DER
FÜNFTE OKTOBER
Am 5.
Oktober sollten die
Brotkarren aus der Provence nach Paris kommen. Der Stadtrat hatte es an
allen
Straßenecken in seinen großen roten Lettern anschlagen lassen. Und das
Volk
trieb sich den ganzen Tag vor ihnen herum wie vor den Toren einer neuen
und
ungeheuren Offenbarung. Ausgehungert bis in die Knochen träumte es da
von
Paradiesen der Sättigung, ungeheuren Weizenfladen, weißen Mehlpasteten,
die in
allen Garküchen prasseln würden.
Alle
Schlote sollen
rauchen. Man wird die Bäcker an die Laternen hängen, man wird selber
braten,
man wird seinen Arm bis über die Ellenbogen in Mehl tauchen. Das weiße
Zeug wird die
Straßen wie ein fruchtbarer Schnee überziehen, der Wind wird es vor der
Sonne
hintreiben wie eine dicke Wolke.
Auf
allen Straßen werden
große Tische aufgestellt werden, Paris wird ein großes, gemeinsames
Mahl
abhalten, einen gewaltigen Sabbat.
Die
Menschen drängten
sich vor den verschlossenen Kellern der Bäckereien und schielten herab
auf die
leeren Backtröge, die hinter den Gitterfenstern standen, sie sahen
vergnügt auf
die schwarzen Mäuler der riesigen Backöfen, die ohne Feuer standen, und
wie sie
nach Brot hungerten. An einer Straße eines Viertels am Mont Parnasse
wurde eine
Bäckerei erbrochen, mehr aus Langerweile, um sich die Zeit zu
vertreiben, als
aus der Hoffnung, in den Kästen noch Brot zu finden.
Drei
Mann, Kohlenträger
aus St. Antoine, brachten den Bäcker heraus. Sie warfen ihm seine weiße
Perücke
hinunter und stellten ihn unter die verbogene Lampe seiner Tür.
Der eine riß seinen
Hosenbund ab, drehte eine Schlinge und warf sie dem Bäcker um den Hals.
Dann
hielt er ihm seine schwarze Faust unter das Gesicht und schrie ihn an:
„Du
verfluchter Mehlwurm,
jetzt werden wir dich aufhängen.“
Der
Bäcker fing an, zu
jammern und sah sich unter den Umstehenden nach Beistand um. Aber
er sah nur lauter grinsende Gesichter.
Der
Schuster Jacobus trat
vor und sagte zu den Vorstädtern:
,,Meine
Herren, wir
wollen das Schwein laufen lassen, aber er muß mir erst ein Gebet
nachsprechen.“
„Ja,
ein Gebet
nachsprechen“, wimmerte der Bäcker. ,,Lassen Sie mich ein Gebet
nachsprechen.“
Jacobus
fing an: ,,Ich
bin der verfluchte Saubäcker.“
Der
Bäcker sprach nach:
,,Ich bin der verfluchte Saubäcker.“
Jacobus:
,,Ich bin der
schwarze Mehljude, ich stinke auf tausend Meter.“
Der
Bäcker: „Ich bin der
schwarze Mehljude, ich stinke auf tausend Meter.“
Jacobus:
„Ich bete alle
Tage zu den vierzehn Nothelfern, daß niemand merken soll, was ich alles
in das
Brot tue.“
Der
Bäcker wiederholte
auch das.
Das
Publikum wieherte.
Eine alte Frau setzte sich auf die Treppenstufen und gackerte vor
Lachen wie
eine alte Henne beim Eierlegen.
Jacobus
konnte selber vor
Lachen nicht mehr weiter.
Eine
Weile ging dieses
komische Anathema noch fort, zuletzt wurde die erbärmliche Gestalt den
Leuten
zu langweilig. Man ließ ihn stehen mit seinem Strick um den Hals.
Es
begann stark zu regnen, die Leute traten unter
die Dächer. Der Bäcker war fort. Nur seine weiße Perücke lag noch
mitten auf
dem Platze und begann, sich im Regen aufzulösen.
