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Auguste Groner


Der Brief aus dem Jenseits


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Der Brief aus dem Jenseits
- Seite 2 -



„Auch das habe ich natürlich nicht auf ihn laden wollen“, sagte sie sanft. Plötzlich überflutete eine helle Röte ihr bleiches Gesicht. Ein Gedanke, der sie beruhigte, mußte in ihr aufgestiegen sein.
 
„Ich habe mit meinem Hierherkommen meinem Vormund kaum einen ernstlichen Schaden bereiten können“, sagte sie lebhaft, „denn es ist ja Gott sei Dank ein Raubmord, dem John zum Opfer fiel.“
 
Horns Blick mochte ihr sagen, daß er ihr wie nach Befriedigung klingendes „Gott sei Dank“ nicht verstehe, und da gab sie ihm Aufklärung.
 
„Ich meine, für einen Raubmörder kann niemand in der Welt Albert Graumann halten – und aus diesem Grunde kann man ihn mit diesem entsetzlichen Fall nicht in Verbindung bringen. Und froh bin ich auch, daß es kein Selbstmord ist; hätte John selber Hand an sich gelegt, es hätte mich noch viel tiefer getroffen.“
 
Wieder war ihre Stimme gebrochen und ihr Auge voll Tränen. Sie beugte sich vor und streckte die Hand nach der Zeitung aus, welche vor dem Kommissar lag und auf die sie jetzt ganz zufällig achtete. „Sensationeller Raubmord“ und der Name „John Siders“ starrte ihr in gesperrter Schrift entgegen. Sie zitterte, als sie das Blatt, das Horn ihr hinschob, anfaßte – aber sie bewältigte ihre Schwäche und bat: „Nicht wahr, Sie erlauben, daß ich die Zeitung mitnehme. Hier könnte ich sie nicht lesen, und ich möchte doch auch so viel davon wissen wie die anderen Leute.“
 
Er nickte ihr zu und spürte dabei deutlich, daß ihm ihr herzbewegendes Lächeln weh, recht weh tat. Aber sein Mitleid ging in Erschrecken über, als er die Veränderung in ihren Zügen sah.
 
Wie starr dieses junge Gesicht wurde, welches Entsetzen diese Augen ausdrückten – diese Augen, welche auf den Revolver gerichtet waren, der unter der nun weggezogenen Zeitung gelegen.
 
Es war die Waffe, mit welcher John Siders ermordet worden war.
 
Sogar Herr Binder blickte von seinem Papier auf und erhob sich langsam – so unbegreiflich gebärdete sich das junge Mädchen.
 
Langsam, ganz langsam, als ob sie einem widerwärtigen Zwang gehorche, streckte sie ihre rechte Hand nach dem Revolver aus, dessen feingearbeiteter Griff mit einem etwas verschnörkelten und absonderlichen Silberornament verziert war. Auf dieser schimmernden Zier haftete Eleonores stierer Blick – bohrte sich schier hinein, nachdem ihre zitternde Hand die Waffe ergriffen und dem Auge näher gebracht hatte. Da verzerrte sich der lieblich gezeichnete Mund zu einem erschreckenden Lächeln, da keuchte die zarte Brust und zitterten die jungen Beine, so daß die ganze Gestalt des Mädchens zu wanken begann.
 
„Dieser Revolver – wem gehört er?“ fragte der Kommissar und schaute aufs höchste gespannt auf Eleonore. Er wußte – jetzt würde ein entscheidendes Wort fallen.
 
Es fiel. Es überraschte ihn nicht einmal – er hatte es so halb und halb erwartet.
 
„Graumann!“ haben ihm die bleichen Lippen geantwortet – dann schlossen sie sich, dann sank Leonore bewußtlos in des Kommissars Arme.
 
Noch einmal hatte die Natur ihr Recht beansprucht. Zuviel war auf Eleonore Römer an diesem Tage eingestürmt – jetzt war sie mit ihren Kräften zu Ende.
 
„Schicken Sie nach einem Wagen, und bringen Sie mir die Frau des Portiers. Sie wird wohl so gut sein, mit dieser jungen Dame zu fahren.“ So sagte ruhig der Kommissar zu Binder. Dieser eilte fort.
 
