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"Verzweiflung",
Ludwig Meidner
(Ausschnitt), 1914, "Ludwig
Meidner Archiv, Jüdisches Museum
der Stadt Frankfurt a. M.
04.3
Die Revolution
Georg Heym
Aus dem dramatischen Nachlaß
Personen:
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Friedrich
Hecker
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Gustav
von Struve
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Thomas
Möglich
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Badische
Revolutionäre
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Franz
Sigel
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Weishaar
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Willig
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Bruche
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Peter
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Mariechen,
Möglichs Geliebte
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Erster
Bürger (Lechli)
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Zweiter
Bürger (Spetzger)
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Zwei
Freischärler
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Konstanz. Abend.
Erster
Bürger
Es
wird Frühling, Nachbar.
Zweiter
Bürger
Es
war ein langer Winter.
Das
Eis springt auf dem See und die
Berge sind im Nebel. Da wird bald der Föhn kommen und den Frühling
bringen.
Riecht Ihr nicht schon den Frühling in der Luft?
Zweiter
Bürger
Ach,
wenn es doch auch in Deutschland Frühling würde.
Erster
Bürger
Ihr
lest wohl jetzt die Seeblätter, Nachbar.
Man
muß sich fortbilden, man muß mit der
Zeit gehen. Bei der Konkurrenz wickeln sie die Wurst in die Seeblätter
ein, und
seitdem laufen alle Kunden zu ihr. Mit dem hinkenden Landboten und dem
Roman
von der schönen Genoveva fängt man keinen mehr.
Man
muß die Seeblätter lesen, wenn man für einen Mann von Kopf gelten
und etwas verdienen will.
Ihr
habt jetzt auch reichlich Arbeit und Verdienst, man sieht's ja,
wie sie bei Euch aus und ein laufen?
Ja,
ja es will alle Welt in blauen
Kitteln und polnischen Schnürröcken herumlaufen. Da heißt es arbeiten.
Polnischer Schnürrock, Herr Nachbar, Euer Rock ist schon sehr
abgetragen. Vor
drei Jahren habt Ihr ihn mir in Arbeit gegeben. Am Ellenbogen aus den
Nähten
gegangen. Alle Knopflöcher zerrissen und der Samtkragen, der schöne
Samtkragen.
Wie der vor drei Jahren einmal ausgesehen hat. Dazu die Rockschöße,
Herr
Nachbar, die Rockschöße. Ihr habt wohl Euren Hosenboden schonen wollen,
daß Ihr
immer auf den Rockschößen saßet. Oder Ihr habt Euch in Speck gesetzt.
Das
glänzt ja wie ein Spiegel. Der ganze Markt spiegelt sich in Eurem
Rücken. Pfui,
Herr Nachbar, ein Mann von Reputation. Ich will Euch zu einem
polnischen
Schnürrock Maß nehmen. Euer polnischer Schnürrock ist etwas wert für
einen
liberalen Mann. Und Ihr wollt doch den Leutnantsposten in der
Bürgerwehr? Kommt
zu mir auf den Abend. Dann kann ich Euch Maß nehmen.
Ich
will's überlegen Gevatter. Ich will
meine Frau fragen. Man muß so etwas reiflich überdenken.
Erster Bürger
Überlegt's
Euch nur in Ruhe. Ich will
Euch nicht drängen. Der Fleischermeister Untermann in der Seegasse will
auch
einen bestellen.
Zweiter
Bürger
Der
Untermann? Ich komme auf den Abend, Herr Lechli.
Erster Bürger
Auf
den Abend also. Grüß Euch Gott.
Zweiter Bürger
Gehabt
Euch wohl. (Ab.) Auf
den Abend.
Erster Bürger
Ach
ein schlimmes Jahr. Ein schlimmes Jahr. Seeblätter. Bürgerwehr.
Konstitution, deutsche Republik, polnische Schnürröcke. Wer hätte so
etwas
früher gedacht.
Ach
ein schlimmes Jahr. Man muß alle Stunde einmal nachfühlen, ob man
noch seinen Kopf auf dem Leibe hat.