Ein Hund nahm
sie in das Maul und schleppte sie fort.
Allmählich
ließ der Regen
nach, und die Menschen traten wieder auf die Straße. Der Hunger begann
sie
wieder zu beißen. Ein Kind fiel in Krämpfe, die Umstehenden sahen
zu und gaben gute
Ratschläge.
Auf
einmal hieß es: ,,Die
Brotkarren sind da! Die Brotkarren sind da!“ Die ganze Straße hinab
lief das
Geschrei. Und die ganze Straße begann, sich aus den Toren
hinauszudrängen. Sie
kamen an das Land, in die kahlen Felder, sie sahen einen verlassenen
Himmel und
die lange Reihe von Pappelbäumen der Chaussee, die hinten in dem
armseligen Horizont
der Ebenen untertauchten. Ein Stoß Raben flog über sie vor dem Winde
her, den
Städten zu.
Die
Menschenströme gössen
sich in die Felder. Manche hatten leere Säcke auf den Schultern, andere
Fleischermollen, Kessel, um das Brot fortzubringen.
Und
sie warteten auf die
Karren, den Rand des Himmels durchforschend, wie ein Volk Astronome,
das nach
einem neuen Gestirn sucht.
Sie
harrten und harrten,
aber sie sahen nichts als den Wolkenhimmel und den Sturm, der die hohen
Bäume
hinund herbog.
Von
einer Kirche schlug
es in die stummen Massen langsam die Mittagsstunde. Da begannen sie,
sich zu
besinnen, daß sie sonst um diese Zeit um volle Tische gesessen hatten,
auf
deren Mitte wie ein dicker König ein weißer Laib Brotes geprangt hatte.
Und das
Wort „Pain“ zwang sich mit seiner ganzen Weiße, seiner Fette, in das
Gehirn der
Masse, und lag darin wie ein Stein in der Sonne, riesig, groß,
knusprig, zum Anschneiden.
Sie schlössen die Augenlider, und sie fühlten den Saft des Weizens über
ihre
Hände tröpfeln. Sie fühlten die Wärme, die heilige Wolke der Backöfen,
eine
rosige Flamme, die die weißen Brotlaibe röstete und schwärzte.
Und
ihre Hände zitterten
vor Verlangen nach dem Mehl. Sie fröstelten vor Hunger, und ihre Zungen
begannen, im leeren Munde zu kauen, sie begannen, die Luft zu
schlucken, und
ihre Zähne schlugen willenlos aufeinander, als zermalmten sie die
weißen
Bissen.
Manchen
hingen ihre
Sacktücher aus dem Munde, und ihre großen Zähne kauten darauf herum,
langsam
wie Maschinen. Sie hatten ihr eingefallenes Auge geschlossen und
wiegten ihre
Köpfe über ihren Zulp im Takte einer geheimnisvollen, quälerischen
Musik.
Andere
saßen auf den
Prellsteinen an der Straße und weinten vor Hunger, während sich um ihre
Knie
große magere Hunde herumtrieben, denen die Knochen fast durch das
Fell stachen.
Eine
schreckliche
Müdigkeit befiel die regungslosen Massen, eine ungeheure Apathie fiel
lähmend
wie eine dicke Decke auf ihre weißen Gesichter.
Ach,
sie hatten keinen
Willen mehr. Der Hunger begann ihn langsam zu ersticken und sie in
einem
schreckliche Schlaf und der Marter seiner Träume zu entmannen.
Weit
um sie herum lief
die Ebene Frankreichs herab, verzäumt von gespenstigen Mühlen, die
rings um den
Horizont standen wie Türme oder riesige Gottheiten des Kornes,
die mit den Armen
ihrer großen Flügel Mehlwolken aufstäubten, als dampfe Weihrauch um
ihre großen
Häupter.
