Jonathan
Der
kleine Jonathan lag schon den dritten Tag in der entsetzlichen
Einsamkeit
seiner Krankenstube. Schon den dritten Tag, und die Stunden liefen
immer
langsamer und langsamer.
Wenn er die Augen zumachte, hörte er sie langsam an den Wänden
herabsickern wie
einen ewigen Fall langsamer Tropfen in einem dunklen Kellerloch.
Da
ihm beide Beine in dicken Schienen lagen, so konnte er sich kaum
rühren, und
wenn die Schmerzen aus seinen gebrochenen Knien langsam an ihm
heraufkrochen,
hatte er niemand, an dem er sich festhalten konnte, keine Hand, keinen
Trost,
kein zärtliches Wort. Wenn er nach der Schwester klingelte, kam sie
herein,
mürrisch, langsam, verdrossen. Als sie ihn über seine Schmerzen klagen
hörte, verbat
sie sich diese unnütze Nörgelei. Dann könnte sie jede Stunde tausendmal
rennen,
sagte sie, und sie schlug die Tür hinter sich zu.
Und
er war wieder allein, wieder verlassen, wieder seinen Qualen
ausgeliefert, ein
verlorener Posten, über den von allen Seiten, von unten, von oben, von
den
Wänden die Schmerzen ihre langen weißen, zitternden Finger
ausstreckten.
Die
Dunkelheit des frühen Herbstabends kroch durch die leeren Fenster in
das elende
Zimmer, es wurde dunkler und dunkler. Der kleine Jonathan lag in seinen
großen weißen
Kissen, er rührte sich nicht mehr. Und sein Bett schien mit ihm auf
einem
höllischen Strome herunterzuschwimmen, dessen ewige Kälte in die ewige
Starre
einer verlorenen Wüste endlos zu laufen schien.
Die
Tür ging auf, die Schwester kam mit der Lampe aus dem Nebenzimmer
herein.
Während die Tür offen war, warf er einen Blick hinüber in das
Nachbarzimmer.
Bis heute
mittag war es leer gewesen. Er hatte das Bett, ebenso eisern und
gewaltig wie
das seine, noch leer gesehen, weit offen stehend, wie ein Maul, das
nach einem
neuen Kranken zu schnappen schien. Er sah, daß das Bett nicht mehr leer
war. Er
hatte im Schatten des großen Kopfkissens einen bleichen Kopf liegen
sehen. Es
war wohl ein Mädchen, soviel er in der Dämmerung der trüben Lampe
erkennen konnte.
Eine Kranke wie er, eine Leidensgenossin, eine Freundin, jemand, an dem
er sich
halten könnte, jemand wie er, herausgeworfen aus dem Garten des Lebens.
Ob sie
ihm antworten würde, was mochte ihr Leiden sein?
Auch
sie hatte ihn gesehen, er sah es. Und die Blicke der Kranken begegneten
sich in
der Tür, ein kurzer flüchtiger Gruß, ein kurzes Zeichen des Glücks. Und
wie der
leise Flügel
eines kleinen Vogels, so zitterte in diesen Augenblicken sein Herz in
einer
neuen und geheimnisvollen Hoffnung.
Plötzlich
klingelte es dreimal laut im Korridor, in kurzen Absätzen, scharf wie
ein
Befehl. Die Schwester lief auf das Klingelzeichen hinaus, und sie
schloß die
Tür nach dem Nebenzimmer hinter sich zu.
Das
war das Zeichen, daß irgendwo eine Gefahr war, vielleicht daß jemand
nahe am
Tode war. Dieses Zeichen hatte Jonathan schon gelernt, und er zitterte
vor
Schreck bei
dem Gedanken, daß jetzt jemand in dieser elenden dumpfen Atmosphäre
seinen
letzten Seufzer tun könnte. Ach, warum hier sterben, hier, wo man den
Tod an
jedem Bette
stehen sah, hier, wo man dem Tode ausgeliefert war wie eine Nummer, mit
sehenden Augen, hier, wo jeder Gedanke vom Tode infiziert war, hier, wo
es
keine Illusionen mehr gab, wo alles nackt, kalt und grausam war.
