lifedays-seite

moment in time



Literatur

"Verzweiflung", Ludwig Meidner (Ausschnitt), 1914, "Ludwig Meidner Archiv, Jüdisches Museum der Stadt Frankfurt a. M.
       
04.3


Aus den Tagebüchern
 Georg Heym

Erstes Tagebuch



Popup

Erstes Tagebuch
 
d. 20.12.1904.
Und nun will ich auch ein Tagebuch anfangen. Wozu? Vielleicht um idealer Zuschauer meines Selbst zu sein, wie ich irgendwo gelesen habe, oder auch sonst aus andern Gründen. Es soll den Stempel der Wahrheit tragen. Ich will nichts beschönigen. Es soll mein Spiegel sein. (. . .)
 
d 27. 12.04.
Manchmal kommt über mich so eine Ahnung des Niegelingens “Es schwinden, es fallen die leidenden Menschen wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen blindlings von einer Stunde zur andern, jahrlang in’s Ungewisse hinab.“ Und trotzdem kämpfe ich immer noch weiter. Am ersten Feiertag saß ich neben ihr in der Kirche, eine richtige Feierstunde. Natürlich mußte ich, um mich interessant zu machen, das Heilige verspotten. Ich kann das eben nicht lassen. (. . .)
 
8.2.05.
Ach, was das für eine Qual ist. Ich habe heute einen Aufsatz zurückbekommen: Frieden und Streit in Göthes Herrmann und Dorothea. Note: “mangelhaft. Phrasen können die Gedanken nicht ersetzen.“ Was das für eine Qual ist unter einem solchen hölzernen Kerl von Pauker zu arbeiten. Steif wie ein Ladestock. Bei Besprechung der Friedensszene im Hause des Wirtes eingangs des Gedichtes schreibe ich: Diese ganze Friedensszene nimmt sich aus wie ein Bildchen auf den verstaubten Porzellantäßchen der Großmutter. Urteil: “Werden sie nicht abgewischt?”.
 
Um Gotteswillen nicht sich erlauben, produktiv zu sein. Da sind wir ja noch viel zu unreif. Dieser Herr ist so ganz nach dem Sinne meines Vaters, der ja auch nur aus Haut und Knochen besteht.: Poesie, Kunst u.s.w. sind unpraktisch und überflüssiger Luxus. Wenn ich konsequent wäre, müßte ich mir eigentlich unter diesen Verhältnissen das Leben nehmen. Aber ich glaube an mich. Ich werde auch allein meinen Weg gehen können.
 
d.23.4.1905
In die Verbannung. Gerade jetzt, wo ich mit Nelly so freundschaftlich stehe. Ich nehme mir vor, in Neu-Ruppin als ganz krasser Pessimist aufzutreten.
 
„Und viel zu grauenhaft, als daß man klage,daß alles gleitet und vorüberrinnt.“
 
Ein Bekannter meines Freundes Ernst Balcke, mir auch gut bekannt, beging Selbstmord.
 
Er war einer der klügsten Menschen, die ich kenne. Er erfand in einsamen Nächten schon ganze mathematische Sätze. Dafür war er in der Schule durchaus ungenügend, trotzdem er seine Mitschüler an Schärfe des Verstandes weit überragte. Ich glaube, diese Schule ist der Verderb jeden Genies. Was wollte ich wohl arbeiten, wenn ich mir meine Lehrer zu allem Guten und Schönen selbst wählen könnte. Nun werde ich in Neu Ruppin von der Vergangenheit leben, mich gewissermaßen wie ein Schmetterling verpuppen; vielleicht wird in der Abgeschiedenheit aus der häßlichen Puppe ein schöner Falter.
 
Dieser Vogel starb. Er ging wunschlos aus dem Leben fort in das „graue Nichts“ wie er sagte. Würde Goldelse zu mir sagen: „Komm stirb mit mir“, so würde ich mich wohl kaum lange besinnen.
 
„Sterben, Schlafen, Nichts weiter.“ (. . .)
 
30 Mai. 1905
Meine Pensionsmutter sagte mir, ich sähe immer so mißmutig aus. Ich bin eigentlich stolz darauf. Denn hier fröhlich aussehen kann nur der, der in die Atmosphäre dieser Kleinstadt paßt. (. . .)
 