Zwei Minuten später trat der Polizeiarzt herein, den Binder zufällig auf der Stiege getroffen.
 
Er hatte mit Hilfe von ein wenig kaltem Wasser und Lockerung der Kleider Eleonore halbwegs zu sich gebracht, während Horn rasch ein paar Worte auf ein Briefblatt warf und die schweratmige Portiersfrau dienstbeflissen herbeitrippelte.
 
„Sie bringen die junge Dame und diesen Brief zu meiner Frau“, sagte Horn freundlich, drückte der Alten ein Silberstück in die Hand, trug dann – ihm, dem großen kräftigen Mann ein leichtes – die zierliche Eleonore bis in den Wagen, schob die Alte nach und gab dem Kutscher seine Adresse und Geld.
 
Dann begab er sich mit dem Protokoll zu seinem Vorgesetzten, machte ihm die Meldung, daß er sofort, um den nächsten Zug nach Grünau zu erreichen, wegfahren müsse, sah noch, wie, während ihm das Herz schwer wurde, sein Chef voll Wohlgefallen über den jetzigen Stand der Sache, den er ihm in Kürze mitgeteilt hatte, sich die Hände rieb, und eilte dann, den Revolver mit sich nehmend, fort.
 
Es war längst Abend, früher Herbstabend geworden, als Kommissar Horn in der Station Grünau ausstieg. Wieder war sein erster Gang zum Bürgermeister, den er auch daheim antraf, der sehr bestürzt den kurzen Mitteilungen lauschte und sich dann seufzend mit dem Kommissar auf den Weg nach Graumanns Wohnung machte.
 
Dies war ein hübsches altes Einfamilienhaus, das bald vor ihnen, bald hinter Nebelschleiern, die vom Himmel sanken und aus der Erde stiegen, und hinter den halb entlaubten Bäumen eines Vorgartens aufragte.
 
Mit seinen erleuchteten Fenstern und der tiefen Stille, die es umgab, konnte es so recht als ein Sitz behaglicher Ruhe, als eine Stätte des Friedens angesehen werden.
 
Diese Ruhe, diesen Frieden recht gründlich zu stören, waren die beiden Männer, welche jetzt vor der Haustür des Öffnens harrten, gekommen.
 
Es tat ihnen weh, denn die beiden hatten warme Herzen in der Brust, wußten, was Leid und Freud, was Wohlangesehenheit und was Ehrlosigkeit bedeutet.
 
Deshalb seufzten sie, als sie vor dem friedlichen alten Hause standen, in welchem es jetzt laut wurde. Der Bürgermeister hatte die Glocke gezogen. Ihr gellender Ton war wohl bis in alle Räume des Hauses gedrungen, denn an mehreren Stellen darin wurden Türen geöffnet.
 
„Beeilen Sie sich, Leni. Es wird das Fräulein sein. Mein Gott! Wo sie wohl die ganze Zeit gewesen sein mag?“
 
„Das ist Fräulein Babette Graumann, des Ingenieurs Tante“, orientierte der Bürgermeister, den Kommissar.
 
„Und da läßt er sich selber hören“, murmelte Horn.
 
In der Tat mußte auch Albert Graumann auf den Korridor des oberen Stockwerks getreten sein, denn deutlicher noch als die feine, spitze Stimme der alten Dame klang seine tiefe, harte herunter.
 
„Na, Tante, gräme dich nur nicht allzusehr. Fräulein Eleonore hat nun mal ihre Heimlichkeiten, darein müssen wir uns fügen. Es ist ganz gut möglich, daß sie nach G. gefahren ist, um Johns Grab, denn er wird wohl schon begraben sein, mit Blumen zu schmücken.“
 
Wie spöttisch er von Eleonore sprach, die doch, und das mußte er wissen, jetzt so tief litt. Und wie kalt er von dem Ermordeten redete!
 
Horn bekam auch jetzt einen schlechten Eindruck von dem Mann, und doch war es ihm recht, daß Graumann so ruhig den Namen desjenigen aussprach, neben dessen Leiche man seinen Revolver gefunden.
 
Unter diesen Gedanken betrat er Graumanns Haus.
 
