Geschichten
Auguste
Groner
Der
Brief aus dem Jenseits
Der
Brief aus dem Jenseits
-
Seite 2 -
„Auch
das habe ich natürlich nicht auf ihn laden
wollen“, sagte sie sanft. Plötzlich überflutete eine helle Röte ihr
bleiches
Gesicht. Ein Gedanke, der sie beruhigte, mußte in ihr aufgestiegen
sein.
„Ich
habe mit meinem Hierherkommen meinem Vormund kaum
einen ernstlichen Schaden bereiten können“, sagte sie lebhaft, „denn es
ist ja
Gott sei Dank ein Raubmord, dem John zum Opfer fiel.“
Horns
Blick mochte ihr sagen, daß er ihr wie nach
Befriedigung klingendes „Gott sei Dank“ nicht verstehe, und da gab sie
ihm
Aufklärung.
„Ich
meine, für einen
Raubmörder kann niemand in der Welt Albert Graumann halten – und aus
diesem
Grunde kann man ihn mit diesem entsetzlichen Fall nicht in Verbindung
bringen.
Und froh bin ich auch, daß es kein Selbstmord ist; hätte John selber
Hand an
sich gelegt, es hätte mich noch viel tiefer getroffen.“
Wieder
war ihre Stimme gebrochen und ihr Auge voll
Tränen. Sie beugte sich vor und streckte die Hand nach der Zeitung aus,
welche
vor dem Kommissar lag und auf die sie jetzt ganz zufällig achtete.
„Sensationeller
Raubmord“ und der Name „John Siders“ starrte ihr in gesperrter Schrift
entgegen. Sie zitterte, als sie das Blatt, das Horn ihr hinschob,
anfaßte –
aber sie bewältigte ihre Schwäche und bat: „Nicht wahr, Sie erlauben,
daß ich
die Zeitung mitnehme. Hier könnte ich sie nicht lesen, und ich möchte
doch auch
so viel davon wissen wie die anderen Leute.“
Er
nickte ihr zu und spürte dabei deutlich, daß ihm
ihr herzbewegendes Lächeln weh, recht weh tat. Aber sein Mitleid ging
in
Erschrecken über, als er die Veränderung in ihren Zügen sah.
Wie
starr dieses junge Gesicht wurde, welches
Entsetzen diese Augen ausdrückten – diese Augen, welche auf den
Revolver
gerichtet waren, der unter der nun weggezogenen Zeitung gelegen.
Es
war die Waffe, mit welcher John Siders ermordet
worden war.
Sogar
Herr Binder blickte von seinem Papier auf und
erhob sich langsam – so unbegreiflich gebärdete sich das junge Mädchen.
Langsam,
ganz langsam, als ob sie einem widerwärtigen
Zwang gehorche, streckte sie ihre rechte Hand nach dem Revolver aus,
dessen
feingearbeiteter Griff mit einem etwas verschnörkelten und
absonderlichen
Silberornament verziert war. Auf dieser schimmernden Zier haftete
Eleonores
stierer Blick – bohrte sich schier hinein, nachdem ihre zitternde Hand
die
Waffe ergriffen und dem Auge näher gebracht hatte. Da verzerrte sich
der
lieblich gezeichnete Mund zu einem erschreckenden Lächeln, da keuchte
die zarte
Brust und zitterten die jungen
Beine, so daß die ganze
Gestalt des Mädchens zu wanken begann.
„Dieser
Revolver – wem gehört er?“ fragte der
Kommissar und schaute aufs höchste gespannt auf Eleonore. Er wußte –
jetzt
würde ein entscheidendes Wort fallen.
Es
fiel. Es überraschte ihn nicht einmal – er hatte es
so halb und halb erwartet.
„Graumann!“
haben ihm die bleichen Lippen geantwortet
– dann schlossen sie sich, dann sank Leonore bewußtlos in des
Kommissars Arme.
Noch
einmal hatte die Natur ihr Recht beansprucht.
Zuviel war auf Eleonore Römer an diesem Tage eingestürmt – jetzt war
sie mit
ihren Kräften zu Ende.
„Schicken
Sie nach einem Wagen, und bringen Sie mir
die Frau des Portiers. Sie wird wohl so gut sein, mit dieser jungen
Dame zu
fahren.“ So sagte ruhig der Kommissar zu Binder. Dieser eilte fort.