Wahrhaftig ein
zum Tode Verurteilter hatte es besser, denn seine Qual dauerte nur
einen Tag,
so lange verhüllte man
ihm sein Ende; sie aber waren vom Tage des Einganges in diese Zimmer
preisgegeben der Einsamkeit, der Dunkelheit, der entsetzlichen Trauer
der
Herbstabende, dem Winter, dem Tode, einer ewigen Hölle.
Und
sie mußten ruhig in ihren Betten liegen, sie mußten sich den
körperlichen Schmerzen
hingeben, sie wurden bei lebendigem Leibe geschunden, ach. Und um ihre
Leiden zu
verhöhnen, um ihre Ohnmacht ihnen ewig vor Augen zu halten, hing am
Fußende
eines jeden Bettes der sterbende Christus an einem großen weißen Kreuze
vor
einem dunkelnden Himmel. Der arme Christus, der nur schmerzlich seine
Schultern gezuckt hatte, als die Juden ihn um das Wunder baten: bist du
Christus, so steige herab vom Kreuz. Und aus seinen gebrochenen Augen,
die
schon auf unzählige Kranke in diesen Bettstätten gesehen hatten, von
seinem
schmerzlich verzogenen Mund, der schon den Duft einer Unzahl
grauenhafter
Wunden geatmet hatte, von diesem Schacher am Kreuz ging eine furchtbare
Ohnmacht aus, die die Seelen der Kranken verdüsterte und alles
erstickte, was
noch nicht Tod und Verzweiflung war.
Plötzlich
ging die Tür in das Nebenzimmer leise auf. Sie war vielleicht nicht
ganz
geschlossen gewesen.
Und
Jonathan sah wieder hinüber in das bleiche Gesicht seiner neuen
Nachbarin, das
er über den Gedanken des Todes fast vergessen hatte.
Die
Tür blieb offen. Auch die Kranke sah wieder zu ihm herüber, er fühlte
es durch
das Halbdunkel. Und in dieser flüchtigen Sekunde begrüßten sie sich
schweigend über
der Schwelle, sie prüften einander, sie erkannten sich, und sie
verbanden sich
wie zwei Schiffbrüchige, die in einem uferlosen Ozean nebeneinander
dahintreiben.
,,Ich
habe Sie am Nachmittag soviel stöhnen hören, haben Sie große Schmerzen?
Warum
liegen Sie hier?“ hörte er ihre leise Stimme, die von ihrer Krankheit
fein und
leicht geworden schien.
,,Ja,
es ist furchtbar“, sagte Jonathan.
„Was
fehlt Ihnen denn? Warum hat
man Sie hierhergebracht?“ fragte sie wieder.
Und
er erzählte ihr, während seine Stimme vor Schmerzen zitterte, seine
Geschichte.
Er
war vor fünf Jahren als Maschinist von Hamburg fortgegangen auf
ostasiatische
Fahrt. Er hatte sich in den Ozeanen des Ostens herumgetrieben, immer
unten am Kessel
in der Siedehitze der Tropen. Er war auf einem Korallenschiffe in die
Südsee
gegangen, dann hatte er auf einem Schmuggler gefahren, der das Opium
verborgen
in Maissäcken
in Kanton einschmuggelte, über zwei Jahre lang. Auf diesem Schiffe
hatte er
viel Geld gemacht. Er wollte nach Hause fahren, aber er wurde
bestohlen. Und er
saß nackt und bloß in Schanghai. Durch die Hilfe des Konsuls heuerte er
auf
einem Schiffe, das mit einer Fracht Reis nach Hamburg bestimmt war. Das
Schiff
ging um das Kap, um die teure Fahrt durch den Suezkanal zu sparen.
In
Monrovia, Liberia, diesem schrecklichen fiebrigen Liberia, hatten sie
drei Tage
lang Kohlen aufgenommen. Am Mittag des dritten Tages war er unten im
Heizraum hingefallen.
Wie er aufgewacht war, lag er im Spital von Monrovia mitten unter
hundert
schmutzigen Negern. Da lag er vier Wochen am Schwarzwasserfieber, mehr
tot als lebendig.
Ach, was er da zu dulden gehabt hatte in der fürchterlichen Julihitze,
die die
Adern der Kranken verbrannte, wo das Feuer bis in ihr Hirn wie ein
eiserner Hammer
schlug.