 
5.6.1905
Ich sitze hier eben bei meiner Lampe und sehe zu, wie aus dem dunklen Garten durch das offene Fenster die Nachtschmetterlinge hereinflattern. Mit ausgebreiteten Flügeln fliegen sie in das Feuer. Ein Augenblick strahlenden Glanzes um sie herum, und dann Nichts mehr. Ein Nachtwindhauch führt ihre Aschenstäubchen zurück in den dunklen Garten. O, das ist schön, ein Augenblick strahlenden Glücks und dann verwehn.
 
Mein Bekannter Vogel ging, wenn ich mich so ausdrücken soll, verstandesmäßig mathematisch berechnend in den Tod, falls ich es tuen sollte, würde ich dem Unbekannten mit dem Gemüt fühlend entgegen treten. Aber ich hoffe, ich kann es mit dem Spiel mit diesem Gedanken bewenden lassen.
 
Mein Vater untersagte mir die Fahrt, es kommt zum Bruch.
 
24 Juni. 1905
Ich schreibe immer dasselbe eigentlich. Meine Pensionsmutter nahm mich eben wieder vor, ich sollte nicht so grübeln. Ich sollte den Kopf hochhalten. Sie macht sich wirklich, scheint es, die Mühe, auf mich aufheiternd einzuwirken. Ich konnte ihr wohl für ihre Liebe danken. Aber ich habe den Kopf schon oft nach oben gerichtet und die Liebe, um die ich bat, nicht gefunden.
 
Jetzt bete ich nicht mehr. Ich sehe nur noch abends zu den Sternen auf und grüble, doch eigentlich nutzlos. (. . .)
 
17.7.1905
Meine Lieblingsbücher sind Caracosa und Leonardo da Vinci. Ohne sie wäre ich arm. Das ist eigentlich komisch, denn sonst sind sie garnicht so bekannt und beliebt. Ich möchte finden, ob ich den gleichen oder den entgegengesetzten Charakter habe z. B. wie Leonardo, wie ihn Mereschkowskiy hinstellt. Beides ist ja, um den Leonardo recht zu lieben, möglich. Les extremes – – –. Ich vergaß Bethges Hölderlin. Dieser muß überhaupt dem da Vinci sehr verwandt gewesen sein.
 
Ognibene – Caracosa!
 
4 September 1905.
Was soll man schreiben! Ein Tag ist wie der andere und sie laufen alle ohne unseren Willen ihren Weg. Ich schreibe auch nur wieder, um irgend einen Merkstein aus diesen trüben langweiligen Tagen zu haben. Früher schrieb ich von dem, dessen das Herz voll war und doch könnt ich auch da nicht alles aufschreiben, da ich viel zu viel zu schreiben hatte. Ich erinnere mich kaum jetzt noch daran. Ich lebe meine Tage so weiter ab, wie ein Ton, den ein Künstler angeschlagen hat, noch lange nachklingt über uns hin. Es tauchen auch noch mir poetische Gedanken auf, aber das Feuer fehlt mir, die Liebe zum Gestalten der Gedanken. (. . .)
 
10.9.1905
Ich lese eben Heinz Tovote. Er ist ein sehr guter Causeur, fast in der Art des genialen Guy. Aber auch er schildert immer nur den Schmerz nach dem verlorenen Glück.
 
O ich sehne mich so nach dem großen Schmerz. Wen die Götter lieben, dem geben sie großes Glück und großen Schmerz ganz. Und dazu geben Sie ihm eine strahlende Schönheit, daß ihrem Geschenk eine schöne Hülle sei. Wo ist etwas davon bei mir? Ich weiß, wenn man glücklich ist, ist man schön.
 
Und es steht geschrieben: Haltet euren Leib rein, denn er soll ein Tempel des Geistes sein. Es ist jenen Götterlieblingen leicht, ihre Schönheit rein zu erhalten, denn in großem Glück und in großem, wahrem Schmerz verabscheut man das Niedrige, Gemeine. Mir ist es schwer, aber bis heut habe ich es noch getan.
 