Ungeheure
Tafeln standen am Rande Frankreichs, die unter
der Last der großen Schüsseln zu schwanken begannen. Man winkte sie
her. Aber
sie waren auf große Folterbetten
gebunden,
und ihr Blut hatte das furchtbare Opium des Hungers betäubt und in
schwarze
Schlacke erstarrt. Sie wollten schreien: ,,Brot, Brot, nur einen
Bissen, Erbarmen,
Barmherzigkeit, nur einen Bissen, lieber Gott.“ Aber sie konnten ihre
Lippen
nicht aufmachen, schrecklich, sie waren
stumm. Schrecklich, sie konnten kein Glied rühren, sie waren gelähmt.
Und
die schwarzen Träume
flatterten über die Haufen, die zu Klumpen geballt beieinander standen
und
lagen wie ein Heer, verurteilt zum ewigen Tode, geschlagen mit ewiger
Stummheit, verflucht, wieder in den Bauch von Paris unterzutauchen, zu
leiden,
zu hungern, geboren zu werden und zu sterben in einem Meer der
schwarzen Finsternis,
der Fronden,
des Hungers und der Sklaverei, erdrückt von blutgierigen
Steuerpächtern,
ausgemergelt von der ewigen Auszehrung, entnervt von dem ewigen Rauch
der
Gassen und wie ein altes Pergament verwelkt von der beizenden Luft
ihrer niedrigen Höhlen,
verdammt, einst zu erstarren im Schmutze ihrer Betten und in einem
letzten Seufzer
den Priester zu verfluchen, der gekommen war im Namen seines Gottes, im
Namen
des Staates und der Autorität, ihnen zum Dank für die Geduld ihres
elenden
Lebens die letzten Groschen zu Kirchenvermächtnissen abzupressen.
Niemals
schien eine Sonne
in ihre Gräber. Was kannten sie von ihr in ihren gräßlichen Löchern?
Sie sahen
sie manchmal mittags über die Stadt hinschweben, betäubt von ihrem
Qualm, in
dicke Wolken gehüllt, eine Stunde oder zwei. Und dann verschwand sie.
Die
Schatten kamen wieder unter den Häusern hervor und krochen an ihnen
hoch,
schwarze Polypen der Gasse mit ihrer kalten Umarmung.
Wie
oft hatten sie an den
Gärten der Grenadiere auf die weiten sonnigen Wiesen geschaut. Und sie
hatten
die Tänze der Hofdamen angeglotzt, die Hirtenstöcke der goldbetreßten
Kavaliere,
die Bücklinge der Mohren, die Tabletten voll Orangen, Biskuits,
Konfekt, die
goldene Karosse, in der die Königin langsam durch den Park fuhr wie
eine
syrische Göttin, eine ungeheure Astarte, starrend von weißer Seide und
glitzernd wie eine Heilige von tausend Perlen.
Oh,
wie oft hatten sie
von dem Duft, der Würze des Moschus getrunken, wie oft waren sie
beinahe
erstickt von den Wohlgerüchen des Ambra, die aus dem Park des
Luxembourg zogen
wie aus einem geheimnisvollen Tempel. Oh, man hätte sie doch einmal
hereinlassen können, einmal auf einem solchen Samtstuhl zu sitzen,
einmal in
einem solchen Wagen zu fahren. Sie hätten mit Vergnügen die ganze
Nationalversammlung
totgeschlagen, sie hätten dem König die Füße geküßt, wenn er sie einmal
für
eine Stunde ihren Hunger und die kahlen Felder verzweifelter Ernten
hätte
vergessen machen.
Und
sie zerpreßten sich
ihre Nasen an den Eisenstäben der Gitter, sie steckten ihre Hände
hindurch,
Scharen von Bettlern, Herden von Ausgestoßenen und Wimmernden. Und ihr
schrecklicher Geruch zog in den Park wie eine Wolke düsteren
Abendrotes, das
einem schrecklichen Morgen voraufgeht. Sie hatten sich an das Gitter
gehängt
wie gräßliche Spinnen, und ihre Augen waren weit in den Park
hinausgewandert,
in seine
abendlichen Wiesen, seine Hecken, seine Lorbeergänge, seine
Marmorfiguren, die
von ihrem Postament herab ihnen ihr süßliches Lächeln zu kehrten.