„Sind Sie es? Fräulein Lore?“ hatte die alte Leni herausgerufen, ehe sie öffnete, was sie dann doch recht schnell tat, weil sie des Bürgermeisters Stimme erkannt hatte.

„'s ist der Herr Bürgermeister!“ rief sie hinauf – da trat auch der Kommissar über die Schwelle, und Leni ließ fast die Lampe, die sie in der linken Hand hielt, fallen, so sehr war sie über das unerwartete Erscheinen des Fremden erschrocken.
 
Graumann war dem Bürgermeister entgegengeeilt.
 
„Was bringt denn Sie zu mir?“ fragte er, und sein Gesicht sah dabei angenehm erregt aus. Es veränderte sich jedoch, als Graumanns Blick auf den Kommissar fiel. Es wurde unruhig und, Horn glaubte es wenigstens zu sehen, noch ein wenig fahler, als es ohnehin schon gewesen.
 
„Einen Gast habe ich Ihnen zugeführt“, sagte der Bürgermeister und wischte sich dabei den Schweiß von der Stirn.
 
„Einen Besuch“, verbesserte sehr deutlich Kommissar Horn, indessen er den Hut zog.
 
Graumann mußte diese Korrektur unangenehm sein, denn er schloß die schmalen Lippen fester und zog die Brauen empor, wodurch sein Gesicht einen hochmütigen Ausdruck annahm, der nicht angenehmer wurde, als der Ingenieur, sich spöttisch verneigend, sagte: „Herr Kommissar haben wohl eine wichtige Frage zu stellen vergessen?“
 
„Nein, Sie haben wichtige Antworten zu geben unterlassen.“
 
Mit diesen Worten trat Horn zu der Zimmertür, welche Graumann geöffnet hatte, doch lud er diesen mit einer energischen Gebärde ein, vor ihnen einzutreten.
 
Graumann biß sich auf die Lippen, dann folgte er dem stummen Gebot des Mannes, der, er fühlte es nun mit einiger Bedrückung, nicht umsonst so feindlich gegen das Wort „Gast“ demonstriert hatte.
 
Der sehr gebildete, sehr pflichtbewußte Ingenieur hatte aber selbstverständlich eine zu große Achtung vor dem Gesetz, als daß er Horn, der ihm von diesem Augenblick an nur mehr die Verkörperung des Gesetzes war, in irgend etwas widerstrebt hätte.
 
Ruhig, freilich auch sehr steif geworden, ging er also den beiden Herren voran in das Zimmer, hinter dessen einer Tür eben ein bleiches altes Frauchen verschwand.
 
Graumann schraubte die Lampe, welche auf dem Tisch stand, höher, nahm den verdunkelnden Schirm von der Kugel, rückte zwei Stühle zurecht und machte eine einladende Handbewegung gegen seine beiden Besucher. Sie ließen sich nieder, dann setzte auch er sich.
 
Der Bürgermeister sah kläglich hilflos aus. Es mußte dem gutmütigen alten Herrn eine schreckliche Pein sein, auf das zu warten, was da kommen mußte.
 
Horn war ruhig – Graumann desgleichen. Dem ersteren hatte etwas sehr wohl gefallen, es war der Umstand, daß der Ingenieur mehr Licht geschaffen hatte.
 
„Nicht wahr, Sie haben einen breitkrempigen grauen Filzhut?“ fragte Horn, der erst bei diesem seinem zweiten Zusammentreffen mit Graumann darauf achtete, daß derselbe auch einen dunklen Vollbart trug.
 
Verwundert blickte der Ingenieur den Kommissar an.
 
„Ja, ich habe einen solchen Hut“, sagte er dann lächelnd.
 
