Das
Schiff
Es
war ein kleiner Kahn, ein Korallenschiffer, der über Kap York in der
Harafuhra
seekreuzte. Manchmal bekamen sie im blauen Norden die Berge von
Neuguinea ins Gesicht,
manchmal im Süden die öden australischen Küsten wie einen schmutzigen
Silbergürtel, der über den zitternden Horizont gelegt war.
Es
waren sieben Mann an Bord. Der Kapitän, ein Engländer, zwei andere
Engländer,
ein Ire, zwei Portugiesen und der chinesische Koch. Und weil sie so
wenig waren, hatten
sie gute Freundschaft gehalten.
Nun
sollte das Schiff herunter nach Brisbane gehen. Dort sollte gelöscht
werden,
und dann gingen die Leute auseinander, die einen dahin, die andern
dorthin.
Auf
ihrem Kurs kamen sie durch einen kleinen Archipel, rechts und links ein
paar
Inseln, Reste von der großen Brücke, die einmal vor einer Ewigkeit die
beiden
Kontinente von Australien und Neuguinea verbunden hatte. Jetzt rauschte
darüber
der Ozean, und das Lot kam ewig nicht auf den Grund.
Sie
ließen den Kahn in eine kleine schattige Bucht der Insel einlaufen und
gingen
vor Anker. Drei Mann gingen an Land, um nach den Bewohnern der Insel zu
suchen.
Sie
wateten durch den Uferwald, dann krochen sie mühsam über einen Berg,
kamen
durch eine Schlucht, wieder über einen bewaldeten Berg. Und nach ein
paar
Stunden kamen
sie wieder an die See.
Nirgends
war etwas Lebendes auf der ganzen Insel. Sie hörten keinen Vogel rufen,
kein
Tier kam ihnen in den Weg. Überall war eine schreckliche Stille. Selbst
das
Meer vor
ihnen war stumm und grau. „Aber jemand muß doch hier sein, zum Teufel“,
sagte
der Ire.
Sie
riefen, schrien, schossen ihre Revolver ab. Es rührte sich nichts,
niemand kam.
Sie wanderten den Strand entlang durch Wasser, über Felsen und
Ufergebüsch,
niemand begegnete ihnen. Die hohen Bäume sahen auf sie herab wie große
gespenstische Wesen ohne Rauschen, wie riesige Tote in einer
furchtbaren
Starre. Eine Art Beklemmung, dunkel und geheimnisvoll, fiel über sie
her. Sie
wollten sich gegenseitig ihre Angst ausreden. Aber wenn sie einander in
die
weißen Gesichter sahen, so blieben sie stumm.
Sie
kamen endlich auf eine Landzunge, die wie ein letzter Vorsprung, eine
letzte
Zuflucht in die See hinauslief. An der äußersten Spitze, wo sich ihr
Weg wieder
umbog, sahen sie etwas, was sie für einen Augenblick starr werden ließ.
Da
lagen übereinander drei Leichen, zwei Männer, ein Weib, noch in ihren
primitiven Waschkleidern. Aber auf ihrer Brust, ihren Armen, ihrem
Gesicht,
überall waren rote und blaue Flecken wie unzählige Insektenstiche. Und
ein paar
große Beulen waren an manchen Stellen wie große Hügel aus ihrer
geborstenen
Haut getrieben.
So
schnell sie konnten, verließen sie die Leichen. Es war nicht der Tod,
der sie
verjagte. Aber eine rätselhafte Drohung schien auf den Gesichtern
dieser
Leichname zu stehen, etwas Böses schien unsichtbar in der stillen Luft
zu
lauern, etwas, wofür sie keinen Namen hatten, und das doch da war, ein
unerbittlicher eisiger Schrecken.
Plötzlich
begannen sie zu laufen, sie rissen sich an den Dornen. Immer weiter.
Sie traten
einander fast auf die Hacken.
Der
letzte, ein Engländer, blieb einmal an einem Busch hängen; als er sich
losreißen wollte, sah er sich unwillkürlich um. Und da glaubte er
hinter einem
großen Baumstamm etwas zu sehen, eine kleine schwarze Gestalt wie eine
Frau in
einem Trauerkleid.
Er
rief seine Gefährten und zeigte nach dem Baum. Aber es war nichts mehr
da. Sie
lachten ihn aus, aber ihr Lachen hatte einen heiseren Klang.
Endlich
kamen sie wieder an das Schiff. Das Boot ging zu Wasser und brachte sie
an
Bord.
Wie
auf eine geheime Verabredung erzählten sie nichts von dem, was sie
gesehen hatten.
Irgend etwas schloß ihnen den Mund.