Kleine
Liebesgötter, Putten, dick wie gemästete Gänse, mit Armen, die weißen
ausgestopften Würsten glichen, zielten nach ihrem aufgerissenen Mund
ihre Liebespfeile
und winkten
ihnen mit dem steinernen Köcher, während auf ihre Schultern wie ein
Klotz die
Arme der Gerichtsvollzieher fielen, die gekommen waren, sie in die
Schuldtürme
zu werfen.
Die
Schläfer stöhnten,
und die Wachenden beneideten sie um ihren Schlaf.
Sie
sahen vor sich hin,
voraus, die Straße hinab nach den Brotkarren, die ausgestorbene Straße,
die die
Schrecken der Revolution verödet hatten und die wie ein toter Darm
keine
Zufuhren mehr in den Bauch Frankreichs hineinwarf. Sie war weiß und
lief endlos
in einen tauben Himmel, der, fett wie ein Pfaffengesicht, feist wie
eine
Bischofsbacke und ohne Runzeln wie ein gemästeter Bettelmönch, seine
fahle
Stirn am Horizont zeigte. Er war friedlich wie eine Dorfmesse, er war
von
kleinen, grauen Nachmittagswolken sanft eingerahmt wie ein alter Abbe,
der nach
dem Mittagessen in seiner Sakristei, im Lehnstuhl sanft versargt,
schlummert,
während ihm die Locken seiner Perücke in die Stirn fallen.
Die
Lumpen der Menschenherden
verbreiteten einen entsetzlichen Gestank. Ihre schmutzigen Halsbinden
flatterten um ihre grauen Gesichter.
Ersticktes Weinen verflog durch das entsetzliche Schweigen. Soweit man
sah,
stachen ihre durchlöcherten
Dreispitze
in die Luft, auf denen manchmal schmutzige Straußfedern tanzten. Die
zerstreuten schwarzen Figuren der Massen glichen den erstarrten Pas
eines düsteren
Menuetts, einem Tanze des Todes, den er mit einem Male hinter sich
hatte
erstarren lassen, verwandelt in einen riesigen, schwarzen Steinhaufen,
gebannt
und erfroren von den Qualen, Säulen des Schweigens. Unzählige Lots, die
die
Flamme eines höllischen Gomorrha in ewige Starre geschmolzen hatte.
Hoch
über ihnen in dem
kalten Oktoberhimmel ging der eiserne Pflug der Zeit, der seine Felder
ackerte
mit Kummer, besäte mit Not, auf daß daraus eines Tages die Flamme der
Rache
aufginge, auf daß eines Tages die Arme dieser Tausende leicht würden,
beschwingt und fröhlich wie leichte Tauben beim Schnitterdienste der
Guillotinenmesser, auf daß eines Tages sie wie Götter der Zukunft unter
den Himmel
treten könnten,
barhäuptig, in dem ewigen Pfingsten einer unendlichen Morgenröte.
Aus
dem weißlichen Himmel
am fernen Ende der Landstraße löste sich ein schwarzer Punkt.
Die
Vordersten sahen ihn,
sie machten einander aufmerksam. Die Schläfer erwachten und sprangen
auf. Alle sahen
die Straße hinab. War dieser schwarze Punkt das Mekka ihrer Hoffnung,
war das
ihre Erlösung? Für einige Augenblicke glaubten sie alle daran, sie
zwangen
sich, daran zu glauben.
Aber
der Punkt wuchs zu
schnell. Jetzt sahen es alle, das war nicht der langsame Zug vieler
Karren, das
war keine Mehlkarawane. Und die Hoffnung verlor sich im Winde und
verließ ihre
Stirnen.
Aber
was war das ? Wer
ritt so toll ? Wer hatte in dieser toten Zeit einen Grund, so zu
reiten?