Und wenn ich fallen will, dann denke ich an meinen lieben Hölderlin, wie er des großen Leides gewürdigt wurde. Und dann warte ich wieder auf den großen Schmerz, und kehre mich ab vom Gemeinen. Denn durch unedles Handeln würde ich meinem Ideal immer unähnlicher. O, wie ich Hölderlin liebe. Wenn er durch die Straßen ging, dann war es, als schritte Apoll einher. Und ich liebe ihn wegen seiner Schönheit, und daß er des größten Glückes und des größten Schmerzes geweiht wurde.
 
Ich werde jetzt bald Nelli wiedersehen. Wie wird das werden? Vielleicht sehe ich auch Stenzi wieder. Wird mich das endlich zu dem großen Glück und zu dem großen Schmerz führen?
 
30.12.05. (. . .)
„Ihr laßt den Armen schuldig werden, dann überlaßt Ihr ihn der Pein“ „Greif zu und iß, dann dulde“. Ja Zitate hat man leichtlich bei der Hand. Ja ich glaube wirklich, es wäre besser, ich wäre nie geboren.
 
den 8. Mai 1906.
 
O Begeisterung, so finden wir in dir ein selig Grab, 
tief in deine Wogen schwinden 
still frohlockend wir hinab.
 
Diese Verse sind mir in der letzten Zeit viel gewesen. Wenn ich einmal dazu kommen sollte, mir den Tod geben zu müssen, so sollen sie mich hinabgeleiten. Wem das Leben mißrieht, der sehe, daß ihm das Sterben um so mehr gerate. Er gehe dahin, umringt von Hoffenden und Gelobenden. Wie wäre es schön, schon jetzt im Leben eine Gemeine der Hoffenden und Gelobenden zu gründen. Es wäre falsch, für sie auch Glaubenssätze zu formen oder sonst eine Art des Ritus festsetzen zu wollen. An schönen Mondnächten, bei Sonnenaufgang, immer zu geweihten Stunden, müßten sie sich sammeln. Doch ich glaube, dies müßte immer Utopie bleiben, da mehrere doch nie den gleichen Geist fühlen könnten. (. . .)
 
20. 7.1906
Ich bin nämlich gar kein Mensch. Ich bin nur irgend eine Art Spiegel gewissermaßen, der anderer Menschen heiße Gefühle in sich aufnimmt und zurückstrahlt, aber eigene Gefühle kann ich mir nicht erlauben. Es ist riesig egal, ob hier noch irgendwelche Stilschönheit gewahrt wird, oder nicht, so unglaubliches ist mir begegnet, so unglaubliches, daß ich darüber garnicht zu denken wage, ja daß es mir fast garnicht so ungeheuerlich erscheint.
 
(. . .) Ja es sind keine Götter, es kann keine Götter geben, der große Pan ist tot, aber ich muß sie mir schaffen, um mit ihnen sprechen zu können, denn mit wem sollte ich es sonst. (. . .)
 
21. Juli 1906
Die Natur ist eben nicht mit dem Genie im Bunde, vielmehr ist das Genie gerade oft häufiger ihren Angriffen ausgesetzt, als der Kleine. Es ist, als ob die Natur in einer Art von Kommunismus, alles nivellieren möchte, als könnte sie es nicht ertragen, daß ein Mensch über die andern hinauswächst und auch ihr mit seines Geistes Waffen gefährlich wird, daß er sie knechtet, indem er ihre Gesetze erkennen lernt und sich dienstbar macht. Das Genie muß die Natur im Dienst der Menschheit bezwingen, sie ist seine allerschlimmste Feindin. Aber sie rächt sich oft sehr heimtückisch, indem sie dem Genie oft alle Möglichkeit nimmt, persönlich glücklich zu werden.
 