Zwei
Minuten später trat der Polizeiarzt herein, den
Binder zufällig auf der Stiege getroffen.
Er
hatte mit Hilfe von ein wenig kaltem Wasser und
Lockerung der Kleider Eleonore halbwegs zu sich gebracht, während Horn
rasch
ein paar Worte auf ein Briefblatt warf und die schweratmige
Portiersfrau
dienstbeflissen herbeitrippelte.
„Sie
bringen die junge Dame und diesen Brief zu meiner
Frau“, sagte Horn freundlich, drückte der Alten ein Silberstück in die
Hand,
trug dann – ihm, dem großen kräftigen Mann ein leichtes – die zierliche
Eleonore bis in den Wagen, schob die Alte nach und gab dem Kutscher
seine
Adresse und Geld.
Dann
begab er sich mit dem Protokoll zu seinem
Vorgesetzten, machte ihm die Meldung, daß er sofort, um den nächsten
Zug nach
Grünau zu erreichen, wegfahren müsse, sah noch, wie, während ihm das
Herz
schwer wurde, sein Chef voll Wohlgefallen über den jetzigen Stand der
Sache,
den er ihm in Kürze mitgeteilt hatte, sich die Hände rieb, und eilte
dann, den
Revolver mit sich nehmend, fort.
Es
war längst Abend, früher Herbstabend geworden, als
Kommissar Horn in der Station Grünau ausstieg. Wieder war sein
erster Gang zum Bürgermeister, den er auch daheim
antraf, der sehr bestürzt den kurzen Mitteilungen lauschte und sich
dann seufzend
mit dem Kommissar auf den Weg nach Graumanns Wohnung machte.
Dies
war ein hübsches altes Einfamilienhaus, das bald
vor ihnen, bald hinter Nebelschleiern, die vom Himmel sanken und aus
der Erde
stiegen, und hinter den halb entlaubten Bäumen eines Vorgartens
aufragte.
Mit
seinen erleuchteten Fenstern und der tiefen
Stille, die es umgab, konnte es so recht als ein Sitz behaglicher Ruhe,
als
eine Stätte des Friedens angesehen werden.
Diese
Ruhe, diesen Frieden recht gründlich zu stören,
waren die beiden Männer, welche jetzt vor der Haustür des Öffnens
harrten,
gekommen.
Es
tat ihnen weh, denn die beiden hatten warme Herzen
in der Brust, wußten, was Leid und Freud, was Wohlangesehenheit und was
Ehrlosigkeit bedeutet.
Deshalb
seufzten sie, als sie vor dem friedlichen
alten Hause standen, in welchem es jetzt laut wurde. Der Bürgermeister
hatte
die Glocke gezogen. Ihr gellender Ton war wohl bis in alle Räume des
Hauses
gedrungen, denn an mehreren Stellen darin wurden Türen geöffnet.
„Beeilen
Sie sich, Leni. Es wird das Fräulein sein.
Mein Gott! Wo sie wohl die ganze Zeit gewesen sein mag?“
„Das
ist Fräulein Babette Graumann, des Ingenieurs
Tante“, orientierte der Bürgermeister, den Kommissar.
„Und
da läßt er sich selber hören“, murmelte Horn.
In
der Tat mußte auch Albert Graumann auf den Korridor
des oberen Stockwerks getreten sein, denn deutlicher noch als die
feine, spitze
Stimme der alten Dame klang seine tiefe, harte herunter.
„Na,
Tante, gräme dich nur nicht allzusehr. Fräulein
Eleonore hat nun mal ihre Heimlichkeiten, darein müssen wir uns fügen.
Es ist
ganz gut möglich, daß sie nach G. gefahren ist, um Johns Grab, denn er
wird
wohl schon begraben sein, mit Blumen zu schmücken.“
Wie
spöttisch er von Eleonore sprach, die doch, und
das mußte
er wissen, jetzt so tief litt. Und wie kalt
er von dem Ermordeten redete!
Horn
bekam auch jetzt einen schlechten Eindruck von
dem Mann, und doch war es ihm recht, daß Graumann so ruhig den Namen
desjenigen
aussprach, neben dessen Leiche man seinen Revolver gefunden.
Unter
diesen Gedanken betrat er Graumanns Haus.
