Zweites
Tagebuch
Würzburg
30. Mai, 1907
Auch
ich kann sagen: Gäb' es nur Krieg, gesund wär' ich.
Ein Tag ist wie der andere. Keine großen Freuden, keine großen
Schmerzen.
Kleine
Liebeleien ab und zu. Es ist alles so langweilig.
Dabei habe ich wenigstens noch Humor, wenigstens im Verkehr mit
anderen. Wenn
ich allein bin, ist er aber fortgeblasen. Ich gebe mich leider keinen
Illusionen mehr hin.
Das
Corpsleben ist furchtbar, geisttötend, stumpfsinnig,
lächerlich.
Wo
ich doch niemals ein stumpfsinniger Jurist werden
will, warum schinde ich mich noch?
Aber
ganz verborgen immer diese Hoffnung auf ein
unerhörtes Glück. D. h. Allmählich wird's langweilig.
April
und Mai und Junius sind ferne
Ich
bin nichts mehr
Ich
lebe nicht mehr gerne.
Ich
habe eben wieder mein Tagebuch durchlesen. Alle Tage
fast das gleiche. Nur ab und zu mal eine kurze Freude, sonst alles grau
in
grau.
6.
Juni 07
Das
Beste ist, nie geboren werden, und danach, jung
sterben. (. . .) Die Götter sind zu lange schon tot. Ich allein bin
nicht im
stande, sie wieder zu erwecken.
19.
7.
1907
Doch
jenen ist der Fehl, daß sie nicht wissen, wohin, in
die unerfahrene Seele gegeben. Wenn ich auch aus anderem Holz wie
Hölderlin
bin, wenn mir auch das Reine fehlt, darin gleiche ich ihm, daß auch ich
nicht
weiß, wohin ich mich betten soll.
4.
IX.
1907
C.
Davidsohn sagte mir: „was du da schreibst, ist gut.
Nur weiß ich nicht, wie du dazu kommst. Du bist so bullig, daß man es
dir nicht
recht glaubt.“ Wahr. Ich glaube, das ist das Urteil aller. Man verlangt
heut
von einem Dichter, daß er der Welt keine Rätsel zu lösen gibt. Man muß
nicht
nur in seiner Dichtung, sondern auch sonst den Poeten zeigen können.
Daß ich
viel gelitten habe, glaubt außer Ernst, der ja meist Zeuge war, wohl
eben
niemand.
22.10.1907
Ich
kann es nicht lernen, mich mit Anstand zu langweilen.
Die
Liebesszene, die ich notgedrungen
machen mußte, ist fertig. „Das wird ein schöner Blödsinn werden“, sagte
ich
mir, als ich sie begann. Sehr pathetisch ist sie ja immer noch, aber
immerhin
erträglicher, als ich geglaubt habe. Szenen ohne Handlung kann ich
nicht gut
machen.
20.12.1907
Welch
eine Beobachtung: Große Künstler schaffen die
Dichtung, die sie nicht zu erleben vermögen. Beleg Grabbe. (. . .)
8.I.08
Liebespaar
auf einem Friedhof! Goldbraun ist Zweifels
ohne die schönste Farbe. Lebenslust von heiterer Melancholie eingefaßt.
Die
Farbe des Tigersteins.
3.II.1908
Wir
machten eine Schlittenfahrt. In der Dämmerung zog
eine große Wolke, gestaltet wie ein breitnackiges zu Boden schauendes
Stierhaupt,
dicht unter einem einsamen hellen Stern langsam dahin.
Ich
dachte auch
daran, wie schön diese Fahrt wäre in Gesellschaft eines lieben
Mädchens. In
einem zweiten Schlitten vielleicht Ernst Balcke oder Werner Glimm mit
ihren
Mädchen. So durch den Winterabend zu fahren.
5.II.1908
Die
Liebe ist allumfassend. Sie kann aus der Seele etwas
sehr schönes, etwas ganz häßliches machen.
Ein
Leben ohne Liebe, ein Brunnen ohne Wasser, eine Sonne
ohne Schein, eine Flöte ohne Klang.
Wir
gingen am Abend an einem Wald hin und riefen in den
dunkelen hinein, das Echo rief zurück, so natürlich, daß ich meinte,
ein Heer
von Dämonen lauerte hinter den dunkelen Stämmen.
15.3.1908
Wohl,
ich kenne mein Geschick. Irrsinnig zu werden wie
Hölderlin. Doch anders, nach einem Leben ohne Liebe.
Als
sicheres Ende dieser Tage des Leids. Denn ich wüßte,
mich heilte die Liebe wohl. Sicher ging ich hinaus.
Und
wie lächerlich, wenn das nicht eintrifft. Wenn ich
Amtsrichter oder dergleichen würde und mit 60 Jahren vielleicht endlich
stürbe.
28.3.1908
Ich
las den Anfang von Kaiser Karls Geisel und schnell
als Medizin des hart verletzten Kunstgefühls den: Abenteurer und die
Sängerin.