Ein
paar Männer
kletterten auf die dicken Weiden und spähten über die Köpfe der Massen.
Jetzt
sahen sie ihn und
schrien seinen Namen herab. Es war Maillard. Maillard von der Bastille.
Maillard vom 14. Juli.
Und
da kam er heran, mitten unter die Volkshaufen. Er
hielt an, und dann bekam er nur ein Wort heraus. „Verrat“ schrie er.
Da
brach der Orkan los.
„Verrat, Verrat!“ Einige zehn Mann faßten ihn an und hoben ihn auf ihre
Schultern. Er stand oben, mit der einen Hand sich an einen Baum
stützend,
ohnmächtig vor Anstrengung, fast blind vom Schweiß, der ihm aus seinem
schwarzen Haar um die Augen lief.
,,Maillard
will reden“,
hieß es. Da trat eine furchtbare Ruhe ein. Alle warteten, warteten mit
dem
furchtbaren Warten der Massen vor dem Aufruhr, in den furchtbaren
Sekunden, in
denen die Zukunft Frankreichs gewogen ward, bis die Schale voll
Fesseln,
Kerkern, Kreuzen, Bibeln, Rosenkränzen, Kronen, Zeptern, Reichsäpfeln,
gebettet
in die falsche Sanftmut bourbonischer Lilien, voll hohler Worte,
Versprechungen,
Tafeln voll königlicher Eidbrüche, ungerechter Urteile, harmloser
Privilegien,
dieser ungeheure Berg alles dessen, mit dem die Jahrtausende Europa
betrogen
hatten, langsam zu sinken begann.
Maillard
schwang sich in
den Baum hinauf.
Aus
seiner kahlen Kanzel
herab warf er seine furchtbaren Worte über die Menschen dahin, über die
kahlen Felder,
die düsteren Wälle, die schwarzen Zugbrücken, überladen von Menschen,
in die
Tunnels der Tore, über die Dächer von Paris, in die Höfe und Gäßchen
der
düsteren Faubourgs, in alle die Burgen des Elends weit hinaus, wo unter
der
Erde in den Kanälen bei den Quartieren der Ratten noch ein verdammtes
Ohr war,
das seine Worte vernahm.
,,An
die Nation! Ihr
Armen, ihr Verfluchten, ihr Ausgestoßenen! Man verrät euch. Man preßt
euch aus.
Ihr werdet bald nackt herumlaufen, auf den Treppen werdet ihr
sterben, und aus
euren starren Händen werden die Steuerpächter, die Schergen des Capets,
Bluthunde des Bluthundes, Spinnen der Spinne, eure letzten Groschen
reißen.
Wir
sind verlassen, wir
sind verstoßen, und es geht mit uns zu Ende. Sie werden uns bald den
letzten
Rock vom Leibe reißen. Aus unsern Hemden werden sie uns Stricke drehen.
Wir werden mit
unserem Leibe die kotigen Straßen pflastern, damit die Wagen der Henker
trocken
darüber fahren. Warum sollten wir auch nicht sterben? Denn wir
verpesten mit
unsern Leibern die Luft, wir stinken, man faßt uns nicht an, nicht
wahr? Warum
sollten wir nicht sterben? Was können wir auch tun? Wir können uns ja
nicht
wehren? Wir sind mürbe gemacht, wir sind stumm gemacht.
Man
hat künstliche
Teuerungen erzielt, man hat uns ausgehungert, der Hunger hat uns
totgemacht.“
Jedes
Wort fiel wie ein
schwerer Stein in das Volk. Bei jeder Silbe warf er seine Arme nach
vorn, als
wollte er mit dem Bombardement seiner Worte den Horizont selber ins
Wanken
bringen.
,,Wißt
ihr, was diese
Nacht geschehen ist? Die Königin —„
„Ha,
die Königin“, und
die Massen wurden noch stiller, als sie den verhaßten Namen hörten.