„Sind
Sie es? Fräulein Lore?“ hatte die alte Leni
herausgerufen, ehe sie öffnete, was sie dann doch recht schnell tat,
weil sie
des Bürgermeisters Stimme erkannt hatte.
„'s
ist der Herr Bürgermeister!“ rief sie hinauf – da
trat auch der Kommissar über die Schwelle, und Leni ließ fast die
Lampe, die
sie in der linken Hand hielt, fallen, so sehr war sie über das
unerwartete
Erscheinen des Fremden erschrocken.
Graumann
war dem Bürgermeister entgegengeeilt.
„Was
bringt denn Sie zu mir?“ fragte er, und sein
Gesicht sah dabei angenehm erregt aus. Es veränderte sich jedoch, als
Graumanns
Blick auf den Kommissar fiel. Es wurde unruhig und, Horn glaubte es
wenigstens
zu sehen, noch ein wenig fahler, als es ohnehin schon gewesen.
„Einen
Gast habe ich Ihnen zugeführt“, sagte der
Bürgermeister und wischte sich dabei den Schweiß von der Stirn.
„Einen
Besuch“, verbesserte sehr deutlich Kommissar
Horn, indessen er den Hut zog.
Graumann
mußte diese Korrektur unangenehm sein, denn
er schloß die schmalen Lippen fester und zog die Brauen empor, wodurch
sein
Gesicht einen hochmütigen Ausdruck annahm, der nicht angenehmer wurde,
als der
Ingenieur, sich spöttisch verneigend, sagte: „Herr Kommissar haben wohl
eine
wichtige Frage zu stellen vergessen?“
„Nein,
Sie haben wichtige Antworten zu geben
unterlassen.“
Mit
diesen Worten trat Horn zu der Zimmertür, welche
Graumann geöffnet hatte, doch lud er diesen mit einer energischen
Gebärde ein,
vor ihnen einzutreten.
Graumann
biß sich auf die Lippen, dann folgte er dem
stummen Gebot des Mannes, der, er fühlte es nun mit einiger Bedrückung,
nicht
umsonst so feindlich gegen das Wort „Gast“ demonstriert hatte.
Der
sehr gebildete, sehr
pflichtbewußte Ingenieur hatte aber selbstverständlich eine zu große
Achtung
vor dem Gesetz, als daß er Horn, der ihm von diesem Augenblick an nur
mehr die
Verkörperung des Gesetzes war, in irgend etwas widerstrebt hätte.
Ruhig,
freilich auch sehr steif geworden, ging er also
den beiden Herren voran in das Zimmer, hinter dessen einer Tür eben ein
bleiches altes Frauchen verschwand.
Graumann
schraubte die Lampe, welche auf dem Tisch
stand, höher, nahm den verdunkelnden Schirm von der Kugel, rückte zwei
Stühle
zurecht und machte eine einladende Handbewegung gegen seine beiden
Besucher.
Sie ließen sich nieder, dann setzte auch er sich.
Der
Bürgermeister sah kläglich hilflos aus. Es mußte
dem gutmütigen alten Herrn eine schreckliche Pein sein, auf das zu
warten, was
da kommen mußte.
Horn
war ruhig – Graumann desgleichen. Dem ersteren
hatte etwas sehr wohl gefallen, es war der Umstand, daß der Ingenieur
mehr
Licht geschaffen hatte.
„Nicht
wahr, Sie haben einen breitkrempigen grauen
Filzhut?“ fragte Horn, der erst bei diesem seinem zweiten
Zusammentreffen mit
Graumann darauf achtete, daß derselbe auch einen dunklen Vollbart trug.
Verwundert
blickte der Ingenieur den Kommissar an.
„Ja,
ich habe einen solchen Hut“, sagte er dann
lächelnd.
„Kann
ich ihn sehen?“
„Sofort.“
Graumann
griff nach dem altmodischen Glockenstrang,
der hinter dem Sofa hing. Horn aber meinte: „Es wäre mir lieber, wenn
wir
selber ihn holten.“
„Wie
Sie wünschen.“
Graumann
erhob sich, nahm die Lampe und schritt den
Herren voran in das Nebenzimmer. Es war sein Schlafgemach. Nahe dem
Bett stand
ein mäßig großer Schrank. Graumann öffnete ihn zur Hälfte. Es zeigte
sich ein
Hängefach und darin eine Reihe von Beinkleidern. Graumann mußte, um zu
den
Legfächern zu gelangen, in deren einem seine Hüte lagen, auch die
zweite
Tür des Schrankes öffnen. Doch hielt er die Lampe in
der Hand, und die Riegel bewegten sich nur schwer. Es war somit gar
nicht
auffallend, daß Horn, der so begierig war, den Hut zu sehen, sich
bückte und
den unteren Riegel der Tür emporschob.