17.4.1908
Hundert
Jahre später möchte ich geboren sein. Dann werden
wir den Weltenraum innehaben und mehr denn die Götter sein.
6.V
1908
Seid
verflucht, άγαυοί
Einen
Tag möchte ich erleben, oder besser, ihrer eine
Reihe, wo ich nicht immer hin und her geworfen würde, wie ein Spielball
einer
unbekannten Macht. Einmal Frieden, aber immer Sturm und gräßliche
Leidenschaft.
21.V.1908
Ich
will mich jetzt entschließen, Offizier zu werden.
Glaube ich schon, daß ich der ungeeignetste bin, der sich denken läßt.
Sei's
denn.
Nur
eine Furcht,: daß dieses neue äußere Leben
mich ganz ergreifen kann.
Ja,
fände ich ein Mädchen, daß mit mir in den Tod ginge,
ich bedächte mich nicht mehr. Ein Sonnenuntergang beschlösse zweier
Menschen
Tage. Ich kann nicht allein sterben. Will's auch nicht. Es wäre zu
alltäglich
und nichts wert.
5.6.1908
Wir
sahen auf dem Friedhof, wo wir vor dem Gewitter
Schutz suchten, aufgebahrt in der Halle einen Toten. Der erste, den ich
je sah.
Und ich ertrug seinen Anblick nicht. (.
. . )
13.8.1908
Ich
verbringe meine Tage ganz allein. Meine Freunde sind
fort. Und Einsamkeit ist mir so fürchterlich. Dazu die bittere Liebe,
die
wahrhaftig mich nicht glücklich macht.
Jeden
Tag denke ich an den Tod, und daß
ich Ihr erscheinen möchte, wenn den Toten solches verstattet ist. Wenn
Sie mich
liebt, wird Sie mich nicht verstoßen. Den Brief an Sie, der Ihr den Tod
melden
soll, habe ich schon im Geiste geschrieben: Er wird schließen
brevi
enim
moriar.
Aber
ich will Sie noch wiedersehen.
20.9.1908
Phantasie
zu haben, ist leicht. Wie schwer aber, ihre
Bilder zu gestalten.
Ist
es recht, Hedi zu lieben? Und den Gedanken der Heirat
zu bedenken, wo ich arm bin?
27.9.1908
500
vor Christus zu Athen geboren sein und 400 gestorben.
Welches Leben.
13.12.1908
Ein
nebliger Wintertag. Ich ging durch unbebaute Straßen,
Feld, kahle Bäume. Alles seltsam groß und fern.
Ich
dachte an Hedi. Wie es werden soll. Ob ich meine
Verbindung mit ihr löse. Denn ich weiß ja nicht, ob ich sie heiraten
kann.
Ich
dachte daran, wie ich vor Jahren manchmal glücklich
war. Ich dachte an das Wort: „Mit einer Stimme, die taumelte, und sich
überschlug vor Glück.“ Wie ich einmal vor Glück nicht schlafen konnte.
Und
nun ist ein Tag ärmer, denn der andere.
Ich
dachte, daß ich keinen Freund, keine Bücher habe.
Kein Geld für alles, was ich für meinen Geist brauche.
Ich
dachte, daß ich untergehen werde, bald untergehen
werde. Daß ich niemand habe, der mir meine Wege weist.
Zuletzt
wieder an Hedy, wie es werden soll.
So
ging ich immer tiefer in die weiße Wand hinein, bis
ich nichts mehr um mich sah, als den Nebel, das dicke graue
Leichentuch.
Ich
habe in den letzten Wochen oft
gedacht, ich würde mit diesem billigen Skeptizismus durchkommen. Aber
es geht
nicht.
Du
gibst dich als Optimisten.
29.1.1909
Georg
Büchner erhalten und einen neuen Gott zu Grabbe auf
den Altar gestellt.
Immanuel
Jeibel, poeta. Dir müßte man noch den Schädel
zertreten. (. . .)
19.6.1909
Ich
habe Fragmente fast lieber als Dramen. Einmal aus
eigenem Fehler. Dann aber auch, weil ich sie mehr als das erste Zeichen
des
Genius ehre.
6.7.1909
Man
kann einen Dichter manchmal aus einem einzigen
Gedicht mehr lieben lernen, als aus einem ganzen Werk. Man weiß nichts
mehr von
ihm, als dieses eine Gedicht. Aber, weil man nichts mehr kennt,
verliest man
sich ganz in dies eine und entdeckt so Schönheiten, die das Lesen eines
Werkes
nie hätte emporgeschürft. Man rezitiert es sich oft, man weiß es bald
auswendig, es gehört bald ganz zu einem, man kann es nie mehr
vergessen.
20.7.09.
Ich
liebe alle, die in sich ein zerrissenes Herz haben,
ich liebe Kleist, Grabbe, Hölderlin, Büchner, ich liebe Rimbaud und
Marlowe.