Warum muß ein Sokrates abschreckend häßlich sein, er, der so alles Schöne verehrte, wäre er nicht ein herrlicher Heros des Griechischen Schönheitsgedankens noch für die begeisterte Nachwelt geworden, wenn er auch einmal in dem Olympischen Kampf, wo Schönheit, Gewandheit und Kraft siegten, die Palme gewonnen hätte? Alzibiades ist so schön, doch wo ist sein Gedankenschatz niedergelegt? War nicht also Sokrates würdiger, schön zu sein? Ferner, wenn die Natur mit dem Genie im Bunde ist, wie kann sie es zulassen, daß Michelangelo Buonarotti das Nasenbein eingeschlagen wird, und damit ein Mann voll des tiefsten Schönheitsgefühls für immer eines persönlichen Glücksgefühls, das immer aus eigener persönlicher Schönheit entspringt, und vor allem für immer des Liebesglücks beraubt wurde. Wenn ich früher sagte, er hätte wohl kein Empfinden für Liebe gehabt, so irrte ich mich, man denke nur an jene alte Gräfin, für die er, selbst als Greis, noch so zartes Liebesgefühl hegte. War ein Mensch überhaupt unglücklicher als er?
 
Dann der große Abklatscher Raffael, dieser Mensch, der sich ein eigenes Hurenhaus hielt, der also keineswegs die künstlerische und sittliche Tüchtigkeit des echten Genies hatte, war er nicht ein selten glücklicher Mensch? Wie gesagt, das Genie muß leiden lernen, um durch sein Leid und seine Einsamkeit geadelt, wieder für die kleinen, glücklichen segenbringend zu wirken. Die Natur ist die Feindin, nie der Freund des Genies.
 
13. VIII. 06
Ich kann es nicht sagen, wie ich die Schönheit liebe. Man bebt oft und erschauert unter ihr. Und manche Stunden weint man wieder. Ich weine dann oft, wo ich eben noch lachte. Plötzlich steigt in mir aber die Qual hoch, ich schluchze auf und bezwinge mich wieder. Das Leben ist hier so fürchterlich schaal. Und ich bin so einsam und allein, da sich auch Fischer wieder von mir zurückgezogen hat. So geht es mir oft, daß sich Menschen, die ich sehr liebe, die sich auch durch meine Gespräche und Gedanken angezogen fühlten, bald wieder von mir wenden, abgestoßen durch irgend eine Schlechtigkeit von mir. Ein tiefes Gefühl für alle Schönheit haben und dabei doch schlecht sein, erdrückt durch die ewige unerfüllte Sehnsucht, daß sich endlich einmal alle Schönheit in mir und um mich vereinigte, und auch durch das Gefühl vollständigster Unzulänglichkeit meines Charakters, welch ein Los der Verzweiflung.
 
Ich lebe immer wieder nur noch des Ruhms und der Unsterblichkeit wegen. Wüßte ich, daß ich durch meinen frühen Tod den Ruhm gewinnen würde, ich führe noch heut nach Arendsee, um Stenzi nocheinmal zu sehen und dann den Totenkranz und die Stirne am Abend auf das Meer zu fahren und mit der sinkenden Sonne auch zu scheiden von aller Schönheit.
 
Doch weiß man ja nicht, ob ich nicht ganz vergessen würde. Das wünsche ich nicht, das wäre mir das Furchtbarste.
 
Mich dünkt oft, daß mein Leben ein Opfer ist für einen unbekannten Gott.
 
25. VIII. 1906.
Alle Tage ist das Leid dasselbe. Daß ich manche Male noch in plötzlichem Lustrausch mich zu betäuben suche, mag für des Lebens Erhaltung gut sein. (. . .) Mir gelingen jetzt ganz schöne Gedichte. Eigentlich wunderbar. Wo ich seelisch wieder einmal vollständig runter bin, schaffe ich Lieder, die viel Freude atmen. Als wünschte ich, auch einmal so froh zu sein. Und ich habe auch jetzt einen wunderschönen Schmuck in meinem Zimmer, einen Totenkopf nämlich, den ich von dem alten Kirchhof an der schönen Klosterkirche, wo man jetzt baut, geholt habe. Er ist sicher schon uralt. Ob er noch von Waldemars Zeit her ist; denn dabei war ein Stein mit der Jahrzahl 1319. Ich bekränze ihn mit Weinlaub und hab ihn sehr lieb.
 
