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Literatur

"Verzweiflung", Ludwig Meidner (Ausschnitt), 1914, "Ludwig Meidner Archiv, Jüdisches Museum der Stadt Frankfurt a. M.
      
04.3


Aus den Tagebüchern
 Georg Heym

Zweites Tagebuch



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Zweites Tagebuch


Würzburg 30. Mai, 1907

Auch ich kann sagen: Gäb' es nur Krieg, gesund wär' ich. Ein Tag ist wie der andere. Keine großen Freuden, keine großen Schmerzen.
 
Kleine Liebeleien ab und zu. Es ist alles so langweilig. Dabei habe ich wenigstens noch Humor, wenigstens im Verkehr mit anderen. Wenn ich allein bin, ist er aber fortgeblasen. Ich gebe mich leider keinen Illusionen mehr hin.
 
Das Corpsleben ist furchtbar, geisttötend, stumpfsinnig, lächerlich.
 
Wo ich doch niemals ein stumpfsinniger Jurist werden will, warum schinde ich mich noch?
 
Aber ganz verborgen immer diese Hoffnung auf ein unerhörtes Glück. D. h. Allmählich wird's langweilig.
 
April und Mai und Junius sind ferne 
Ich bin nichts mehr 
Ich lebe nicht mehr gerne.
 
Ich habe eben wieder mein Tagebuch durchlesen. Alle Tage fast das gleiche. Nur ab und zu mal eine kurze Freude, sonst alles grau in grau.

 
6. Juni 07
Das Beste ist, nie geboren werden, und danach, jung sterben. (. . .) Die Götter sind zu lange schon tot. Ich allein bin nicht im stande, sie wieder zu erwecken.

 
19. 7. 1907
Doch jenen ist der Fehl, daß sie nicht wissen, wohin, in die unerfahrene Seele gegeben. Wenn ich auch aus anderem Holz wie Hölderlin bin, wenn mir auch das Reine fehlt, darin gleiche ich ihm, daß auch ich nicht weiß, wohin ich mich betten soll.

 
4. IX. 1907
C. Davidsohn sagte mir: „was du da schreibst, ist gut. Nur weiß ich nicht, wie du dazu kommst. Du bist so bullig, daß man es dir nicht recht glaubt.“ Wahr. Ich glaube, das ist das Urteil aller. Man verlangt heut von einem Dichter, daß er der Welt keine Rätsel zu lösen gibt. Man muß nicht nur in seiner Dichtung, sondern auch sonst den Poeten zeigen können. Daß ich viel gelitten habe, glaubt außer Ernst, der ja meist Zeuge war, wohl eben niemand.

 
22.10.1907
Ich kann es nicht lernen, mich mit Anstand zu langweilen.
 
Die Liebesszene, die ich notgedrungen machen mußte, ist fertig. „Das wird ein schöner Blödsinn werden“, sagte ich mir, als ich sie begann. Sehr pathetisch ist sie ja immer noch, aber immerhin erträglicher, als ich geglaubt habe. Szenen ohne Handlung kann ich nicht gut machen.

 
20.12.1907
Welch eine Beobachtung: Große Künstler schaffen die Dichtung, die sie nicht zu erleben vermögen. Beleg Grabbe. (. . .)

 
8.I.08
Liebespaar auf einem Friedhof! Goldbraun ist Zweifels ohne die schönste Farbe. Lebenslust von heiterer Melancholie eingefaßt.
Die Farbe des Tigersteins.
 
 
3.II.1908
Wir machten eine Schlittenfahrt. In der Dämmerung zog eine große Wolke, gestaltet wie ein breitnackiges zu Boden schauendes Stierhaupt, dicht unter einem einsamen hellen Stern langsam dahin.
 
Ich dachte auch daran, wie schön diese Fahrt wäre in Gesellschaft eines lieben Mädchens. In einem zweiten Schlitten vielleicht Ernst Balcke oder Werner Glimm mit ihren Mädchen. So durch den Winterabend zu fahren. 
 
5.II.1908
Die Liebe ist allumfassend. Sie kann aus der Seele etwas sehr schönes, etwas ganz häßliches machen.
 
Ein Leben ohne Liebe, ein Brunnen ohne Wasser, eine Sonne ohne Schein, eine Flöte ohne Klang.
 
Wir gingen am Abend an einem Wald hin und riefen in den dunkelen hinein, das Echo rief zurück, so natürlich, daß ich meinte, ein Heer von Dämonen lauerte hinter den dunkelen Stämmen.
 
15.3.1908
Wohl, ich kenne mein Geschick. Irrsinnig zu werden wie Hölderlin. Doch anders, nach einem Leben ohne Liebe. 
 
Als sicheres Ende dieser Tage des Leids. Denn ich wüßte, mich heilte die Liebe wohl. Sicher ging ich hinaus.
 
Und wie lächerlich, wenn das nicht eintrifft. Wenn ich Amtsrichter oder dergleichen würde und mit 60 Jahren vielleicht endlich stürbe.