„Kann ich ihn sehen?“
 
„Sofort.“
 
Graumann griff nach dem altmodischen Glockenstrang, der hinter dem Sofa hing. Horn aber meinte: „Es wäre mir lieber, wenn wir selber ihn holten.“
 
„Wie Sie wünschen.“
 
Graumann erhob sich, nahm die Lampe und schritt den Herren voran in das Nebenzimmer. Es war sein Schlafgemach. Nahe dem Bett stand ein mäßig großer Schrank. Graumann öffnete ihn zur Hälfte. Es zeigte sich ein Hängefach und darin eine Reihe von Beinkleidern. Graumann mußte, um zu den Legfächern zu gelangen, in deren einem seine Hüte lagen, auch die zweite Tür des Schrankes öffnen. Doch hielt er die Lampe in der Hand, und die Riegel bewegten sich nur schwer. Es war somit gar nicht auffallend, daß Horn, der so begierig war, den Hut zu sehen, sich bückte und den unteren Riegel der Tür emporschob.
 
Er kam dabei mit seinem Augen einem der Beinkleider sehr nahe, und was er beim Öffnen des Schrankes sofort, aber zunächst ein wenig undeutlich bemerkte, das sah er jetzt ganz genau.
 
Auf dem mausgrauen Stoff des Beinkleides zeigten sich einige Tintenspritzer. Sie waren von violetter Farbe.
 
Jetzt war auch die zweite Tür des Kastens offen.
 
Graumann trat zurück.
 
Dieser Polizeikommissar mochte immerhin den für ihn so interessanten Hut betrachten. Horn warf nur einen Blick darauf.
 
„Es ist richtig“, sagte er dann.
 
Graumann wollte den Schrank nun wieder schließen, doch der Polizeibeamte sagte: „Lassen Sie, er mag offen bleiben.“
 
Achselzuckend führte der Ingenieur seine Besucher wieder zu ihren Sitzen.
 
„Und nun erzählen Sie mir, wie Sie hinter Theodor Bellmanns Lebensgeschichte kamen“, sagte der Kommissar.
 
Graumann starrte ihn eine Weile sehr überrascht an, dann fuhr er sich mit der feinen weißen Hand über den wohlgepflegten Bart und sagte schmunzelnd und sich anerkennungsvoll neigend: „Die Behörde ist ja bewundernswert rasch hinter John Siders' Geheimnis gekommen.“
 
Und Horn darauf: „Wie lange haben denn Sie dazu gebraucht?“
 
Graumann lehnte sich bequemer in seinem hochlehnigen Sessel zurück und begann dann gleichmütig: „Gestatten Sie mir, Ihnen vorerst zu sagen, weshalb ich Ursache hatte, mich für Siders' Vergangenheit zu interessieren.“
 
Horn neigte sein Haupt, dann sah er wieder aufmerksam auf den Erzählenden, der also fortfuhr: „Wie ich schon heute vormittag sagte, schloß Siders, mit dem ich zufällig einmal, bald nach seiner Ankunft hier, im Kaffeehaus bekannt wurde, sich mir an. Wir kamen auf Amerika und unser dortiges Leben zu sprechen, wobei es sich ergab, daß wir in Chicago einige gemeinsame Bekannte hatten. Mir war der Mann nicht unsympathisch, doch fiel mir im ferneren Verlauf unserer Bekanntschaft auf, daß er niemals von der Zeit sprach, die vor seinem Amerika-Aufenthalt lag, daß er auch immer auswich, wenn ich eine Andeutung über seine Heimat, seine Familienverhältnisse machte. Im übrigen zeigte er sich als ein Mann, der Hochschulwissen errungen und der auch durch die Hochschule des Lebens gegangen war, benahm sich tadellos und gefiel auch meinen Damen (ich habe nämlich eine Tante und ein Mündel bei mir) so sehr, daß ich ihn zuweilen in mein Haus lud. Was ich nie befürchtet hatte, geschah. Mein Mündel, Leonora Römer, ein sanftes, stilles, bisher willenloses Mädchen, verliebte sich in den uns eigentlich ja ganz unbekannten Mann – mit einer ganz sicher irgendwie geheimnisvollen Vergangenheit.
 
John Siders verleitete Lore sogar zu einer heimlichen Verlobung, hinter welche ich im Juli dieses Jahres gekommen bin.
 