Als
der Franzose am Abend über die Reeling lehnte, sah er überall unten aus
dem
Schiffsraum, aus allen Luken und Ritzen scharenweise die Armeen der
Schiffsratten ausziehen. Ihre dicken, braunen Leiber schwammen im
Wasser der
Bucht, überall glitzerte das Wasser von ihnen.
Ohne
Zweifel, die Ratten wanderten aus.
Er
ging zu dem Iren und erzählte ihm, was er gesehen hatte. Aber der saß
auf einem
Tau, starrte vor sich hin und wollte nichts hören. Und auch der
Engländer sah
ihn wütend
an, als er zu ihm vor die Kajüte kam. Da ließ er ihn stehen.
Es
wurde Nacht und die Mannschaften gingen herunter in die Hängematten.
Alle fünf
Mann lagen zusammen. Nur der Kapitän schlief allein in einer Koje
hinten unter dem
Deck. Und die Hängematte des Chinesen hing in der Schiffsküche.
Als
der Franzose vom Deck herunterkam, sah er, daß der Ire und der
Engländer
miteinander ins Prügeln geraten waren. Sie wälzten sich zwischen den
Schiffskisten herum, ihr Gesicht war blau vor Wut. Und die andern
standen herum
und sahen zu. Er fragte den einen von den Portugiesen nach dem Grund
dieses
Zweikampfes und erhielt die Antwort, daß die beiden um einen Wollfaden
zum Strumpfstopfen,
den der Engländer dem Iren fortgenommen hätte, ins Hauen gekommen
wären.
Endlich
ließen sich die beiden los, jeder kroch in einen Winkel der Kajüte und
blieb da
sitzen, stumm zu den Späßen der andern.
Endlich
lagen sie alle in den Hängematten, nur der Ire rollte seine Matte
zusammen und
ging mit ihr auf Deck. Oben durch den Kajüteneingang war dann wie ein
schwarzer
Schatten zwischen Bugspriet und einem Tau seine Hängematte zu sehen,
die zu den
leisen Schwingungen des Schiffes hin und her schaukelte.
Und
die bleierne Atmosphäre einer tropischen Nacht, voll von schweren
Nebeln und
stickigen Dünsten, senkte sich auf das Schiff und hüllte es ein, düster
und
trostlos.
Alle
schliefen schon in einer schrecklichen Stille, und das Geräusch ihres
Atems
klang dumpf von fern, wie unter dem schweren Deckel eines riesigen
schwarzen
Sarges hervor.
Der
Franzose wehrte sich gegen den Schlaf, aber allmählich fühlte er sich
erschlaffen in einem vergeblichen Kampf, und vor seinem zugefallenen
Auge zogen
die ersten Traumbilder,
die schwankenden Vorboten des Schlafes. Ein kleines Pferd, jetzt waren
es ein
paar Männer mit riesengroßen altmodischen Hüten, jetzt ein dicker
Holländer mit
einem langen weißen Knebelbart, jetzt ein paar kleine Kinder, und
dahinter kam
etwas, das aussah wie ein großer Leichenwagen, durch hohle Gassen in
einem
trüben Halbdunkel.
Er
schlief ein. Und im letzten Augenblick hatte er das Gefühl, als ob
jemand
hinten in der Ecke stände, der ihn unverwandt anstarrte. Er wollte noch
einmal
seine Augen aufreißen,
aber eine bleierne Hand schloß sie zu.
Und
die lange Dünung schaukelte unter dem schwarzen Schiffe, die Mauer des
Urwaldes
warf ihren Schatten weit hinaus in die kaum erhellte Nacht, und das
Schiff
versank tief in die mitternächtliche Dunkelheit.
Der
Mond steckte seinen gelben Schädel zwischen zwei hohen Palmen hervor.
Eine
kurze Zeit wurde es hell, dann verschwand er in die dicken, treibenden
Nebel.
Nur manchmal
erschien er noch zwischen den treibenden Wolkenfetzen, trüb und klein,
wie das
schreckliche Auge der Blinden.
Plötzlich
zerriß ein langer Schrei die Nacht, scharf wie mit einem Beil.
Er
kam hinten aus der Kajüte des Kapitäns, so laut, als wäre er
unmittelbar neben
den Schlafenden gerufen. Sie fuhren in ihren Hängematten auf, und durch
das
Halbdunkel sahen sie einander in die weißen Gesichter.
Ein
paar Sekunden blieb es still; auf einmal hallte es wieder, ganz laut,
dreimal.
Und das Geschrei weckte ein schreckliches Echo in der Ferne der Nacht,
irgendwo
in den Felsen, nun noch einmal, ganz fern, wie ein ersterbendes Lachen.