Zwei andere. Sie wollen
aneinander vorbei. Da erkennen sie sich.
Hecker
Struve,
du!
Struve
Du,
Hecker. Du kommst nach Konstanz? Wir dachten, du hättest die
phrygische Mütze hinter den Ofen gehangen und säßest ruhig zu Karlsruhe.
Hecker
In
zwei Tagen bin ich hierhergereist, Tag und Nacht in den
Postkutschen gelegen. Über Zürich und Basel. Hinter mir ist ein
Steckbrief
erlassen. Und wer mich fängt:
Struve
Der
hängt dich. Aber du wirst dich nicht fangen lassen. Der Brutus,
der Danton der deutschen Republik, Hecker, von einem jämmerlichen
Steckbrief
verfolgt. Den wollen wir morgen auf dem Marktplatz im Amtskasten
aushängen
lassen und dazu einen hinter den wackligen Leopold von Baden, den
paralytischen
Friedrich Wilhelm, den despotischen Feigling Ferdinand von Habsburg und
den
siebenunddreißig andern Schmeißfliegen, die sich an dem Blute teutscher
Nation
mästen. O
Hecker, Hecker, daß du wiederkamst.
(Pause.)
Hecker
Fickler
ist verhaftet!
Struve
Fickler
verhaftet?
Hecker
Der
schöne demokratische Mathy hat die Larve von der feilen
Schranzenfratze gerissen und Fickler verhaften lassen, da er nach
Konstanz wollte,
um den Aufstand zu predigen.
Struve
Der
schurkische Mathy. Und das Vorparlament?
Hecker
Berät
über die Unsterblichkeit der Seele, über die republikanische
Damenkleidung, die Befreiung der Hausknechte, einen Nationaltempel mit
freier
Wohnung der Abgeordneten, es läßt sich die Haare wild wachsen, teutsche
Anzüge
machen und es spielt abends auf Kosten der künftigen Republik seinen
Tarock und
raucht seine Pfeife.
Struve
Es
wird Zeit, Hecker.
Hecker
Es
wird Zeit, Struve. Sonst spannen sie die deutsche Freiheit auf das
Prokrustesbett.
Struve
Setzen
sie unter Spiritus und zeigen sie auf allen Schaubuden und
Jahrmärkten als hundertköpfige Totgeburt. Und die siebenunddreißig
schwachköpfigen Kronen- und Kurhutträger tanzen vor ihrem Leichnam wie
weiland
David vor der Bundeslade.
Hecker,
verlaß die Freiheit nicht. Hecker.
Hecker
Struve,
mit meinem Leben verlasse ich sie nicht. Wo sind die andern?
Wo sind Willig, Bruche, Möglich. Wo sind Sigel und der alte Weishaar?
Struve
Sie
revolutionieren das Land. Ich habe sie ausgeschickt, wie Christus
seine Jünger aussandte. Auf den Abend sind sie zurück. Wir halten Rat.
Du wirst
ihm präsidieren?
Hecker
Ich
werde bei euch sein. (Ab.)
Das
gute Kind
Hecker. Der hübsche Junge. Wie er sich schon auf den hohen Stuhl der
deutschen
Republik träumt. Ärgerlich, daß ihm das Volk nachläuft, daß es immer
einen
Abgott haben muß. Frauen und Volk, sie haben keinen Sinn für das Ewig-
Abstrakte. Sie können einer Sache nicht zujubeln, wenn sie ihre Apostel
nicht
lieben.
Ich
muß mir aus ihm eine Krücke schnitzen, ich muß auf seinem breiten
Rücken in die Höhe klettern.
Er
soll der Riese Christophoros sein, der das Heil der Welt durch die
Fluten trägt, heißt, mit dem Unterschied, daß er nie das rettende Ufer
sehen
soll. Er soll Theseus sein und den Kampf mit dem Minotaurus wagen, ich
bin die
Schere, die den Ariadnefaden hinter ihm durchbeißt. (Ab.)
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