Er
kam dabei mit seinem Augen einem der Beinkleider
sehr nahe, und was er beim Öffnen des Schrankes sofort, aber zunächst
ein wenig
undeutlich bemerkte, das sah er jetzt ganz genau.
Auf
dem mausgrauen Stoff des Beinkleides zeigten sich
einige Tintenspritzer. Sie waren von violetter Farbe.
Jetzt
war auch die zweite Tür des Kastens offen.
Graumann
trat zurück.
Dieser
Polizeikommissar mochte immerhin den für ihn so
interessanten Hut betrachten. Horn warf nur einen Blick darauf.
„Es
ist richtig“, sagte er dann.
Graumann
wollte den Schrank nun wieder schließen, doch
der Polizeibeamte sagte: „Lassen Sie, er mag offen bleiben.“
Achselzuckend
führte der Ingenieur seine Besucher
wieder zu ihren Sitzen.
„Und
nun erzählen Sie mir, wie Sie hinter Theodor
Bellmanns Lebensgeschichte kamen“, sagte der Kommissar.
Graumann
starrte ihn eine Weile sehr überrascht an,
dann fuhr er sich mit der feinen weißen Hand über den wohlgepflegten
Bart und
sagte schmunzelnd und sich anerkennungsvoll neigend: „Die Behörde ist
ja
bewundernswert rasch hinter John Siders' Geheimnis gekommen.“
Und
Horn darauf: „Wie lange haben denn Sie dazu
gebraucht?“
Graumann
lehnte sich bequemer in seinem hochlehnigen
Sessel zurück und begann dann gleichmütig: „Gestatten Sie mir, Ihnen
vorerst zu
sagen, weshalb ich Ursache hatte, mich für Siders' Vergangenheit zu
interessieren.“
Horn
neigte sein Haupt, dann sah er wieder aufmerksam
auf den Erzählenden, der also fortfuhr: „Wie ich schon heute vormittag
sagte,
schloß Siders, mit dem ich zufällig einmal, bald nach seiner Ankunft
hier, im
Kaffeehaus bekannt wurde, sich mir
an. Wir kamen auf
Amerika und unser dortiges Leben zu sprechen, wobei es sich ergab, daß
wir in
Chicago einige gemeinsame Bekannte hatten. Mir war der Mann nicht
unsympathisch, doch fiel mir im ferneren Verlauf unserer Bekanntschaft
auf, daß
er niemals von der Zeit sprach, die vor seinem Amerika-Aufenthalt lag,
daß er
auch immer auswich, wenn ich eine Andeutung über seine Heimat, seine
Familienverhältnisse machte. Im übrigen zeigte er sich als ein Mann,
der
Hochschulwissen errungen und der auch durch die Hochschule des Lebens
gegangen
war, benahm sich tadellos und gefiel auch meinen Damen (ich habe
nämlich eine
Tante und ein Mündel bei mir) so sehr, daß ich ihn zuweilen in mein
Haus lud.
Was ich nie befürchtet hatte, geschah. Mein Mündel, Leonora Römer, ein
sanftes,
stilles, bisher willenloses Mädchen, verliebte sich in den uns
eigentlich ja
ganz unbekannten Mann – mit einer ganz sicher irgendwie geheimnisvollen
Vergangenheit.
John
Siders verleitete Lore sogar zu einer heimlichen
Verlobung, hinter welche ich im Juli dieses Jahres gekommen bin.
Da
ward mir die Sache zu ernst. Ich ließ mir meinen
Ärger nicht anmerken, warnte Lore nur, sich nicht noch mehr mit dem
Burschen
einzulassen, und schrieb, um mich endlich über ihn zu informieren, wozu
ich ja
nun ein Recht, ja sogar die Pflicht hatte, nach Chicago. John war dort
Advokat
gewesen, etwa vier Jahre hindurch, und hatte meinen ehemaligen
Fabrikherrn zum
Klienten gehabt. An diesen Mr. Tressider schrieb ich, ihn bittend, er
möchte
mir durch die dortige Polizei Auskunft über John Siders Geburtsort
verschaffen.
