr Professor erklären Sie doch — — —
»
«Deshalb bin ich gekommen»,
antwortete Schrödter mit
überlegener Ruhe. «Unsere Kranke hat sich wieder Morphium zu
verschaffen gewußt, es wird Ihre Aufgabe sein, Herr Geheimrath, alle
Kleider der Patientin sorgfältig durchsuchen und prüfen zu lassen,
damit nichts eingeschmuggelt werden kann, was wir nicht wissen.»
«Lydia! »
Sie hörte den entsetzten Ausruf
ihres Mannes
nicht mehr, denn sie war ohnmächtig zusammengebrochen bei den
rücksichtslosen Worten des Arztes.
Der Geheimrath rief das
Kinderfräulein an den Wagen. Das junge Mädchen nahm rasch
entschlossen die zarte Gestalt ihrer Herrin in ihre Arme und trug
sie, ohne die Unterstützung der Herren in Anspruch zu nehmen, ins
Haus.
Das Stubenmädchen kam der Bonne zu
Hülfe. Behutsam
wurde die Ohnmächtige niedergelegt. Fräulein Wagner knöpfte ihr
den Schlafrock auf, um sie, wie es der Arzt gewünscht hatte, zu
entkleiden.
Lydia kam dabei zur Besinnung.
Ein kurzer
Befehl ließ das Stubenmädchen zurücktreten, das Fräulein aber
wußte, um was es sich handelte. Gewissenhaft wie sie war, ließ sie
sich nicht abweisen und versuchte der Kranken das Kleid von den
Schultern zu ziehen. Da nahm die verzweifelte Frau alle Kraft
zusammen, mit beiden Händen stieß sie das junge Mädchen, das sich
über sie gebeugt hatte, vor die Brust und sprang auf.
«Ich
bin nicht Ihre Gefangene, rühren Sie mich nicht an, gegen Gewalt
wehre ich mich mit Gewalt » Sie zitterte am ganzen Körper, ihre
Zähne schlugen wie im Fieberfrost zusammen, ihre Augen waren weit
aufgerissen, man sah das Weiße um die Pupille herum.
Das junge
Mädchen war tödtlich erschrocken, sie glaubte einer Wahnsinnigen
gegenüberzustehen. Bleich und eingeschüchtert lehnte sie sich an
die Wand.
«Gehen Sie», herrschte die
Geheimräthin das
Dienstmädchen an.
«Rufen Sie den Herrn», rief das
Fräulein
ihr nach.
Einen Augenblick schien es, als
wollte sich die
Kranke in wildem Zorn auf das Fräulein losstürzen, aber es war nur
eine rasche Bewegung. Geräuschlos bog sie sich an der Bonne vorbei,
erreichte die Thür und stürzte in ein anderes Zimmer, das sie
sofort hinter sich abschloß.
Das Dienstmädchen hatte
inzwischen dem Hausherrn gemeldet, wie weit seine Frau sich gegen
Fräulein Wagner vergessen hatte. Professor Schrödter rieth nun
selbst keine Gewalt anzuwenden, sondern das im Hause versteckte
Morphium ohne Wissen der Erregten später zu suchen.
Der
Professor gab der treuen, zuverlässigen Bonne noch einige
Verhaltungsmaßregeln, ehe er ging. Bremer war wie gebrochen über
das Unglück, das über ihn hereinbrach. Den Morphinismus hielt
er für ein Laster, und einem Laster zu fröhnen war in seinen Augen
eine Schande für sein Haus und für seinen Namen. Dazu kam das
heimliche Einverständniß seiner Frau mit Turnau. Vom sittlichen
Standpunkte aus sah er darin einen Makel, den auch der Tod des
Schuldigen von seiner Ehre nicht zu tilgen vermochte. Wie Lydia als
Weib zu Turnau gestanden hatte, wußte er nicht, er glaubte darin den
Versicherungen des Professors nicht ganz. So krank, so todtkrank wie
Schrödter ihn schilderte, war Turnau nach Bremer’s Ansicht niemals
gewesen.
Es war doch nicht anzunehmen, daß
dieser junge Mann
eine Dame in seiner Wohnung empfing, nur um ihr selbstlos und in
allen Ehren ein Mittel in die Hand zu geben, von dem sie abhing mit
Leib und Seele.
Diese Frage marterte den ruhigen,
klaren,
selbstbewußten Mann furchtbar. Er beschloß, unter allen Umständen
ruhig und eingehend mit seiner Frau zu sprechen. Er wollte die
Wahrheit wissen um jeden Preis; wie er sich nachher mit den
Thatsachen abfinden würde, war ihm jetzt noch nicht klar.