26.8.1906
Der Gedanke nur kurz, der mir heut kam. Früher machte ich meine Gedichte aus unklaren inneren Stimmungen, die sich mir zu den Gedichten verklärten. Sie waren alle längere Zeit in mir, ich fühlte sie in mir, ehe ich sie gestalten konnte. Mir fällt heut auf, daß ich 2 Gedichte, die ich heut machte, auch das gestrige, nur aus einem plötzlichen, zufälligen Erscheinen ihres Gegenstands, ihres Inhalts vor meinen Augen geschaffen habe. Gestern sah ich einen voll mit Früchten beladenen Zweig, heute hörte ich plötzlich den Regen auf den Bäumen, dann sah ich den Weinstock aus der Erde dringen. Es entstanden wie von selbst mir davon 3 Gedichte. Früher war es aber schöner, wenn ich mit mir ringen mußte. Fast ist es so, als sollte ich noch verschenken, was ich irgend besitze, damit mein Tod mich nicht unvorbereitet trifft. Ich glaube, ich sterbe bald.
 
14.9.06.
Ich lese jetzt Novalis' Ofterdingen. Der kranke Hardenberg schreibt dieses herrliche Buch des Evangeliums der Dichterkraft. Ich möcht in nächster Zeit einmal von ihm eine Lebensbeschreibung lesen, ebenso von Arnim, Brentano, die mir wohl nächst Hölderlin Vorbilder sein werden. Jetzt geht das Jahr zu Ende. Es heißt nun, hast du etwas geerntet? An Bildung wohl, der Überblick ist größer geworden, noch erübrigt das Vertiefen. Eigentlich eingelesen habe ich mich erst in Hölderlin, ob gleich noch Hyperion, Empedokles und die Briefe ausstehen. Aber mit seinem Leben und seinem Geist bin ich innig vertraut. Immermehr festigt sich auch in mir der Glaube an Helios, an das Licht, die Sonne, das ganze heilige Weltall. Oft breite ich nachts den Sternen oder Mittags und des stillen Abends der Sonne meine Arme entgegen und freue mich. So werden wir reifen, blühen, uns verschenken und lächelnd scheiden, dies ist unser Glaube. (. . .)
 
Berlin den 2 X 06
Ich kann 3mal Egoist sein, ich muß es sein, weil sonst kaum ein Durchkommen ist. Ich bin auch sicherlich dazu berechtigt, denn die Welt in mir ist 100mal mehr wert, als alle anderen. Sie schaffen ja doch nichts. Aber ich muß schaffen und muß durch.
 
Ruppin 16. X 1906
Ich bin mit meinen Schmerzen aus dem Nest in den Wald gelaufen und hoffte bei meinen Freunden Trost zu finden. Ich warf mich gegen einen Baum und weinte. Aber hinterher schien es mir, als wenn ich mir alles nur vorlüge, daß ich schon ganz überhaupt den Schmerz selbst verloren habe.
 
Doch dann las ich wieder im Hölderlin und staunte ob der Pracht des Sonnenunterganges und betete wieder zu Helios um Schönheit. Ich will ja gern frühe sterben, aber ich will doch einmal nur den Glücksbecher leeren. (. . .)
 
18.10. 1906
Also aus allen diesen Gründen will ich nun mich systhematisch mit dem Selbstmordgedanken vertraut machen, damit ich, kommt es soweit, gerüstet bin, wünschelos hinabzugeben. Was kann mir das Leben noch alles bieten, sicher den Ruhm, vielleicht auch die Schönheit und die Liebe. Ist es aber nicht größer, auf alles dies zu verzichten? Und dennoch lieb ich das Leben so. Wie schön wäre es, als Student alle Poesie des Burschentums auszukosten.
 
O wie gern würde ich auch einmal das schöne Italien sehen oder gar am Fuß des Parthenon stehen, oder in Sevilla sein. Ich gehöre nach dem Süden, der Norden ist so farben- und lebens- und erinnerungsarm. Hier in diesen öden Ebenen können keine großen und schönen Menschen leben. Hier ist alles klein und zäh und langlebig. Und die Großen werden hier verlacht. Der Prophet gilt ja auch nichts in seinem Vaterlande, besonders aber nicht in diesem Krämer- und Bauernland. Allein schön sind hier die hohen Bäume und die prachtvollen Sonnenuntergänge. Heute wird wieder Heliosfest gefeiert, ich ganz allein mit ihm.
 