Mitte August kam Antwort. Siders war achtzehnhundert . . . zu Hartberg
geboren.
Mehr hatte Mr. Tressider nicht in Erfahrung bringen können. Es war mir
genug.
Ich nahm einen Tag nach Erhalt des Briefes für einige Tage Urlaub,
erhielt ihn,
fuhr nach Hartberg, das, wie Sie wissen, nur siebzig Kilometer entfernt
von
hier ist, und wußte drei Tage später, über G. heimkehrend, alles, was
mir zu
wissen nötig war. Theodor Bellmann war der Sohn eines kleinen Beamten
gewesen,
der seine Witwe und den Knaben in tiefster Armut zurückließ. Frau
Bellmann
übersiedelte nach G., um in der größeren Stadt Musiklektionen zu geben.
Theodor ging aufs Gymnasium, später auf die Universität
und war stets ein vortrefflicher Schüler. Doch hatte ihm die
Rechtswissenschaft, die er studierte, kein Rechtsgefühl zu geben
vermocht. Er
bestahl den Bankier, bei welchem er Hauslehrer, ja Hausfreund war,
wiederholt,
wurde endlich eines bedeutenden Diebstahls überführt, leugnete zwar
verzweifelt, die Indizien zeugten aber so unzweifelhaft gegen ihn, daß
der
Richter (es ist der jetzige Staatsanwalt Schmid in G.) ihn verurteilen
mußte.
Acht Monate hindurch saß Bellmann im Sträflingskleid im Zuchthaus von
W. Freigelassen,
wanderte er aus, nachdem er vorher noch seiner Mutter Grab besucht. Es
war bis
zuletzt etwas Gutes in ihm, das vermag selbst ich, der notgedrungen
sein Gegner
werden mußte, zu bezeugen. Es mag jetzt noch an ihm genagt haben, daß
seine
Schande die Mutter unter die Erde gebracht, denn nie sah ich ihn froh,
nie
hörte ich ihn lachen. Jedenfalls hat er die Tat seiner Jugend überhart
verbüßt,
denn – wie gesagt – er war zuletzt ein guter Mensch.“
Graumann
hielt ein. Er fuhr sich mit der flachen Hand
mehrmals über die Herzgegend. Sein Klappenfehler mochte ihm wieder zu
schaffen
machen. Es war auch seine Stimme leise, unsicher, ja – Horn schien es
so –
weicher geworden. Er mochte eine Zwischenrede erwartet haben, doch der
Kommissar regte sich nicht, und so fuhr er denn fort: „Ich löste das
Verlöbnis
meines Mündels mit dem ehemaligen Züchtling, denn ich konnte doch das
Mädchen
nicht in solche Hände geben.“
„Besonders
deswegen nicht, weil Sie Fräulein Leonore
Römer selber heiraten wollten“, sagte trocken der Polizeibeamte.
Graumann
fuhr empor.
„Sie
wissen?“ stammelte er und stand langsam auf. „Da
– da war Lore also vermutlich heute nachmittag bei Ihnen.“
„Stimmt.“
„Und
hat Ihnen ihr Herz ausgeschüttet“, brach es mit
scharfem Spott von des Ingenieurs Lippen.
„Stimmt“,
antwortete abermals sehr ruhig Horn und
setzte ebenso gemütlich hinzu:
„Aber
das alles ist Nebensache. Die Hauptsache,
scheint mir, ist, Ihrem schwachen Gedächtnis auf die Beine zu helfen.
Heute
vormittag sagten Sie, daß Sie John Siders
zum letztenmal
gesehen hätten, als er Grünau verließ – na sehen Sie –, das stimmt
nicht.“
In
Graumann ging eine merkliche Veränderung vor. Er
ließ sich rasch, als fürchte er, die Kräfte werden ihn verlassen, auf
den
Sessel nieder, und diesmal starrten seine Augen mit dem Ausdruck
starken
Angstgefühls auf den Kommissar.
„Was
wollen Sie damit andeuten?“ würgte er langsam
heiser hervor.