 
28.3.1908
Ich las den Anfang von Kaiser Karls Geisel und schnell als Medizin des hart verletzten Kunstgefühls den: Abenteurer und die Sängerin.

 
17.4.1908
Hundert Jahre später möchte ich geboren sein. Dann werden wir den Weltenraum innehaben und mehr denn die Götter sein.

 
6.V 1908
Seid verflucht, άγαυοί

Einen Tag möchte ich erleben, oder besser, ihrer eine Reihe, wo ich nicht immer hin und her geworfen würde, wie ein Spielball einer unbekannten Macht. Einmal Frieden, aber immer Sturm und gräßliche Leidenschaft.

 
21.V.1908
Ich will mich jetzt entschließen, Offizier zu werden. Glaube ich schon, daß ich der ungeeignetste bin, der sich denken läßt. Sei's denn.

Nur eine Furcht,: daß dieses neue äußere Leben mich ganz ergreifen kann.

Ja, fände ich ein Mädchen, daß mit mir in den Tod ginge, ich bedächte mich nicht mehr. Ein Sonnenuntergang beschlösse zweier Menschen Tage. Ich kann nicht allein sterben. Will's auch nicht. Es wäre zu alltäglich und nichts wert.

 
5.6.1908
Wir sahen auf dem Friedhof, wo wir vor dem Gewitter Schutz suchten, aufgebahrt in der Halle einen Toten. Der erste, den ich je sah. Und ich ertrug seinen Anblick nicht. (. . . )

 
13.8.1908
Ich verbringe meine Tage ganz allein. Meine Freunde sind fort. Und Einsamkeit ist mir so fürchterlich. Dazu die bittere Liebe, die wahrhaftig mich nicht glücklich macht.

Jeden Tag denke ich an den Tod, und daß ich Ihr erscheinen möchte, wenn den Toten solches verstattet ist. Wenn Sie mich liebt, wird Sie mich nicht verstoßen. Den Brief an Sie, der Ihr den Tod melden soll, habe ich schon im Geiste geschrieben: Er wird schließen
brevi enim moriar.
 
Aber ich will Sie noch wiedersehen.
 
20.9.1908
Phantasie zu haben, ist leicht. Wie schwer aber, ihre Bilder zu gestalten.
 
Ist es recht, Hedi zu lieben? Und den Gedanken der Heirat zu bedenken, wo ich arm bin?

27.9.1908
500 vor Christus zu Athen geboren sein und 400 gestorben. Welches Leben.
 

13.12.1908
Ein nebliger Wintertag. Ich ging durch unbebaute Straßen, Feld, kahle Bäume. Alles seltsam groß und fern.
 
Ich dachte an Hedi. Wie es werden soll. Ob ich meine Verbindung mit ihr löse. Denn ich weiß ja nicht, ob ich sie heiraten kann.
 
Ich dachte daran, wie ich vor Jahren manchmal glücklich war. Ich dachte an das Wort: „Mit einer Stimme, die taumelte, und sich überschlug vor Glück.“ Wie ich einmal vor Glück nicht schlafen konnte.
 
Und nun ist ein Tag ärmer, denn der andere.
Ich dachte, daß ich keinen Freund, keine Bücher habe. Kein Geld für alles, was ich für meinen Geist brauche.
 
Ich dachte, daß ich untergehen werde, bald untergehen werde. Daß ich niemand habe, der mir meine Wege weist.
 
Zuletzt wieder an Hedy, wie es werden soll.
 
So ging ich immer tiefer in die weiße Wand hinein, bis ich nichts mehr um mich sah, als den Nebel, das dicke graue Leichentuch.
 
Ich habe in den letzten Wochen oft gedacht, ich würde mit diesem billigen Skeptizismus durchkommen. Aber es geht nicht.
 
Du gibst dich als Optimisten.
 
29.1.1909
Georg Büchner erhalten und einen neuen Gott zu Grabbe auf den Altar gestellt.
 
Immanuel Jeibel, poeta. Dir müßte man noch den Schädel zertreten. (. . .)
 
19.6.1909
Ich habe Fragmente fast lieber als Dramen. Einmal aus eigenem Fehler. Dann aber auch, weil ich sie mehr als das erste Zeichen des Genius  ehre.
   
 
6.7.1909
Man kann einen Dichter manchmal aus einem einzigen Gedicht mehr lieben lernen, als aus einem ganzen Werk. Man weiß nichts mehr von ihm, als dieses eine Gedicht. Aber, weil man nichts mehr kennt, verliest man sich ganz in dies eine und entdeckt so Schönheiten, die das Lesen eines Werkes nie hätte emporgeschürft. Man rezitiert es sich oft, man weiß es bald auswendig, es gehört bald ganz zu einem, man kann es nie mehr vergessen.
   