„Die
Königin, wißt ihr,
was die alte Hure getan hat? Drei Regimenter Dragoner hat sie nach
Versailles
kommen lassen. Die liegen in allen Häusern, und die Leute der
Versammlung
wagen kaum
noch zu reden. Mirabeau ist klein geworden wie ein Zwerg, und die
andern alle
können sich kaum noch zu einem dürftigen Räuspern aufschwingen. Es ist
eine
Schande, das zu sehen. Wofür haben sie im Ballhause geschworen, diese
Komödianten der Freiheit? Wofür habt ihr euer Blut bei der Bastille
gelassen?
Es war alles umsonst, hört ihr, umsonst.
Ihr
müßt wieder in eure
Höhlen kriechen, die Freiheitsfackel ist ein kleines Nachtlicht
geworden, eine
kleine Tranfunzel. Gut genug, um euch wieder in eure Löcher zu
leuchten. In
drei Tagen wird Broglie mit seinen Truppen hier sein. Die Versammlung
wird nach
Hause geschickt, die Folter wird wieder aufgerichtet. Die Bastille wird
wieder aufgebaut.
Die Abgaben werden wieder gezahlt. Alle Kerker sperren schon ihre
Mäuler auf.
Euer
Hunger wird nicht
gestillt werden, verzweifelt getrost. Der König hat die Brotkarren noch
vor
Orleans anhalten lassen und sie wieder nach Hause geschickt.“
Seine
Worte gingen unter
in dem Schrei der Wut. Ein ungeheurer Sturm geballter Fäuste schüttelte
sich in
der Luft. Die Massen begannen zu schwanken, wie ein ungeheurer
Malstrom, rund
um seinen Baum.
Und
der Baum ragte heraus
aus dem Meere der Schreie, aus den kreisenden Flüchen der verzerrten
Gesichter,
aus dem Echo des Zornes, das wie ein schwarzer, riesiger Wirbelwind
vom Himmel
zurückkam und ihn im Kreise zu erschüttern begann, daß er dröhnte wie
der
Klöppel einer ehernen Glocke.
Der
Baum ragte heraus wie
von düstren Flammen angezündet, eine kalte Lohe, die ein Dämon aus dem
Abgrund hatte
aufschießen lassen.
Hoch
oben in seinem
fahlen Geäst hing Maillard wie ein riesiger schwarzer Vogel und warf
seine Arme
im Kreise hin und her, als wollte er sich zum Fluge über die
Menschenmassen
anschicken
in den Abend hinaus, ein Dämon der Verzweiflung, ein schwarzer Belial,
der Gott
der Masse, der düstres Feuer aus seinen Händen warf.
Aber
in seiner Stirn, die
das dunkle Licht wie mit überirdischer Weiße übergoß, spiegelte ein
goldener
Strahl, der durch die Wolken kam, hoch über dem Chaos aus dem Zenit des
Himmels.
Nur
ein kleiner Streifen
am Westhimmel war hell geworden, dort war der Himmel über die Felder
gespannt
wie ein Teppich von seidener Bläue, der noch von den Erinnerungen eines
verschwiegenen Schäferspiels träumte.
Aus
dem Toben der Massen
heraus schallte plötzlich zweimal von einer lauten Stimme gerufen im
Paroxismus
eines gellenden Diskantes der Ruf: „Nach Versailles, nach Versailles!"
Es
war, als hätte es die riesige Masse selber gerufen, als hätte ein Wille
das
ausgesprochen, was in den Tausenden der Köpfe sich wälzte. Da war ein
Ziel. Das
war kein Chaos mehr, die Menschenmassen waren mit einem Schlage ein
furchtbares
Heer. Wie ein riesiger Magnet riß der Westhimmel ihre Köpfe herum, wo
Versailles ihrer harrte. Diese Straße würden sie jetzt gehen, sie
würden nicht
mehr warten. Die Kräfte, die der Sturm der Verzweiflung in ihnen
aufgewühlt
hatte, hatten einen Willen, einen Weg. Der Damm war gebrochen.