„Andeuten
will ich gar nichts, nur sagen, klar und
deutlich sagen, daß John Siders am dreiundzwanzigsten September abends
den Besuch
eines Herrn mit dunklem Vollbart und breitkrempigem grauem Hut empfing
– daß
das Haus Nummer 7 in der Josefigasse damals außer den beiden Männern
nur eine
alte, halbtaube Magd umschloß und daß John Siders' schon erkaltete
Leiche am
Morgen des vierundzwanzigsten September aufgefunden wurde. Was man bei
John
Siders nicht mehr fand, das waren zehntausend bare Gulden, was man in
seinem
Zimmer fand, waren ein umgestürztes Tintenfaß, dessen violetter Inhalt
weithin
verspritzt war, wovon einige Spuren auf dem mausgrauen Beinkleid dort
drinnen
sich noch vorfinden – und war ferner“, Horn senkte die Hand in die
Tasche
seines Winterrocks, „dieser Revolver.“
Er
hielt dem Ingenieur die seltsam verzierte Waffe
hin, indem er ernst, schrecklich ernst hinzufügte: „Auf diese
Indizienbeweise
hin muß ich Sie im Namen des Gesetzes verhaften.“
Horn
war aufgestanden. Auch der gute alte
Bürgermeister hatte sich erhoben, stöhnte leise und knickte völlig
zusammen,
als sich jetzt jene Tür auftat, hinter welcher Fräulein Graumann vorhin
verschwunden war und nun wieder erschien, noch bleicher, noch viel,
viel älter
aussehend als früher.
Langsam
kam sie heran und sank neben ihrem Neffen auf
die Knie.
„Albert
– welches Leid kommt über uns“, sagte sie
leise. „Aber, Albert, ich weiß es, du hast das Entsetzliche nicht
getan, und
alles, alles ist ein Irrtum. Albert, sprich! Starre nicht so vor dich
hin – lasse mich nicht in der Angst, du seiest irrsinnig
geworden. Rede – oh, rede. Das ist ja gar nicht dein Revolver – er kann
es ja
nicht sein. Ich will es den Herrn sogleich beweisen. Ich will deinen
Revolver
holen.“
Mit
der fliegenden Hast fiebriger Angst hatte das alte
Fräulein abgebrochen und wollte sich jetzt erheben. Graumann aber
sagte, noch
immer den stieren Blick auf den Revolver gerichtet: „Es ist mein
Revolver.“
Da
gellte ein Schrei durch das Zimmer. Die Dame hatte
ihn ausgestoßen und so das gräßlichste Entsetzen verraten – aber
sogleich
schüttelte sie wieder krampfhaft das Haupt und sagte völlig ruhig,
völlig
sicher: „Und wenn es zehnmal dein Revolver ist und wenn auch mit ihm
der arme
Siders getötet wurde – du hast's doch nicht getan.“
Soviel
festes Vertrauen tat jedem der drei Männer
wohl. In die Augen des sonst so kaltherzigen Graumann waren schwere
Tränen
getreten. Er beugte sich zu dem alten Gesicht nieder und küßte es
zärtlich. Es
geschah wohl zum erstenmal.
„Ich
danke dir“, sagte er danach, „ich danke dir
innig. Nein, ich bin trotz allem Johns Mörder nicht. Aber freilich,
alles
spricht gegen mich, und ich muß nun noch etwas angeben, was sehr
unwahrscheinlich klingt und ebenfalls gegen mich zeugen wird. Darf ich
reden?“
„Sprechen
Sie“, sagte Horn.
„Ich
war wirklich am dreiundzwanzigsten September bei
John Siders. In einem Brief, den ich freilich nicht mehr besitze, hat
er mich
zu einer dringenden Besprechung zu sich geladen. Ich müsse kommen, es
stehe für
mich und ihn Großes auf dem Spiel. So schrieb er mir und bat mich, um
unser
beider willen die größte Verschwiegenheit bezüglich dieses Besuches zu
beachten.
Ich
hatte ihn unglücklich machen müssen – so fühlte
ich mich denn verpflichtet, seinem Rufe zu folgen, denn mein Gewissen
sagte
mir, daß ich es ihm schuldig sei, ihm in anderen Dingen zu helfen,
falls er
meiner Hilfe bedurfte. Ich hatte überdies Angst vor einem exzentrischen
Streich, dessen ich ihn,
seiner ganzen Art nach, wohl
für fähig halten konnte. Dabei dachte ich nicht an mich, nur an Lore.