Da ward mir die Sache zu ernst. Ich ließ mir meinen Ärger nicht anmerken, warnte Lore nur, sich nicht noch mehr mit dem Burschen einzulassen, und schrieb, um mich endlich über ihn zu informieren, wozu ich ja nun ein Recht, ja sogar die Pflicht hatte, nach Chicago. John war dort Advokat gewesen, etwa vier Jahre hindurch, und hatte meinen ehemaligen Fabrikherrn zum Klienten gehabt. An diesen Mr. Tressider schrieb ich, ihn bittend, er möchte mir durch die dortige Polizei Auskunft über John Siders Geburtsort verschaffen. Mitte August kam Antwort. Siders war achtzehnhundert . . . zu Hartberg geboren. Mehr hatte Mr. Tressider nicht in Erfahrung bringen können. Es war mir genug. Ich nahm einen Tag nach Erhalt des Briefes für einige Tage Urlaub, erhielt ihn, fuhr nach Hartberg, das, wie Sie wissen, nur siebzig Kilometer entfernt von hier ist, und wußte drei Tage später, über G. heimkehrend, alles, was mir zu wissen nötig war. Theodor Bellmann war der Sohn eines kleinen Beamten gewesen, der seine Witwe und den Knaben in tiefster Armut zurückließ. Frau Bellmann übersiedelte nach G., um in der größeren Stadt Musiklektionen zu geben. Theodor ging aufs Gymnasium, später auf die Universität und war stets ein vortrefflicher Schüler. Doch hatte ihm die Rechtswissenschaft, die er studierte, kein Rechtsgefühl zu geben vermocht. Er bestahl den Bankier, bei welchem er Hauslehrer, ja Hausfreund war, wiederholt, wurde endlich eines bedeutenden Diebstahls überführt, leugnete zwar verzweifelt, die Indizien zeugten aber so unzweifelhaft gegen ihn, daß der Richter (es ist der jetzige Staatsanwalt Schmid in G.) ihn verurteilen mußte. Acht Monate hindurch saß Bellmann im Sträflingskleid im Zuchthaus von W. Freigelassen, wanderte er aus, nachdem er vorher noch seiner Mutter Grab besucht. Es war bis zuletzt etwas Gutes in ihm, das vermag selbst ich, der notgedrungen sein Gegner werden mußte, zu bezeugen. Es mag jetzt noch an ihm genagt haben, daß seine Schande die Mutter unter die Erde gebracht, denn nie sah ich ihn froh, nie hörte ich ihn lachen. Jedenfalls hat er die Tat seiner Jugend überhart verbüßt, denn – wie gesagt – er war zuletzt ein guter Mensch.“
 
Graumann hielt ein. Er fuhr sich mit der flachen Hand mehrmals über die Herzgegend. Sein Klappenfehler mochte ihm wieder zu schaffen machen. Es war auch seine Stimme leise, unsicher, ja – Horn schien es so – weicher geworden. Er mochte eine Zwischenrede erwartet haben, doch der Kommissar regte sich nicht, und so fuhr er denn fort: „Ich löste das Verlöbnis meines Mündels mit dem ehemaligen Züchtling, denn ich konnte doch das Mädchen nicht in solche Hände geben.“
 
„Besonders deswegen nicht, weil Sie Fräulein Leonore Römer selber heiraten wollten“, sagte trocken der Polizeibeamte.
 
Graumann fuhr empor.
 
„Sie wissen?“ stammelte er und stand langsam auf. „Da – da war Lore also vermutlich heute nachmittag bei Ihnen.“
 
„Stimmt.“
 
„Und hat Ihnen ihr Herz ausgeschüttet“, brach es mit scharfem Spott von des Ingenieurs Lippen.
 
„Stimmt“, antwortete abermals sehr ruhig Horn und setzte ebenso gemütlich hinzu:
 
„Aber das alles ist Nebensache. Die Hauptsache, scheint mir, ist, Ihrem schwachen Gedächtnis auf die Beine zu helfen. Heute vormittag sagten Sie, daß Sie John Siders zum letztenmal gesehen hätten, als er Grünau verließ – na sehen Sie –, das stimmt nicht.“
 
In Graumann ging eine merkliche Veränderung vor. Er ließ sich rasch, als fürchte er, die Kräfte werden ihn verlassen, auf den Sessel nieder, und diesmal starrten seine Augen mit dem Ausdruck starken Angstgefühls auf den Kommissar.
 