Die
Leute tasteten nach Licht, nirgends war welches zu finden. Da krochen
sie
wieder in ihre Hängematten und saßen ganz aufrecht darin wie gelähmt,
ohne zu
reden.
Und
nach ein paar Minuten hörten sie einen schlürfenden Schritt über Deck
kommen.
Jetzt war es über ihren Häuptern, jetzt kam ein Schatten vor der
Kajütentür
vorbei. Jetzt ging es nach vorn. Und während sie mit weit aufgerissenen
Augen
einander anstarrten, kam von vorn aus der Hängematte des Iren noch
einmal der
laute, lang gezogene Schrei des Todes. Dann ein Röcheln, kurz, kurz,
das
zitternde Echo und Grabesstille.
Und
mit einem Male drängte sich der Mond wie das fette Gesicht eines
Malaien in
ihre Tür, über die Treppe, groß und weiß, und spiegelte sich in ihrer
schrecklichen Blässe.
Ihre
Lippen waren weit auseinander gerissen, und ihre Kiefer vibrierten vor
Schrecken.
Der
eine der Engländer hatte einmal den Versuch gemacht, etwas zu
sagen, aber die Zunge bog sich in
seinem Munde nach rückwärts, sie zog sich zusammen; plötzlich fiel
sie lang heraus wie ein roter Lappen über seine Unterlippe. Sie war
gelähmt,
und er konnte sie nicht mehr zurückziehen.
Ihre
Stirnen waren kreideweiß. Und darauf sammelte sich in großen Tropfen
der kalte
Schweiß des maßlosen Grauens.
Und
so ging die Nacht dahin in einem phantastischen Halbdunkel, das der
große
versinkende Mond unten auf dem Boden der Kajüte ausstreute. Aber auf
den Händen der
Matrosen erschienen manchmal seltsame Figuren, uralten Hieroglyphen
vergleichbar, Dreiecke, Pentagrammata, Zeichnungen von Gerippen oder
Totenköpfen,
aus deren Ohren große Fledermausflügel herauswuchsen.
Langsam
versank der Mond. Und in dem Augenblick, wo sein riesiges Haupt oben
hinter der
Treppe verschwand, hörten sie aus der Schiffsküche vorn ein trockenes
Ächzen und
dann ganz deutlich ein leises Gemecker, wie es alte Leute an sich
haben, wenn
sie lachen.
Und
das erste Morgengrauen flog mit schrecklichem Fittich über den Himmel.
Sie
sahen sich einander in die aschgrauen Gesichter, kletterten aus ihren
Hängematten, und mit zitternden Gliedern krochen sie alle herauf auf
das
Verdeck.
Der
Gelähmte mit seiner heraushängenden Zunge kam zuletzt herauf. Er wollte
etwas
sagen, aber er bekam nur ein gräßliches Stammeln heraus. Er zeigte auf
seine
Zunge und
machte die Bewegung des Zurückschiebens. Und der eine der Portugiesen
faßte
seine Zunge an mit vor Angst blauen Fingern und zwängte ihm die Zunge
in den
Schlund zurück.
Sie
blieben dicht aneinandergedrängt vor der Schiffsluke stehen und spähten
ängstlich
über das langsam heller werdende Deck. Aber da war niemand. Nur vorn
schaukelte
noch der Ire in seiner Hängematte im frischen Morgenwind, hin und her,
hin und
her, wie eine riesige schwarze Wurst.
Und
gleichsam, wie magnetisch angezogen, gingen sie langsam in allen
Gelenken
schlotternd auf den Schläfer zu. Keiner rief ihn an. Jeder wußte, daß
er keine
Antwort bekommen
würde. Jeder wollte das Gräßliche solange wie möglich hinausschieben.
Und nun
waren sie da, und mit langen Hälsen starrten sie auf das schwarze
Bündel da in der
Matte. Seine wollene Decke war bis an seine Stirn hochgezogen. Und
seine Haare
flatterten bis über seine Schläfen. Aber sie waren nicht mehr schwarz,
sie
waren in dieser Nacht schlohweiß geworden. Einer zog die Decke von dem
Haupte
herunter, und da sahen sie das fahle Gesicht einer Leiche, die mit
aufgerissenen und verglasten Augen in den Himmel starrte. Und die Stirn
und die
Schläfen waren übersät mit roten Flecken, und an der Nasenwurzel
drängte sich
wie ein Horn eine große blaue Beule heraus.
"Das
ist die Pest." Wer von ihnen hatte das gesprochen? Sie sahen sich alle
feindselig an und traten schnell aus dem giftigen Bereich des Todes
zurück.