Aber
es war trotz des Schmutzes, des Negergestankes, der Hitze, trotz des
Fiebers
immer noch besser gewesen als hier. Denn da wären sie nie allein
gewesen, da
hätten sie
immer Unterhaltung gehabt.
Mitten
im Fieber sangen die Neger ihre Lieder, mitten im Fieber tanzten sie
über die
Betten. Und wenn einer starb, dann sprang er noch einmal hoch auf, als
wenn ihn der
Krater seines Fiebers noch einmal in den Himmel schleudern wollte, ehe
er ihn
für ewig verschlang.
Sehen
Sie, hier liege ich in der Quarantäne, denn die Ärzte glauben, ich
könnte die
andern im Saal mit meiner Malaria anstecken, die Herren sind in Europa
so
vorsichtig, da sollten sie zusehen kommen, wie wenig man sich da unten
um die
Kranken schert. Aber sie werden dabei viel eher gesund, denn man sperrt
sie
nicht ein wie Verbrecher in diese gräßliche Einsamkeit.
Meine
Beine würden viel eher heilen, wenn ich nicht immer so allein wäre.
Aber das
allein ist schlimmer als der Tod. Letzte Nacht bin ich um drei Uhr
aufgewacht. Und
da habe ich hier gelegen wie ein Hund, auf einem Fleck, ich habe immer
in die
Dunkelheit gestarrt, immer geradeaus."
„Was
haben Sie denn mit Ihren Beinen gemacht, darf ich das wissen?" hörte er
sie fragen. ,,Erzählen Sie doch weiter."
Und
er gehorchte ihr.
Ja,
als er wieder gesund war, war er mit einem französischen Doktor, der
durchaus
eine Orchidee haben wollte, wie sie oben am Niger wachsen sollten, in
den
liberischen Urwald gegangen. Da waren sie zwei Monate lang durch den
Urwald
gegangen, über Creeks voll von Alligatoren, über riesige Sümpfe, auf
denen
abends die Moskitos so dicht standen, daß man sie mit der Hand immer
gleich zu
Hunderten greifen konnte.
Und
die Vorstellung dieser großen Moräste, die in den Abend der Urwälder
versanken,
das ewige Rauschen der Baumkronen dieser unendlichen Wälder, der
exotische Name
fremder Völker, umgeben von Geheimnissen der Ferne, das Rätsel und die
Abenteuer der verlorenen Wälder, alle diese seltsamen Bilder erfüllten
das Herz
seiner Zuhörerin mit Bewunderung und entrückten den Kranken da drüben
einer
fremdartigen Atmosphäre, den kleinen Maschinisten in dem elenden Bette
eines
nüchternen hamburgischen Krankenhauses.
Da
er schwieg, bat sie ihn, weiter zu sprechen. Und er erzählte ihr das
Ende
seines Schicksals, das ihn hierhergeworfen hatte, in ihre Nähe, und das
nun
über der puritanischen Armseligkeit dieser zwei Zimmer den weiten
Himmel der
Liebe dem Kranken aufschloß, der sein Herz erfüllte mit einer
ungewissen
Glückseligkeit.
Bei
Lagos wären sie wieder aus der Wildnis herausgekommen. Er hätte nach
Hause
angemustert, alles wäre gut gegangen bis nach Kuxhaven. Er wollte
gerade die eiserne
Treppe nach dem Kessel hinuntersteigen, als das Schiff in einer
plötzlichen Bö
stark schlingerte. Er sei aus dem Gleichgewicht gekommen und die Treppe
hinuntergestürzt in das Maschinenwerk hinein. Die Kolbenstange hätte
ihm beide Beine gebrochen.
„Das
ist ja furchtbar, das ist ja unmenschlich“, sagte seine Zuhörerin, die
sich in
den Kissen aufgerichtet hatte. Jetzt konnte er sie deutlich sehen. Die
Lampe
beschien ihr
Profil. In seiner etwas starken Blässe schien es aus der Dunkelheit
herauszubrennen
wie das Gesicht eines Heiligenbildes in einer dunklen Kirche.
„Wenn
ich aufstehen kann, werde ich Sie besuchen kommen. Wollen Sie, darf ich
Sie
manchmal besuchen?"