„Was wollen Sie damit andeuten?“ würgte er langsam heiser hervor.
 
„Andeuten will ich gar nichts, nur sagen, klar und deutlich sagen, daß John Siders am dreiundzwanzigsten September abends den Besuch eines Herrn mit dunklem Vollbart und breitkrempigem grauem Hut empfing – daß das Haus Nummer 7 in der Josefigasse damals außer den beiden Männern nur eine alte, halbtaube Magd umschloß und daß John Siders' schon erkaltete Leiche am Morgen des vierundzwanzigsten September aufgefunden wurde. Was man bei John Siders nicht mehr fand, das waren zehntausend bare Gulden, was man in seinem Zimmer fand, waren ein umgestürztes Tintenfaß, dessen violetter Inhalt weithin verspritzt war, wovon einige Spuren auf dem mausgrauen Beinkleid dort drinnen sich noch vorfinden – und war ferner“, Horn senkte die Hand in die Tasche seines Winterrocks, „dieser Revolver.“
 
Er hielt dem Ingenieur die seltsam verzierte Waffe hin, indem er ernst, schrecklich ernst hinzufügte: „Auf diese Indizienbeweise hin muß ich Sie im Namen des Gesetzes verhaften.“
 
Horn war aufgestanden. Auch der gute alte Bürgermeister hatte sich erhoben, stöhnte leise und knickte völlig zusammen, als sich jetzt jene Tür auftat, hinter welcher Fräulein Graumann vorhin verschwunden war und nun wieder erschien, noch bleicher, noch viel, viel älter aussehend als früher.
 
Langsam kam sie heran und sank neben ihrem Neffen auf die Knie.
 
„Albert – welches Leid kommt über uns“, sagte sie leise. „Aber, Albert, ich weiß es, du hast das Entsetzliche nicht getan, und alles, alles ist ein Irrtum. Albert, sprich! Starre nicht so vor dich hin – lasse mich nicht in der Angst, du seiest irrsinnig geworden. Rede – oh, rede. Das ist ja gar nicht dein Revolver – er kann es ja nicht sein. Ich will es den Herrn sogleich beweisen. Ich will deinen Revolver holen.“
 
Mit der fliegenden Hast fiebriger Angst hatte das alte Fräulein abgebrochen und wollte sich jetzt erheben. Graumann aber sagte, noch immer den stieren Blick auf den Revolver gerichtet: „Es ist mein Revolver.“
 
Da gellte ein Schrei durch das Zimmer. Die Dame hatte ihn ausgestoßen und so das gräßlichste Entsetzen verraten – aber sogleich schüttelte sie wieder krampfhaft das Haupt und sagte völlig ruhig, völlig sicher: „Und wenn es zehnmal dein Revolver ist und wenn auch mit ihm der arme Siders getötet wurde – du hast's doch nicht getan.“
 
Soviel festes Vertrauen tat jedem der drei Männer wohl. In die Augen des sonst so kaltherzigen Graumann waren schwere Tränen getreten. Er beugte sich zu dem alten Gesicht nieder und küßte es zärtlich. Es geschah wohl zum erstenmal.
 
„Ich danke dir“, sagte er danach, „ich danke dir innig. Nein, ich bin trotz allem Johns Mörder nicht. Aber freilich, alles spricht gegen mich, und ich muß nun noch etwas angeben, was sehr unwahrscheinlich klingt und ebenfalls gegen mich zeugen wird. Darf ich reden?“
 
„Sprechen Sie“, sagte Horn.
 
„Ich war wirklich am dreiundzwanzigsten September bei John Siders. In einem Brief, den ich freilich nicht mehr besitze, hat er mich zu einer dringenden Besprechung zu sich geladen. Ich müsse kommen, es stehe für mich und ihn Großes auf dem Spiel. So schrieb er mir und bat mich, um unser beider willen die größte Verschwiegenheit bezüglich dieses Besuches zu beachten.
 