Vorläufig
mußte er warten, bis der wilde, leidenschaftliche Sturm der
Verzweiflung vorbei war. Er suchte seine Frau nicht auf, Fräulein
Wagner hielt ihr auch die Kinder fern. Gegen Abend machte Professor
Schrödter eine kurze, ärztliche Visite bei der Geheimräthin; er
gab ihr für die Nacht so viel Morphium, wie sie gewohnt zu sein
angab. Von den versteckten Vorräthen sprach er kein Wort.
Lydia
hatte die Empfindung, daß sie in ihrem eigenen Hause von Spionen
umgeben sei, sie warf einen wahrhaft leidenschaftlichen Haß deswegen
auf Fräulein Wagner. Aber sie hatte doch einen Trost. Turnaus Gläser
gehörten jetzt ihr, wenn sie auch jetzt noch nicht wagen konnte,
deren Inhalt zu prüfen und kennen zu lernen. Trotz der furchtbaren
Erregungen, die ihr der Tag gebracht hatte, schlief sie in der Nacht
wie todt und machte am Morgen sorgfältigere Toilette als an dem
Unglückstage vorher.
Sie war fast ruhig, als ihr
Schrödter
seinen Besuch machte, und versprach sogar, sich einigen seiner
Anordnungen fügen zu wollen.
Gegen Mittag hielt es der
Geheimrath für möglich, sich mit seiner Frau auszusprechen. Er
konnte es nicht länger aushalten. Tiefernst, fast finster stand er
vor ihr und forderte Rechenschaft über die Ehre seines Hauses, die
er in ihre Hände gelegt hatte, als er ihr seinen Namen gab. Die
sonst wenig erregbare, oberflächlich heitere Frau befand sich in
einer krankhaft gesteigerten Reizbarkeit. Bremer aber besaß zu wenig
Verständniß für Krankheit und krankhafte psychologische Vorgänge,
um damit zu rechnen.
«Es ist nichts vorgefallen, was
gestern
und vorgestern, vor Wochen und vor Jahren nicht auch schon gewesen
wäre,» beharrte sie. «Turnau war selbst Morphinist, er verstand
meinen Kummer über die Unmöglichkeit, mir das zu verschaffen, was
ich brauchte, um froh und um glücklich zu sein. Hättest Du mir
nicht diesen ordinären Professor Schrödter, den ich verabscheue und
von dem ich mich niemals behandeln lassen werde, aufgedrängt, so
wäre heute noch Alles wie es war. Ich wäre ruhig und glücklich,
und Dir wäre Aufregung und Ärger erspart geblieben.»
«Du
hättest weiter gesündigt und Dich durch ein Laster erniedrigt, daß
Dich in der Achtung Deines Mannes, Deiner Ärzte und sogar Deiner
Dienstboten tief herab setzt.»
«Wenn Du mit den Dienstboten
vielleicht Fräulein Wagner meinst, so will ich Dir doch nebenbei
bemerken, daß ich diese arrogante Person zu entlassen gedenke.»
«Die pflichttreue Pflegerin ist
meinen Kindern unentbehrlich,
so lange diese keine Mutter haben.»
«Du stellst diese Person
über Deine Frau!»
Ihre Augen flackerten, ihre Wangen
brannten, er sah es, aber er begriff nicht, daß diese Anzeichen
Schonung und Ruhe für ihre kranken Nerven forderten; er sah nur ihre
Leidenschaft, ihren ungerechtfertigten Zorn gegen ein unschuldiges,
reines Wesen, das in seinem Hause unter seinem Schutze stand.
«Ja,»
sagte er ruhig «ein unbescholtenes jungfräuliches Mädchen steht
sittlich viel höher, als eine pflichtvergessene Mutter, die sich
ihren Kindern entzieht, um mit sinnlicher Gier in verbotenen Genüssen
zu schwelgen. Seit Du morphiumsüchtig bist, habe ich kein Weib mehr,
meine Kinder haben keine Mutter, und die Ehre meines Namens lag bis
heute in den Händen eines charakterlosen Schwächlings, der in
seiner Erbärmlichkeit nicht anders enden konnte, wie er geendet hat,
als Selbstmörder.»
Lydia sah ihn starr an. Es lag etwas
Unheimliches in ihren Augen, etwas wie verborgener Wahnsinn. «Deine
Ehre in Turnaus Händen?» sie lachte. «Von seinem Mitleid habe ich
gelebt, von dem Almosen, das er mir hinwarf. Ein willkürliches
Gesetz gab ihm in die Hände, was Anderen unerreich bar ist.
Großmüthig gab er mir von seinem Reichthum, weiter nichts. O Gott,
Arnold — muß ich Dir denn schwören, daß Deine Ehre rein
geblieben ist, daß mich Turnau körperlich niemals berührt hat?»