Ich wollte noch etwas mir wichtiges schreiben, aber je mehr ich sinne, um so tiefer kriecht es in's Gehirn zurück. Also, wie gesagt, ich will mich inniger mit dem Selbstmordgedanken vertraut machen.
 
Darf ich meinen Eltern das antun? Ich weiß, sie werden sehr leiden. Aber warum halfen sie mir nicht, warum nahmen sie mich nicht aus dieser Hölle fort, da ich doch sie oft gebeten habe. Darf ich es dem Leben antun, das heißt, meinen Mitmenschen, da ich sicher einmal in die Höhe kommen würde und groß würde? Ja, denn das Leben ist mir bis auf den Tod feindlich, so auch die meisten Mitmenschen. Und dann, den Ruhm, das höchste, erreiche ich vielleicht durch meinen Tod.
 
Jedenfalls soll der Tod ein wundervolles Fest werden, meinen Totenkranz in den Haaren möchte ich auf das abendliche Meer fahren. Es müßte dann gerade ein schöner Herbsttag sein.
 
31.10. 1906
19 Jahre. Man möchte beinah ausrufen: 19 Jahre und noch nichts für die Unsterblichkeit getan, oder besser und noch nicht unsterblich. In mir wechseln Begeisterung und Widerwillen, Glauben an mich und Verzweiflung an mir. Und doch, wenn es mir jetzt schon gelänge mit dem Arnold da Breszia unsterblich zu werden. 1 Jahr seit Beginn des Werks, Plan ziemlich vollendet, aber es scheint mir noch soviel an Binde- und Zwischenszenen zu fehlen, die dem Breszia das Relief geben.
 
Ich habe auch einen neuen Heiligen neben Hölderlin, den herrlichen Grabbe.
 
„Adler im Haupt, die Füße im Kote“
 
 
16. 11. 1906
In der Natur ist jetzt etwas entsetzlich Trauriges. Jetzt tritt es vorzüglich hervor, aber auch in den schönen Herbsttagen oder in den warmen Maiabenden lebt es. Ich saß oben auf dem Weinberg, wieder einmal allein mit der Natur. Ich sah die Wolken über den grauen See ziehen, mein Haupt lehnte an dem hohen Baum und ich hörte jene Melodie aus ihm, die sich durch die ganze Gegend hinzuziehen scheint. Immer den gleichen lauten und doch traurigen Ton. Ein Schwarm von Vögeln flog ruhelos um des Baumes Krone und entschwand dann mit den Wolken. Und dann, als ich in das Nest heimgekehrt war, sah ich's wieder auf dem dunkelnden Kirchplatz. Alle die Häuser, die ihn umringen, schienen mich aus ihren schlichten Fenstern anzusehen. Mir war's so, plötzlich merkte ich's. Ich meine auch, daß jede bestimmte Gegend eine Art Seele hat. Aber alle sind traurig.
 
Wir sind von einer Kette von Rätseln umgeben, es ist, als wenn die ältesten Griechen mit ihrer erbarmungslosen Göttervorstellung Recht gehabt haben. „Ihr wandelt droben im Licht auf sanftem Boden.“ O und nichts kann uns über unser geheimnisvolles fürchterliches Los hinwegtäuschen, als die Liebe, die ewige erlösende allbezwingende Liebe.
 
Das ist mein Glaube, über uns waltet jene Macht, die uns zu jeder Stunde zerstören kann, aber wir können sie vergessen, sie lächelt auch wohl, wenn wir Arm in Arm mit der Geliebten sind. Das größte Gedicht, das je entstand ist das herrliche:
 
Und hätte der Liebe nicht, 
So wäre ich tönend Erz und eine klingende Schelle.
 
Und danach: έρως άνιχατε μαχαν
Ich suche jetzt mit Gewalt schön zu werden, es ist eigentlich rührend, wie ich mich abmühe, die Liebe zu finden. Vielleicht gelingt's, hoffen tue ich ja nicht mehr.
 
13.1.1907
Meine Gedanken gehen immer im Kreise. Ich will nicht an mein Unglück denken, plötzlich bin ich wieder unwillkürlich da. Ich bin hier wohl der allerunglücklichste Mensch.
 