Ich hatte ihn unglücklich machen müssen – so fühlte ich mich denn verpflichtet, seinem Rufe zu folgen, denn mein Gewissen sagte mir, daß ich es ihm schuldig sei, ihm in anderen Dingen zu helfen, falls er meiner Hilfe bedurfte. Ich hatte überdies Angst vor einem exzentrischen Streich, dessen ich ihn, seiner ganzen Art nach, wohl für fähig halten konnte. Dabei dachte ich nicht an mich, nur an Lore. Jedenfalls wollte ich seiner Bitte nachkommen und fuhr zu der von ihm bestimmten Zeit nach G.
 
Für mich hatte ich keine Furcht – das wiederhole ich noch einmal, ich nahm daher keinerlei Waffe mit. Wer den Revolver dahin brachte, weiß ich nicht, wußte bis jetzt nicht einmal, daß ich nicht mehr in seinem Besitz bin, weiß nur ( an dieser Verletzung seines Zierates erkenne ich es noch sicherer als an dem seltsamen Silberbeschlag überhaupt), daß es ganz bestimmt mein Revolver ist.“
 
Schwer atmend und wieder die Hand zum Herzen führend, hielt Graumann ein.
 
„Sie bedürfen einer Stärkung“, sagte Horn, und schon eilte das alte Fräulein aus dem Zimmer; mit einem Glas Wasser und einer Flasche Kognak kam sie wieder. Graumann nahm von beiden ein wenig. Er war gekräftigt. Er sprach weiter.

„Weshalb hatte Siders mich zu sich gerufen? Ich erfuhr es nicht. Das Haus war schon verschlossen. Die alte Magd, die mir auf mein wiederholtes Klingeln öffnete, war verwundert darüber und sagte, Herr Siders müsse diesmal gegen allen Brauch die Tür geschlossen haben.
 
Ich ging hinauf. Siders empfing mich geräuschvoll und hielt mich mit allerlei Reden hin.
 
Als ich in ihn drang, mir doch endlich zu sagen, was es denn Wichtiges zwischen uns gäbe, lächelte er und meinte, das Wichtigste sei bereits getan und ich könne wieder gehen. Er sah ganz ruhig aus, mußte es aber doch nicht sein, denn während er so sprach und ich zornbebend über solches ›Zum Narren gehalten werden‹ mich an den Tisch lehnte, warf er aus Versehen das Tintenfaß um, dessen Inhalt natürlich auch mich bespritzte. Er hielt mich dann noch mit einigen Entschuldigungen auf, sah nach, ob noch Licht auf der Treppe sei, und führte mich selbst bis auf die Straße hinunter, wo er noch, während ich wegging, unter der Tür stehenblieb.
 
Ich muß sagen, daß ich ihn für übergeschnappt hielt. Denn erstens bat er mich noch oben in seinem Quartier, daß ich seine ziemlich wertvollen Schmuckstücke aufbewahren möchte, was ich ablehnte, und zweitens sagte er, als ich sehr übel gelaunt von ihm schied, ohne jede Veranlassung: ›Sie werden noch oft, recht oft an mich denken.
 
Dies alles – ich sehe ja selber ein – außerordentlich erdichtet Klingende wollte ich Ihnen heute noch sagen. Ich weiß nämlich nicht, ob ich morgen noch vernehmungsfähig sein werde – Sie wissen, mein Herz ist sehr schwach, und ich war deshalb schon oft wochenlang schwer krank.“
 
Graumann hatte sich langsam erhoben. Er sah nicht übermäßig angegriffen aus.
 
„Gräme dich nicht, meine Unschuld muß ja doch zutage kommen“, sagte er ruhig zu seiner Tante, klingelte und goß sich dann noch ein Glas voll Wasser ein, das er langsam austrank.
 
Leni erschien.
 
„Gnädiger Herr befehlen?“
 
„Meinen Winterrock und den grauen Hut. Auch die Hose, die ich bei meiner letzten Fahrt nach der Stadt trug, bringen Sie mit.“
 
Horn gefiel der Mann immer mehr. Solche Ruhe in solcher Situation war etwas Erfreuliches. Aber freilich, alberne Märchen sollte ein sonst so vernünftiger Mann nicht erfinden. Doch der Selbsterhaltungstrieb zeitigt oft die seltsamsten Früchte. Das wußte Kommissar Horn, der als gerechter Mann immer zwei Standpunkte hatte, seinen eigenen und den des Gegners, und dem in seiner langen Praxis die absonderlichsten Verteidigungsmittel untergekommen waren. Horn fand also auch die verzweifelte Erklärung, die Graumann sich für seinen Besuch bei John Siders zurechtgelegt hatte, recht verzeihlich. Geradezu bewundernswert aber fand er die Ruhe, mit welcher der Ingenieur sein Haus verließ, um sich dem Gericht zu überantworten.
 