Jedenfalls wollte ich seiner Bitte nachkommen und fuhr zu der von ihm
bestimmten Zeit nach G.
Für
mich hatte ich keine Furcht – das wiederhole ich
noch einmal, ich nahm daher keinerlei Waffe mit. Wer den Revolver dahin
brachte, weiß ich nicht, wußte bis jetzt nicht einmal, daß ich nicht
mehr in
seinem Besitz bin, weiß nur ( an dieser Verletzung seines Zierates
erkenne ich
es noch sicherer als an dem seltsamen Silberbeschlag überhaupt), daß es
ganz
bestimmt mein Revolver ist.“
Schwer
atmend und wieder die Hand zum Herzen führend,
hielt Graumann ein.
„Sie
bedürfen einer Stärkung“, sagte Horn, und schon
eilte das alte Fräulein aus dem Zimmer; mit einem Glas Wasser und einer
Flasche
Kognak kam sie wieder. Graumann nahm von beiden ein wenig. Er war
gekräftigt.
Er sprach weiter.
„Weshalb
hatte Siders mich zu sich gerufen? Ich erfuhr
es nicht. Das Haus war schon verschlossen. Die alte Magd, die mir auf
mein
wiederholtes Klingeln öffnete, war verwundert darüber und sagte, Herr
Siders
müsse diesmal gegen allen Brauch die Tür geschlossen haben.
Ich
ging hinauf. Siders empfing mich geräuschvoll und
hielt mich mit allerlei Reden hin.
Als
ich in ihn drang, mir doch endlich zu sagen, was
es denn Wichtiges zwischen uns gäbe, lächelte er und meinte, das
Wichtigste sei
bereits getan und ich könne wieder gehen. Er sah ganz ruhig aus, mußte
es aber
doch nicht sein, denn während er so sprach und ich zornbebend über
solches ›Zum
Narren gehalten werden‹ mich an den Tisch lehnte, warf er aus Versehen
das
Tintenfaß um, dessen Inhalt natürlich auch mich bespritzte. Er hielt
mich dann
noch mit einigen Entschuldigungen auf, sah nach, ob noch Licht auf der
Treppe
sei, und führte mich selbst bis auf die Straße hinunter, wo er noch,
während
ich wegging, unter der Tür stehenblieb.
Ich
muß sagen, daß ich ihn für übergeschnappt hielt.
Denn erstens bat er mich noch oben in seinem Quartier, daß ich seine
ziemlich
wertvollen Schmuckstücke aufbewahren möchte, was ich
ablehnte, und zweitens sagte er, als ich sehr übel gelaunt von ihm
schied, ohne
jede Veranlassung: ›Sie werden noch oft, recht oft an mich denken.
Dies
alles – ich sehe ja selber ein – außerordentlich
erdichtet Klingende wollte ich Ihnen heute noch sagen. Ich weiß nämlich
nicht,
ob ich morgen noch vernehmungsfähig sein werde – Sie wissen, mein Herz
ist sehr
schwach, und ich war deshalb schon oft wochenlang schwer krank.“
Graumann
hatte sich langsam erhoben. Er sah nicht
übermäßig angegriffen aus.
„Gräme
dich nicht, meine Unschuld muß ja doch zutage
kommen“, sagte er ruhig zu seiner Tante, klingelte und goß sich dann
noch ein
Glas voll Wasser ein, das er langsam austrank.
Leni
erschien.
„Gnädiger
Herr befehlen?“
„Meinen
Winterrock und den grauen Hut. Auch die Hose,
die ich bei meiner letzten Fahrt nach der Stadt trug, bringen Sie mit.“
Horn
gefiel der Mann immer mehr. Solche Ruhe in
solcher Situation war etwas Erfreuliches. Aber freilich, alberne
Märchen sollte
ein sonst so vernünftiger Mann nicht erfinden. Doch der
Selbsterhaltungstrieb
zeitigt oft die seltsamsten Früchte. Das wußte Kommissar Horn, der als
gerechter Mann immer zwei Standpunkte hatte, seinen eigenen und den des
Gegners, und dem in seiner langen Praxis die absonderlichsten
Verteidigungsmittel untergekommen waren. Horn fand also auch die
verzweifelte
Erklärung, die Graumann sich für seinen Besuch bei John Siders
zurechtgelegt
hatte, recht verzeihlich. Geradezu bewundernswert aber fand er die
Ruhe, mit
welcher der Ingenieur sein Haus verließ, um sich dem Gericht zu
überantworten.