,,Kommen
Sie, kommen Sie“, sagte er, ,,Sie sind
die erste, die hier ein freundliches Wort zu mir sagt. Wissen Sie, wenn
Sie
kommen, hilft mir das mehr als alle Ärzte.
Aber
werden Sie schon so bald aufstehen können, warum sind Sie hier?"
Sie
erzählte ihm, daß sie eine Blinddarmoperation durchgemacht hätte, nun
sollte
sie hier noch vierzehn Tage liegen.
,,Dann
werden wir uns vielleicht öfter einmal sprechen", sagte der kleine
Jonathan. ,,Wollen wir uns öftet einmal unterhalten?"
,,O
gewiß. Ich werde es dem Arzt sagen, ich werde die Schwester bitten, daß
sie die
Tür morgen wieder auf einige Zeit offen läßt."
Er
hörte ihr zu, er glaubte fast nicht daran. Und das Zimmer war mit einem
Male
leer von Schrecken.
,,Ich
danke Ihnen", und sie lagen beide eine Weile still. Seine Augen suchten
sie aus ihren Kissen heraus, und sie blieben eine Weile an ihrem
Gesicht
hängen. In dem Schweigen
dieser Minuten vertiefte sich seine Liebe, sie drang siegreich vor in
seinem
Blut, sie begann seine Gedanken einzuhüllen in glückliche Phantasien,
sie
zeigte ihm
eine weite Wiese in einem goldenen Wald, sie zeigte ihm einen
Sommertag, einen
langsamen Sommertag, einen seligen Mittag, wo sie beide Hand in Hand
durch das
Korn gingen, das ihre Liebesworte mit seinem leisen Rauschen umhüllte.
Die
Tür ging auf, zwei Ärzte und zwei Schwestern traten ein.
,,Hier
ist gesprochen worden", sagte der eine der beiden Ärzte. ,,Das geht
nicht,
das ist nicht angängig. Sie haben sich der Hausordnung zu fügen. Sie
müssen
Ruhe haben, verstehen Sie. Und Sie, Schwester, daß Sie die Tür nicht
noch
einmal auflassen! Die Kranken müssen Ruhe haben und Ruhe halten.“ Und
er ging
selbst hinüber und schloß die Tür zwischen den beiden Zimmern.
Dann
untersuchte er die Beine Jonathans, machte einen neuen Verband und
sagte: ,,In
drei Monaten werden Sie vielleicht noch einmal laufen können, wenn das
überhaupt noch einmal gut wird. Das ist noch sehr fraglich. Sie müssen
sich
beizeiten an den Gedanken gewöhnen, ein Krüppel zu bleiben. Ich werde
Ihnen
eine Schwester hier lassen, die kann auf Sie aufpassen.“
Er
zog die Decke wieder über den Kranken, wünschte ihm gute Nacht und
verschwand
mit seiner Eskorte.
Jonathan
lag in seinen Kissen, als hätte ihm jemand mit einem einzigen Ruck das
Herz aus
der Brust gerissen. Die Tür war zu. Er würde sie nicht mehr sprechen,
er würde
sie nicht mehr wiedersehen dürfen. Das waren also nur ein paar Minuten
gewesen,
die niemals wiederkommen würden. Sie würde eher herauskommen. In zwei
Wochen würde
nebenan irgendein anderer liegen, irgendein Heringshändler oder
eine alte Großmutter. Sie würde vielleicht einmal wiederkommen wollen,
aber man
würde sie nicht hereinlassen. Was wollte sie auch bei ihm, dem armen
Krüppel,
dem Mann ohne Beine. Der Arzt hatte es ja eben selber gesagt, daß er
ein
Krüppel bleiben würde. Und er sank zurück in seine Verzweiflung. Er lag
still.
Seine
Schmerzen kamen wieder. Er biß die Zähne aufeinander, um nicht zu
schreien. Und
die Tränen traten ihm in die Augen, gewaltsam wie Feuer.
Ein
Krampf schüttelte ihn, er fror. Seine Hände wurden eiskalt. Er fühlte,
wie das
Fieber wiederkam. Er wollte den Namen des Mädchens rufen. Da merkte er,
daß er ihn
nicht kannte. Und diese plötzliche Erkenntnis stieß ihn noch tiefer in
seinen
Abgrund. Nicht einmal ihren Namen. Er wollte ,,gnädiges Fräulein“ oder
so etwas sagen,
aber als er sich aufsetzte, sah er in das gelbe Gesicht seiner
Wärterin, das in
unzähligen Nachtwachen alt, stumpf und gemein geworden war.