Man ist glücklich gewesen, das Schicksal zertrümmert das Glück, man wird unglücklich: gut, man war's und hat die Erinnerung.
 
Man ist unglücklich, das Schicksal zeigt einem das Glück in verlockender Nähe, man fühlt sich schon halb in seinem Besitz, man will endlich einmal aufatmen, da man stürzt und ist unglücklicher wie zuvor. Das Allerfurchtbarste ist: Ein Herz haben, glücklich und froh zu sein, wie kaum jemand, und dann so im Unglück zu sein, das verlockendste Glück aber immer in naher Zukunft vor einem, das man aber nie erreichen kann.
 
Ein Mann sitzt schon das zehnte Jahr im Zuchthaus, die Stunde seiner Befreiung kommt näher, endlich ist sie da: morgen soll er hinaus. Ermißt man, was das heißt? Der Gefangenenwärter, der ihm, meint er, den Kerker aufschließen soll, tritt zu dem vor Freude Bebenden und sagt ihm: „Das Gericht hat noch auf eine Zusatzstrafe von einem halben Jahr erkannt, legen sie nur ihre Sträflingskleidung wieder an.“ Da wird der 10 Jahre Gemarterte zusammenbrechen, dieses halbe Jahr wird er nicht mehr ertragen. Seine Gedanken waren schon so froh, daß ihm dieser Sturz schwerer ist, als die ganzen 10 Jahre. Er wird's nicht ertragen, ist er jähzornig, erschlägt er den verruchten Wärter, ist er's nicht, tötet er sich allein.
 
Mir geht's so. Vielleicht trägt der letzte Rest meiner Hoffnung auf das nahe ungeheure Glück mich noch die 2 Monate. Aber wehe mir, wenn ich auch dann nicht frei sein sollte.
 
20.1. 1907
Es nimmt sich dumm aus, wenn ich's schreibe, schadet aber nichts, es ist zu gewaltig, ich lese es eben zum dritten Mal. Wo ist ein Drama in der Weltgeschichte, das einen so mitrisse und mit Wut und Ekel gegen die Dummheit erfüllte, als diese Szene, wo Napoleon zusammenbricht.
 
11.4. 1907
Mir ist alles gleich. Sie haben mir heimlich meinen schönen Totenkopf genommen und zerschlagen. Diese ekelhafte gemeine und pöbelhafte Dummheit. Sie verstehen es nicht, wozu ich ihn brauche, und da sie wohl wissen, wo ich verwundbar bin, so kränken sie mich da.
 
Mir war es ein wundervolles Gefühl, aufzupassen, wie langsam der Jähzorn und die Wut in mir hochkrochen, plötzlich schrie ich dann los und kostete alle Wonnen der Wut.
 
14.4. 1907
Ich sah gestern wunderbare Wolkenbildungen. Im Osten war eine große Wolkenbank, wie ein Hochgebirge mit Felswänden und Schluchten von der untergehenden Sonne beglänzt.
 
Dies ist das letzte Mal, daß ich hier in meinem ersten Tagebuch Aufzeichnungen mache.
 
Meine Jugend ist wohl vorbei
 
quant' é bella giovanezza . . .
 
Jugendzeit und Schulzeit sind vorbei. Die Hochschule beginnt.
 
Ich habe gesehen, daß ich viel Phantasie und auch Leidenschaft habe.
 
Ich habe viel mehr traurige, als schöne Tage gesehen.
 
Und alles kann noch gut werden, wenn ich mich durchkämpfe und Goldelse erringe. Dies ist aber unmöglich.
 
Denn einmal bin ich sehr sinnlich, und dann ist es ja überhaupt undenkbar.
 
Ob ich weiter an mir und für mich arbeiten werde, weiß ich im Augenblick auch nicht. Denn in allen diesen Tagen habe ich keine Stimmung mehr gehabt, nicht mehr dieses eigentümliche Zwangsgefühl: du mußt jetzt etwas schreiben.
 
Demnach sind die Ausspizien nicht günstig.
 
Nur werde ich nie die Liebe zu der ewigen Schönheit verlieren.






   lifedays-seite - moment in time