Ich liebe alle, die nicht von der großen Menge angebetet werden. Ich
liebe
alle, die oft so an sich verzweifeln, wie ich fast täglich an mir
verzweifle.
Ich
weiß nicht, was in mir für eine Krankheit sitzt. Wo
ist das Heilmittel, das alle Krankheiten heilt. Wo ist das Wunderkraut.
Ich
würde mich heilen, wenn ich mich erst erkannt hätte. Das Furchtbarste
ist die
Unlust, die Verzweiflung, ehe man noch begonnen hat.
Ein
Heilmittel wüßte ich wohl, aber das Kraut kann ich
nicht pflücken. Das wäre der Ruhm, das wäre der Beifall einer
tausendköpfigen
Menge, das wäre weiter eine Verschwörung, eine
große Revolution, ein hellenischer Krieg, irgendetwas,
eine Durchquerung Afrikas, irgendetwas nicht alltägliches, Ja, ich
werde von
alledem nichts sehen.
3.9.09
Auf
der öden Wasserscheide zwischen der Krankheit und der
erhofften Genesung.
Ich
komme von dem Leben Byrons und bin gezwungen in das
staubige Mauseloch des »öffentlichen Glaubens des Grundbuchs« zu
kriechen. Wer
versteht diesen Wechsel, ohne sich dabei zu schaden.
16.9.1909
Byron,
Kleist, (ich war wieder einmal vorgestern an
seinem Grab) Grabbe, daneben Marlowe u. Büchner, Renner, wer will mir
nun noch
etwas anhaben in dieser olympischen Gesellschaft. In einem sicher bin
ich ihnen
verwandt, in der Kraft der Leidenschaft.
29.9.09
Wäre
es nun nicht völlig gleich gewesen, ob ich überhaupt
nicht gelebt hätte, oder ob ich dies inhaltlose Dasein mit mir
herumgeschleppt
hätte.
Ich
weiß auch gewiß nicht, warum ich noch lebe; ich
meine, keine Zeit war bis auf den Tag so inhaltlos wie diese.
Würden
wir doch mehr bedrückt, dann würden wir auch eher
die Last abwerfen.
Hätten wir doch
einen Metternich an der Spitze,
Ich lebe noch,
gewiß nicht aus Schwäche, – ich habe meine Schwäche eliminiert durch
Gewöhnung
und Selbstzucht, durch Mensuren und Händel –
weiter auch
gewiß nicht aus Gier nach Leben,
ich lebe noch
aus einem dunklen Wunsche heraus, daß es vielleicht einmal besser wird,
vielleicht, aber wie lange muß ich noch warten? (. . .)
8.X.
1909
Wäre
ich nach Heidelberg gegangen, ich wäre ein
vernünftiger Mensch geworden, ich hätte wahrscheinlich keine Gedichte
mehr
gemacht, jedenfalls keine Traurigen, ich wäre auch vielleicht ein guter
Staatsbürger und brauchbarer Mensch geworden. Jetzt muß ich durch
irgendwelche
außergewöhnliche Ziele das alles ersetzen.
Ich
machte eben das Gedicht: „Herbstnachmittag bei Klein
Machnow.“ und beginne nun: das Beschwerdeverfahren im allgemeinen.
27.12.
1909
Leonardo – Mereschkowskiy –
Dove – Ognibene – Caracosa
Es
ist also nicht möglich, glücklich zu sein. Es ist, um
einen dummen Vergleich zu gebrauchen, mit den Sekunden des Glücks so,
wie mit
den Fettaugen auf einer schalen Brühe. Es ist also nicht möglich,
glücklich zu
sein. Und vielleicht waren die Menschen nie glücklich. Vielleicht war
nie ein
Mensch glücklich. Nichts steht dem Menschen mehr an, als Leid und
Weinen. Und
dazwischen die Langeweile, Langeweile. Sie kann auch keine Arbeit
wegtilgen.
Wer will behaupten, daß Alzibiades glücklich war.
Zudem
bin ich wieder verliebt. Leider Gottes. Trotzdem
die Sache auch hier genau wieder so sinnlos – zwecklos ist, wie stets
bis
jetzt.
Leiden,
leiden, leiden
Leiden
allüberall.
Schluß
mit Tagebuch Nr. 2.
Wo
geht der Weg nun hin?
Ende
Dezember 1909
Könnte
man den Dämon, der sich die Welt aus den Fingern
rollen ließ, einfangen, man müßte ihn in Ketten legen und auspeitschen,
damit
er nicht noch ein anderes Mal im Kosmos ein solches Unheil stifte.
2.
Januar
1910. Das Volk ist im allgemeinen noch viel dümmer, als man
glaubt. Ich sehe das an den Büchern der Volksbibliothek. Die guten
Bücher,
die ich lese, tragen in 3 Jahren kaum ebensoviele Stempel. Ein Buch von
Kipling, ein wahrhaft jämmerliches Buch ist von unten bis oben
bestempelt.