20.7.09.
Ich liebe alle, die in sich ein zerrissenes Herz haben, ich liebe Kleist, Grabbe, Hölderlin, Büchner, ich liebe Rimbaud und Marlowe. Ich liebe alle, die nicht von der großen Menge angebetet werden. Ich liebe alle, die oft so an sich verzweifeln, wie ich fast täglich an mir verzweifle.
 
Ich weiß nicht, was in mir für eine Krankheit sitzt. Wo ist das Heilmittel, das alle Krankheiten heilt. Wo ist das Wunderkraut. Ich würde mich heilen, wenn ich mich erst erkannt hätte. Das Furchtbarste ist die Unlust, die Verzweiflung, ehe man noch begonnen hat.
 
Ein Heilmittel wüßte ich wohl, aber das Kraut kann ich nicht pflücken. Das wäre der Ruhm, das wäre der Beifall einer tausendköpfigen Menge, das wäre weiter eine Verschwörung, eine große Revolution, ein hellenischer Krieg, irgendetwas, eine Durchquerung Afrikas, irgendetwas nicht alltägliches, Ja, ich werde von alledem nichts sehen.
   
3.9.09
Auf der öden Wasserscheide zwischen der Krankheit und der erhofften Genesung.
 
Ich komme von dem Leben Byrons und bin gezwungen in das staubige Mauseloch des »öffentlichen Glaubens des Grundbuchs« zu kriechen. Wer versteht diesen Wechsel, ohne sich dabei zu schaden.
   
16.9.1909
Byron, Kleist, (ich war wieder einmal vorgestern an seinem Grab) Grabbe, daneben Marlowe u. Büchner, Renner, wer will mir nun noch etwas anhaben in dieser olympischen Gesellschaft. In einem sicher bin ich ihnen verwandt, in der Kraft der Leidenschaft.
 
29.9.09
Wäre es nun nicht völlig gleich gewesen, ob ich überhaupt nicht gelebt hätte, oder ob ich dies inhaltlose Dasein mit mir herumgeschleppt hätte.
 
Ich weiß auch gewiß nicht, warum ich noch lebe; ich meine, keine Zeit war bis auf den Tag so inhaltlos wie diese.
 
Würden wir doch mehr bedrückt, dann würden wir auch eher die Last abwerfen.
   Hätten wir doch einen Metternich an der Spitze,
 
   Ich lebe noch, gewiß nicht aus Schwäche, – ich habe meine Schwäche eliminiert durch Gewöhnung und Selbstzucht, durch Mensuren und Händel –
 
   weiter auch gewiß nicht aus Gier nach Leben,
   ich lebe noch aus einem dunklen Wunsche heraus, daß es vielleicht einmal besser wird, vielleicht, aber wie lange muß ich noch warten? (. . .)
 
 
8.X. 1909
Wäre ich nach Heidelberg gegangen, ich wäre ein vernünftiger Mensch geworden, ich hätte wahrscheinlich keine Gedichte mehr gemacht, jedenfalls keine Traurigen, ich wäre auch vielleicht ein guter Staatsbürger und brauchbarer Mensch geworden. Jetzt muß ich durch irgendwelche außergewöhnliche Ziele das alles ersetzen.
 
Ich machte eben das Gedicht: „Herbstnachmittag bei Klein Machnow.“ und beginne nun: das Beschwerdeverfahren im allgemeinen.
 
 
27.12. 1909
       Leonardo – Mereschkowskiy –
       Dove – Ognibene – Caracosa
 
Es ist also nicht möglich, glücklich zu sein. Es ist, um einen dummen Vergleich zu gebrauchen, mit den Sekunden des Glücks so, wie mit den Fettaugen auf einer schalen Brühe. Es ist also nicht möglich, glücklich zu sein. Und vielleicht waren die Menschen nie glücklich. Vielleicht war nie ein Mensch glücklich. Nichts steht dem Menschen mehr an, als Leid und Weinen. Und dazwischen die Langeweile, Langeweile. Sie kann auch keine Arbeit wegtilgen. Wer will behaupten, daß Alzibiades glücklich war.
 
Zudem bin ich wieder verliebt. Leider Gottes. Trotzdem die Sache auch hier genau wieder so sinnlos – zwecklos ist, wie stets bis jetzt.
 
Leiden, leiden, leiden
Leiden allüberall.
 
Schluß mit Tagebuch Nr. 2.
Wo geht der Weg nun hin?
 

 
Ende Dezember 1909
Könnte man den Dämon, der sich die Welt aus den Fingern rollen ließ, einfangen, man müßte ihn in Ketten legen und auspeitschen, damit er nicht noch ein anderes Mal im Kosmos ein solches Unheil stifte.
 
2. Januar 1910. Das Volk ist im allgemeinen noch viel dümmer, als man glaubt. Ich sehe das an den Büchern der Volksbibliothek. Die guten Bücher, die ich lese, tragen in 3 Jahren kaum ebensoviele Stempel. Ein Buch von Kipling, ein wahrhaft jämmerliches Buch ist von unten bis oben bestempelt.






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