Er
war ja nicht allein. Er hatte das ganz vergessen. Man hatte ihm einen
Wächter
hingesetzt, diesen Satan von einer Krankenschwester, diesen alten
verwelkten
Teufel,von
dem er abhängig war, der ihm befehlen konnte. Und er fiel wieder
zurück.
Nun
würde ihn niemand mehr erlösen, nun würde ihn niemand mehr retten. Und
da hing
der Christus, dieser armselige Schwächling, und lächelte immer noch. Er
schien gar
nicht genug leiden zu können, er schien sich zu freuen über seine
Qualen, und
Jonathan erschien das Lächeln des Gottes seltsam, bösartig und gemacht
wie das
einer erkauften Wollust. Er schloß die Augen, er war besiegt.
Das
Fieber übermannte ihn mit seiner ganzen Gewalt. In den beginnenden
Paroxysmen
tauchte noch einmal, wie der Abendstern an einem leeren Himmel, das
Bild seiner
unbekannten Nachbarin auf, weiß, fern, wie das Gesicht einer Toten.
Gegen
Mitternacht schlief er ein. Er schlief den schrecklichen Schlaf, in dem
Krankheit und Verzweiflung einen Menschen erstarren lassen, wenn sie
das
Arsenal ihrer Qualen erschöpft haben.
Er
schlief kaum zwei Stunden. Als er aufwachte, überfielen ihn die
Schmerzen in
seinen Schenkeln mit solcher Macht, daß er fast besinnungslos wurde. Er
klammerte sich
mit aller Gewalt an den eisernen Bettpfosten. Er glaubte, die Beine
würden ihm
von glühenden Zangen herausgerissen, und er stieß einen schrecklichen,
langgezogenen
Schrei aus, einen jener Schreie, die so oft nachts in den
Krankenhäusern
plötzlich aufwachen und die Schlafenden aus ihren Betten aufscheuchen
und das
Herz eines jeden mit Grauen ersticken.
Er
hatte sich im Bette halb aufgehoben. Er stützte sich auf die Hände. Er
hielt
den Atem vor Schmerzen an, er sog ihn in sich hinein. Und dann, dann
brüllte er
aus voller Kehle ein furchtbares Uuuu Aaaa.
Wie
der Tod über dem Haus raste. Jetzt stand er hoch oben auf dem Dache,
und unter
seinen riesigen knöchernen Füßen saßen in ihren Betten, in ihren großen
Sälen,
in ihren Kammern, überall saßen die Kranken auf in ihren weißen Hemden,
in dem
Licht der spärlichen Lampen wie Gespenster, und das Entsetzen flog wie
ein
riesiger weißer Vogel durch die Treppen und die Säle. Überall drang das
entsetzliche
Brüllen hin, überall weckte es die Schläfer aus ihrem kraftlosen Schlaf
und
überall weckte es ein schreckliches Echo bei den Krebskranken, die kaum
entschlafen waren, denen nun der weiße Eiter wieder in ihren Därmen zu
rinnen
begann, bei den Verdammten, denen die Knochen wegfaulten, langsam,
Stück für
Stück, und bei denen, denen auf dem Kopf ein furchtbares Sarkom
wucherte, das
von innen heraus ihre Nase, ihren Oberkiefer, ihre Augen wegfraß,
ausfraß,
austrank, und riesige stinkende Löcher, große Trichter voll gelber
Jauche in
ihrem weißen Gesicht aufgerissen hatte.
In
schrecklichen Tonleitern ging das Geheul herauf und herunter, wie von
einem
unsichtbaren Dirigenten gelenkt. Manchmal trat ein kurzes Intervall
ein, eine
kleine Kunstpause, geschickt eingefügt, bis mit einem Male in einer
dunklen
Ecke es wieder begann, langsam anschwoll und sich wieder in die
allerhöchsten
Töne verstieg, in ein schauderhaftes,
langes und dünnes J, das über diesem Sabbat des Todes schwebte wie die
Stimme
eines Meßpriesters über dem Gesänge eines Kirchenchors.