Hätte er ihn drei Stunden später gesehen, er hätte ihn bemitleidet.
 
Nacht war's und noch tiefere Nacht als anderswo in einer der Zellen, in welchen die Untersuchungsgefangenen interniert waren. Es war die Zelle, in welche Albert Graumann gebracht worden war, nachdem man ein kurzes Protokoll mit ihm aufgenommen hatte.
 
Mit widrigem Geräusch hatte sich der Schlüssel im Schloß gedreht. Graumann war allein.
 
Er saß auf seinem harten Lager. Er drückte die Hand auf das toll hämmernde Herz. Ein Schüttelfrost lief durch seinen Leib. Er achtete nicht darauf. In seinem Herzen bohrte und nagte es. Er stierte in die undurchdringliche Finsternis und murmelte:
 
»Zuviel Beweise sind da. Auch Leugnen wird mir nichts nützen. Auch ich werde auf Grund eines Indizienbeweises wegen Raubmordes verurteilt werden.“
 
Und wieder stierte er eine Zeitlang vor sich hin, dann brach er in ein gräßliches Lachen aus. Der Schieber an seiner Tür bewegte sich. Die Wache war herbeigekommen, zu schauen, was der Untersuchungsgefangene mache. Ein greller Lichtstrahl fiel durch das kleine Fensterchen in der Tür. Er beschien ein totenbleiches, verzerrtes Menschengesicht.
 
Doch war Graumann ruhig geworden, und der Justizsoldat schloß das Fensterchen wieder.
 
Da sank der Unselige hin, und das Gesicht auf das Kissen seines Lagers pressend, schluchzte er: “Oh, John Siders! John Siders!”
 
 
Leonore Römer war nach Hause zurückgekehrt. Sie war ein anderes Wesen geworden, seit sie ihren Vormund, wie alle Welt es tat, für ihres Geliebten Mörder hielt. Kalt und starr gegen die Außenwelt, finster ihrem Gram nachhängend, schloß sie sich entweder in ihr Zimmer ein oder ging, wie immer das Wetter sein mochte, in dem großen, weiten Garten, der das Haus umgab, rastlos auf und nieder.
 
Mit dem alten Fräulein sprach sie nur wenig, nur über das Allernotwendigste und das Allergewöhnlichste. Sie verstanden sich nimmer, waren in jenen Ansichten, die ihnen die wichtigsten sein mußten, weit auseinandergeraten, konnten also über das, was ihre ganze Seele erfüllte, nicht reden.
 
Am liebsten hätte Eleonore dieses Haus verlassen, aber sie war stolz und schüchtern zugleich. Sie hatte keine Verwandten und keine Freunde. Zu Fremden aber mochte sie in dieser Zeit, da alles wund war in ihr, nicht gehen.
 
Deshalb blieb sie einstweilen noch im Hause ihres Vormunds, an den sie ohne tiefes Grauen und ohne tiefes Mitleid nicht denken konnte.
 
Eines Morgens, es war zwei Wochen nach der Ermordung Siders', ging sie eben in den Garten hinab, als der Postbote herankam und ihr einen dicken Brief übergab.
 
Es war ein eingeschriebener Brief. Er trug eine Adresse in ihr völlig fremder Schrift.
 
Verwundert nahm sie ihn entgegen. Er kam aus Hamburg. Dort kannte sie niemanden. Aber unzweifelhaft war der Brief für sie bestimmt
 
„Fräulein Leonore Römer. Im Hause des Herrn Ingenieurs Albert Graumann.“
 
Dann kam noch der Name des Städtchens, der Provinz, in der sie lebte. Der Brief war unzweifelhaft an sie gerichtet
 
So nahm sie ihn denn an, unterschrieb die beiden Empfangsscheine, und der Postbote ging wieder.





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