«Wenn das der Fall ist, so lag es
wohl nicht an dir; du
hättest dich vor die Hunde geworfen, um deiner Leidenschaft fröhnen
zu können. Es ist nicht das Verdienst einer Dirne, wenn ihre Reize
keinen Käufer finden.»
Er erschrak selbst, als er die
furchtbare Beleidigung ausgesprochen hatte. Die Verachtung hatte ihn
überwältigt, maßlos wie seine Verzweiflung war der Vorwurf, den er
erhob.
«Du begreifst, daß diese Äußerung
unsere Ehe nun
auch äußerlich scheidet. Innerlich getrennt sind wir, seit Du heute
früh Deine ‚Dienstboten‘ aufgehetzt hast, mir den einzigen Genuß
zu stehlen, den das Leben an Deiner Seite für mich überhaupt hat.»
Sie wunderte sich selbst, daß sie so
ruhig sprechen konnte.
Wie aus weiter Ferne hörte sie ihre eigene Stimme. Es war in ihr wie
ein Morphiumrausch ohne Morphium. Leise griff die Krankheit des
Körpers vom Nervensystem aus hinüber nach der Seele. Die Grenze,
die das körperliche und das Gemüthsleiden trennt, verschob sich
unmerklich, die Leidenschaft, der Zorn und die Qual der Verzweiflung
wurden zur Krankheit. Sie konnte nicht mehr kämpfen, nur noch
leiden, nur noch dulden, nur noch schwach und vergehend sich wehren,
wenn man ihr allzu wehe that.
«Ehescheidung?» Er fuhr
in furchtbarer Heftigkeit auf. «Glaubst Du, daß ich an meinen
Kindern das Verbrechen begehen werde, meine Ehe scheiden zu lassen?
Der Schwur, den ich am Altar geleistet habe, ist mir heilig. Ich bin
und ich bleibe Dein Gatte, nur der Tod kann uns scheiden.»
«Wenn
das Deine Ansicht ist, so giebt es allerdings für uns Beide nur
einen Ausweg — tödte mich — es wird mit meinem Einverständnis
geschehen.»
«Nein, ich will kein Verbrechen
begehen, wie Du.
Dank dem krankhaften Zustande Turnaus bist Du äußerlich wenigstens
nicht entehrt, wenn du es auch innerlich bist durch den Willen zur
Sünde. Kehre um, bereue, bessere Dich und beginne ein neues
Leben.»
«Was giebt Dir das Recht, eine
solche beleidigende
Forderung an mich zu stellen? Ich war nicht Turnaus Geliebte, ich war
nur Morphinistin, das ist eine Krankheit, eine Schuld ist es nicht.»
«Als eine Krankheit fasse ich es auf
und wie ein Unglück, wie
eine Krankheit will ich es bekämpfen.»
«Glaubst Du, daß
Zwang und Gewalt, die mich zur Verzweiflung treiben, die mich sogar
zur körperlichen Gegenwehr zwingen, der richtige Weg sind, um eine
Krankheit zu heilen? »
«Bedenke mein Entsetzen, Lydia,
meine
schmerzliche Überraschung. Deine Tugend, Deine
Vornehmheit.
Deine frauenhafte Lieblichkeit waren mein Heiligthum und mein Glück.
Mir ist, als ob sich ein Abgrund aufgethan hätte, der das Alles in
seine Tiefe gerissen hat; mir ist, als ob ich selbst vor einem
Verhängniß stünde, das mich zu Grunde richten muß.»
«Dein
ganzer Kummer ist nichts als Einbildung,» rief sie außer sich. «Laß
morgen durch die Gnade der Heiligen eine Erleuchtung in die Welt
kommen, die einen entsetzlichen Zwang aufhebt, laß den
Morphiumverkauf frei werden, und ich stehe gerechtfertigt, ehrenhaft,
glücklich und frei da, wie zuvor. Nur der Zwang, ein Gesetz umgehen
zu müssen, hat mich unglücklich gemacht. Mit dem Fall dieses
Gesetzes würde ich und Tausende mit mir wieder ehrlich und froh
sein.»
Arnold Bremer stampfte mit dem Fuße
auf und griff in
maßloser Wuth mit beiden Händen in sein graues Haar. Seine Stimme
klang beinah wie Schluchzen.
«Lydia
— wenn morgen die Strafe für Mörder aufgehoben würde, würde
dann der Mörder aufhören ein Verbrecher zu sein?»
Sie zuckte
die Achseln. «Der Mörder schadet Anderen an Leib und Leben; der
Morphinist schadet niemand, er genießt nur ein süßes Behagen, das
ein neidischer Zwang ihm verwehrt.»
«Und schadet niemand?»
«Nein.» Sie sah ihn fragend an.