Alle
Ärzte waren auf den Beinen, alle liefen hin und her zwischen den
Betten, in
denen die roten geschwollenen Köpfe der Kranken staken wie große Rüben
in einem
herbstlichen Acker. Alle Krankenschwestern rannten mit ihren
klappernden weißen
Schürzen in den Sälen herum, große Morphiumspritzen, Opiumdosen
schwingend, wie
die Ministranten eines seltsamen Gottesdienstes.
Überall
wurde getröstet, beruhigt, eingeschläfert, überall machte man Morphium-
und
Kokain-Injektionen, das Chaos zu besänftigen, überall wurde dementiert,
an
allen Betten wurden beruhigende Bulletins ausgegeben. Die Säle wurden
alle
erleuchtet, und mit dem wiederkehrenden Lichte schienen die Schmerzen
der
Kranken langsam nachzulassen. Das Gebrüll starb langsam ab, es ging in
ein
leises Gewimmer
über, und der Aufstand der Schmerzen endete in Tränen, Schlaf und
stumpfer
Resignation.
Jonathan
fiel in eine dumpfe Betäubung. Der Schmerz hatte sich ausgerast, er war
zuletzt
erstickt in Apathie.
Aber
nachdem die Qual ihn verlassen hatte, begannen seine Beine
anzuschwellen, wie
zwei große Leichname, die in der Sonne aufgehen. Seine Knie schwollen
im
Verlauf einer
halben Stunde zu Kindskopfgröße, seine Füße wurden schwarz und hart wie
Stein.
Als
bei der Morgenrunde der Arzt vom Dienst bei ihm eintrat und die Decke
aufhob,
sah er unter dem Verband die gewaltigen Schwellungen. Er ließ die
Verbände
abwickeln, er warf nur einen Blick auf die verwesenden Beine, dann
klingelte er
dreimal, und nach ein paar Minuten wurde ein fahrbarer Operationsstuhl
hereingeschoben.
Ein paar Männer legten den Kranken auf das Gestell. Sie trugen ihn
heraus, und
das Zimmer blieb eine halbe Stunde leer.
Danach
wurde der Operationsstuhl wieder hereingeschoben. Darauf lag der kleine
Jonathan, bleich, mit aufgerissenen Augen, um die Hälfte kürzer
gemacht. Wo vorher
seine Beine gewesen waren, war jetzt ein dickes blutiges Bündel von
weißen
Tüchern, aus denen sein Leib aufragte wie der Körper eines exotischen
Gottes
aus einem Blumenkelch.
Die Männer warfen ihn in das Bett und verließen ihn.
Er
war eine Weile ganz allein, und der Zufall wollte es, daß er in diesen
wenigen
Minuten noch einmal seine Bekannte vom Zimmer nebenan wiedersehen
sollte.
Wieder
ging die Tür auf, wieder sah er ein weißes Gesicht. Aber es schien ihm
fremd,
er konnte sich seiner kaum noch erinnern. Wie lange war das her, daß er
mit ihr
gesprochen hatte.
Sie
fragte ihn, wie es ihm ginge.
Er
gab ihr keine Antwort, er hörte nicht, was sie fragte, aber er
versuchte
krampfhaft, die Decke möglichst weit über seine verbundenen Beinstümpfe
heraufzuziehen. Sie sollte
nicht sehen, daß unterhalb seiner Knie ein Loch war, daß da alles zu
Ende war.
Er schämte sich. Die Scham war das einzige Gefühl, das ihm geblieben
war.
Das
junge Mädchen fragte ihn noch einmal. Als sie wieder keine Antwort
bekam,
drehte sie ihren Kopf weg.
Eine
Schwester kam herein, sie schloß lautlos die Tür, sie setzte sich mit
einer
Handarbeit an sein Bett. Und Jonathan fiel in einen unruhigen
Halbschlummer,
von den Nachwehen der Narkose betäubt.