Hätte
er ihn drei Stunden später gesehen, er hätte ihn
bemitleidet.
Nacht
war's und noch tiefere Nacht als anderswo in
einer der Zellen, in welchen die Untersuchungsgefangenen interniert
waren.
Es war die Zelle, in welche Albert Graumann gebracht
worden war, nachdem man ein kurzes Protokoll mit ihm aufgenommen hatte.
Mit
widrigem Geräusch hatte sich der Schlüssel im
Schloß gedreht. Graumann war allein.
Er
saß auf seinem harten Lager. Er drückte die Hand
auf das toll hämmernde Herz. Ein Schüttelfrost lief durch seinen Leib.
Er
achtete nicht darauf. In seinem Herzen bohrte und nagte es. Er stierte
in die
undurchdringliche Finsternis und murmelte:
»Zuviel
Beweise sind da. Auch Leugnen wird mir
nichts nützen. Auch ich werde auf Grund
eines Indizienbeweises wegen Raubmordes verurteilt werden.“
Und
wieder stierte er eine
Zeitlang vor sich hin, dann brach er in ein gräßliches Lachen aus. Der
Schieber an seiner Tür bewegte sich. Die Wache war herbeigekommen,
zu schauen, was der Untersuchungsgefangene mache. Ein greller
Lichtstrahl fiel
durch das kleine Fensterchen in der Tür. Er beschien ein totenbleiches,
verzerrtes Menschengesicht.
Doch
war Graumann ruhig
geworden, und der Justizsoldat schloß das Fensterchen wieder.
Da
sank der Unselige hin,
und das Gesicht auf das Kissen seines Lagers pressend, schluchzte er:
“Oh, John
Siders! John Siders!”
Leonore
Römer war nach Hause zurückgekehrt. Sie war
ein anderes Wesen geworden, seit sie ihren Vormund, wie alle Welt es
tat, für
ihres Geliebten Mörder hielt. Kalt und starr gegen die Außenwelt,
finster ihrem
Gram nachhängend, schloß sie sich entweder in ihr Zimmer ein oder ging,
wie
immer das Wetter sein mochte, in dem großen, weiten Garten, der das
Haus umgab,
rastlos auf und nieder.
Mit
dem alten Fräulein sprach sie nur wenig, nur über
das Allernotwendigste und das Allergewöhnlichste. Sie verstanden sich
nimmer,
waren in jenen Ansichten, die ihnen die wichtigsten sein mußten, weit
auseinandergeraten, konnten also über das, was ihre ganze Seele
erfüllte, nicht
reden.
Am
liebsten hätte Eleonore dieses Haus verlassen, aber
sie war
stolz und schüchtern zugleich. Sie hatte keine
Verwandten und keine Freunde. Zu Fremden aber mochte sie in dieser
Zeit, da
alles wund war in ihr, nicht gehen.
Deshalb
blieb sie einstweilen noch im Hause ihres
Vormunds, an den sie ohne tiefes Grauen und ohne tiefes Mitleid nicht
denken
konnte.
Eines
Morgens, es war zwei Wochen nach der Ermordung
Siders', ging sie eben in den Garten hinab, als der Postbote herankam
und ihr
einen dicken Brief übergab.
Es
war ein eingeschriebener Brief. Er trug eine
Adresse in ihr völlig fremder Schrift.
Verwundert
nahm sie ihn entgegen. Er kam aus Hamburg.
Dort kannte sie niemanden. Aber unzweifelhaft war der Brief für sie
bestimmt
„Fräulein
Leonore Römer. Im Hause des Herrn Ingenieurs
Albert Graumann.“
Dann
kam noch der Name des Städtchens, der Provinz, in
der sie lebte. Der Brief war unzweifelhaft an sie gerichtet
So
nahm sie ihn denn an, unterschrieb die beiden
Empfangsscheine, und der Postbote ging wieder.
oben
weiter
|