Die
ersten Reihen setzten
sich spontan in Marsch. In Reihen zu
vieren, zu fünfen, soweit die Breite der Straße es erlaubte.
Maillard
sah das. Er
kletterte, so schnell er konnte, von Baum herab, rief drei Mann, die er
kannte,
zu sich und rannte mit ihnen über die Felder an den Massen entlang, bis
er ihre Spitze
erreichte. Da stellte er sich mit seinen Leuten dem Strome entgegen und
versuchte, auf sie einzureden, sie sollten einen Führer wählen, Waffen
holen.
Aber er wurde nicht gehört. Jetzt war seine Stimme wie die eines jeden
andern,
der diese eisernen Bataillone hätte aufhalten wollen. Die Massen
stießen ihn
zur Seite, sie
überschwemmten die
kleine Mauer der vier Mann und rissen Maillard und seine Leute mit sich
die
Straße hinab.
Ein
unsichtbarer Führer
führte sie, eine unsichtbare Fahne wehte vor ihnen her, ein riesiges
Panier
wallte im Winde, das ein ungeheurer Fahnenträger vor ihnen hertrug.
Ein
blutrotes Banner war
entfaltet. Eine gewaltige Oriflamme der Freiheit, die mit einem
purpurnen
Fahnentuche im Abendhimmel ihnen vorausflackerte wie eine Morgenröte.
Sie
alle waren unzählige
Brüder geworden, die Stunde der Begeisterung hatte sie
aneinandergeschweißt.
Männer
und Weiber
durcheinander, Arbeiter, Studenten, Advokaten. Weiße Perücken,
Kniestrümpfe und
Sansculotten, Damen der Halle, Fischweiber, Frauen mit Kindern auf dem
Arm,
Stadtsoldaten, die ihre Spieße wie Generale über der Masse schwangen,
Schuster
mit Lederschürzen und Holzpantoffeln, Schneider, Gastwirte, Bettler,
Strolche, Vorstädter,
zerlumpt und zerrissen, ein unzähliger Zug.
Barhäuptig
zogen sie die
Straße hinab, Marschlieder erschallten. Und an Spazierstöcken trugen
sie rote
Taschentücher wie Standarten.
Ihre
Leiden waren
geadelt, ihre Qualen waren vergessen, der Mensch war in ihnen erwacht.
Das
war der Abend, wo der
Sklave, der Knecht der Jahrtausende seine Ketten abwarf und sein Haupt
in die Abendsonne
erhob, ein Prometheus, der ein neues Feuer in seinen Händen trug.
Sie
waren waffenlos, was
schadete das, sie waren ohne Kommandanten, was tat das? Wo war nun der
Hunger, wo
waren die Qualen?
Und
das Abendrot lief über sie hin, über ihre
Gesichter und brannte auf ihre Stirnen
einen ewigen Traum von Größe. Die ganze meilenweite Straße brannten
tausend Köpfe
in seinem Lichte
wie ein Meer, ein urewiges Meer.
Ihre
Herzen, die in der
trüben Flut der Jahre, in der Asche der Mühsal erstickt waren, fingen
wieder
an, zu brennen, sie entzündeten sich an diesem Abendrot.
Sie
gaben sich die Hände
auf dem Marsche, sie umarmten sich. Sie hatten nicht umsonst gelitten.
Sie
wußten alle, daß die Jahre der Leiden vorbei waren, und ihre Herzen
zitterten
leise.
Eine
ewige Melodie
erfüllte den Himmel und seine purpurne Bläue, eine ewige Fackel
brannte. Und
die Sonne zog ihnen voraus, den Abend herab, sie entzündete die Wälder,
sie verbrannte
den Himmel. Und wie göttliche Schiffe, bemannt mit den Geistern der
Freiheit,
segelten große Wolken in schnellem Winde vor ihnen her.
Aber
die gewaltigen
Pappeln der Straße leuchteten wie große Kandelaber, jeder Baum eine
goldene
Flamme, die weite Straße ihres Ruhmes hinab.