Plötzlich
schien es ihm, als wenn sich die Tapeten des Zimmers an einigen Stellen
bewegten. Sie schienen leise hin und her zu zittern und sich
aufzubauschen, als
wenn dahinter
jemand stände, der sich gegen sie anstemmte, um sie zu zerreißen. Und
siehe da,
mit einem Male zerrissen die Tapeten unten am Fußboden. Wie ein Haufe
Ratten quollen
darunter ganze Heerscharen kleiner winziger Männchen hervor, die bald
das ganze
Zimmer anfüllten. Jonathan wunderte sich, wie so viele von den Zwergen
hinter
der Tapete sich hatten verstecken können. Er schimpfte über die
Unordnung im
Krankenhause. Er wollte sich bei seiner Wärterin beschweren, aber als
er sie an
sein Bett winken wollte, sah er, daß sie nicht da war. Auch die Tapeten
waren
mit einem Male alle fort, da waren auch keine Wände mehr.
Er
lag in einem weiten, ungeheuren Saal, dessen Wände sich immer weiter
und weiter
zu entfernen schienen, bis sie hinten verschwanden in einem bleiernen
Horizont.
Und dieser ganze entsetzliche öde Raum war voll von den kleinen
Zwergen, die
auf ihren schmalen Schultern große blaue Köpfe schaukelten, wie ein
Meer riesiger
Kornblumen auf zerbrechlichen Stengeln. Trotzdem ihm viele sehr nahe
>standen,
konnte Jonathan ihre Gesichter nicht erkennen. Wenn er genau hinsehen
wollte, so
verschwammen ihre Züge in lauter blaue Flecken, die vor seinen Augen
herumtanzten. Er wollte gern wissen, wie alt sie wären, aber er konnte
seine
eigene Stimme nicht mehr hören. Und plötzlich kam ihm der Gedanke: du
bist ja
taub, du kannst ja nicht mehr hören.
Vor
seinen Augen begannen sich die Zwerge langsam zu drehen, sie hoben ihre
Hände
taktmäßig auf und nieder, langsam kamen ihre großen Massen in Bewegung.
Von rechts
nach links, von rechts nach links, summte es in seinem Schädel. Immer
schneller
drehten sich die Massen um ihn herum. Er glaubte in einer großen
stählernen Drehscheibe
zu sitzen, die in wachsender Schnelligkeit immer schneller, immer
rasender um
ihn zu kreisen begann. Ihm wurde schwindlig, er wollte sich festhalten,
aber es
half alles nichts, er wurde mit fortgerissen. Er mußte sich erbrechen.
Mit
einem Male war alles still, alles leer, alles fort. Er lag allein und
nackt in
einem großen Felde auf einer Art Bahre.
Es
war sehr kalt, es begann zu stürmen, und am Himmel zog eine schwarze
Wolke
herauf, wie ein ungeheures Schiff mit schwarzen geblähten Segeln.
Hinten
am Rande des Himmels stand ein Mann, der war in einen grauen Lappen
gehüllt,
und trotzdem er sehr weit entfernt war, wußte Jonathan genau, wer es
war.
Er
war kahl, seine Augen lagen sehr tief. Oder hatte er überhaupt keine
Augen?
Auf
der andern Seite des Himmels sah er eine Frau stehen oder ein junges
Mädchen.
Sie kam ihm bekannt vor, er hatte sie schon einmal gesehen, das war
aber lange
her. Plötzlich begannen die beiden Figuren ihm zu winken, sie
schüttelten ihre
langen faltigen Ärmel, er wußte aber nicht, wem er gehorchen sollte.
Als das
Mädchen sah, daß er keine Anstalten traf, von seiner Bahre
herunterzukommen, drehte
sie sich herum, sie ging fort. Und er sah sie noch lange in einem weiß
gestreiften Himmel dahin gehen.
Endlich
ganz weit, ganz in der Ferne blieb sie noch einmal stehen. Sie drehte
sich noch
einmal um, sie winkte ihm noch einmal. Aber er konnte nicht aufstehen,
er wußte
es, der dahinten mit seinem schrecklichen Totenkopf erlaubte es nicht.
Und das
Mädchen verschwand in dem einsamen Himmel. Aber der Mann hinten winkte
ihm
immer stärker, er drohte ihm mit seiner knöchernen Faust. Da kroch er
von
seiner Bahre herunter und er schleppte sich über die Felder, über
Wüsten,
während das Gespenst ihm voranflog, immer weiter durch Dunkel, durch
schreckliches
Dunkel.