Mit
einem Male kam ihnen allen zugleich die Erkenntnis, daß sie verloren
waren. Sie
waren in mitleidlosen Händen eines furchtbaren unsichtbaren Feindes,
der sie
vielleicht nur für eine kurze Zeit verlassen hatte. In diesem
Augenblick konnte
er aus dem Segelwerk heruntersteigen oder hinter einem Mastbaum
hervorkriechen;
er konnte in der nämlichen Sekunde schon aus der Kajüte kommen oder
sein schreckliches
Gesicht über den Bord heben, um sie wie wahnsinnig über das Schiffsdeck
zu
jagen.
Und
in jedem von ihnen keimte gegen seine Schicksalsgenossen eine dunkle
Wut, über
deren Grund er sich keine Rechenschaft geben konnte.
Sie
gingen auseinander. Der eine stellte sich neben das Schiffsboot, und
sein
bleiches Gesicht spiegelte sich unten im Wasser. Die andern setzten
sich
irgendwo auf die Bordbank, keiner sprach mit dem andern, aber sie
blieben sich doch
alle so nahe, daß sie in dem Augenblick, wo die Gefahr greifbar wurde,
wieder
zusammenlaufen konnten. Aber es geschah nichts. Und doch wußten sie
alle, es
war da und belauerte sie.
Irgendwo
saß es. Vielleicht mitten unter ihnen
auf dem Verdeck, wie ein unsichtbarer weißer Drache, der mit seinen
zitternden
Fingern nach ihren Herzen tastete und das Gift der Krankheit mit seinem
warmen
Atem über das Deck ausbreitete.
Waren
sie nicht schon krank, fühlten sie nicht irgendwie eine dumpfe
Betäubung und
den ersten Ansturm eines tödlichen Fiebers ? Dem Mann an Bord schien es
so, als
wenn unter ihm das Schiff anfing zu schaukeln und zu schwanken, bald
schnell,
bald langsam. Er sah sich nach den andern um und sah in lauter grüne
Gesichter,
wie sie in Schatten getaucht waren und schon ein schreckliches Blaßgrau
in einzelnen
Flecken auf den eingesunkenen Backen trugen.
Vielleicht
sind die überhaupt schon tot und du bist der einzige, der noch lebt,
dachte er
sich. Und bei diesem Gedanken lief ihm die Furcht eiskalt über den
Leib. Es war,
als hätte plötzlich aus der Luft heraus eine eisige Hand nach ihm
gegriffen.
Langsam
wurde es Tag.
Über
den grauen Ebenen des Meeres, über den Inseln, überall lag ein grauer
Nebel,
feucht, warm und erstickend. Ein kleiner roter Punkt stand am Rande des
Ozeans,
wie ein entzündetes Auge. Die Sonne ging auf.
Und
die Qual des Wartens auf das Ungewisse trieb die Leute von ihren
Plätzen.
Was
sollte nun werden? Man mußte doch einmal heruntergehen, man mußte etwas
essen. Aber
der Gedanke, dabei vielleicht über Leichen steigen zu müssen . . .
Da,
auf der Treppe hörten sie ein leises Bellen. Und nun kam zuerst die
Schnauze
des Schiffshundes zum Vorschein. Nun der Leib, nun der Kopf, aber was
hing an
seinem Maul ? Und ein rauher Schrei des Entsetzens kam aus vier Kehlen
zugleich.
An
seinem Maule hing der Leichnam des alten Kapitäns; seine Haare zuerst,
sein
Gesicht, sein ganzer fetter Leib in einem schmutzigen Nachthemde kam
heraus,
von dem Hunde langsam auf das Deck gezerrt. Und nun lag er oben vor der
Kajütentreppe, aber auf seinem Gesicht brannten dieselben schrecklichen
roten
Flecken.
Und
der Hund ließ ihn los und verkroch sich.
Plötzlich
hörten sie ihn fern in einem Winkel laut murren, in ein paar Sätzen kam
er von
hinten wieder nach vorn, aber als er an dem Großmast vorbeikam, blieb
er plötzlich
stehen, warf sich herum, streckte seine Beine wie abwehrend in die
Luft. Aber
mitleidlos schien ihn ein unsichtbarer Verfolger in seinen Krallen zu
halten.
Die
Augen des Hundes quollen heraus, als wenn sie auf Stielen säßen, seine
Zunge
kam aus dem Maul. Er röchelte ein paarmal, als wenn ihm der Schlund
zugedrückt
würde. Ein letzter Krampf schüttelte ihn, er streckte seine Beine von
sich, er
war tot.
Und
gleich darauf hörte der Franzose den schlürfenden Schritt neben sich
ganz
deutlich, während das Grauen wie ein eherner Hammer auf seinen Schädel
schlug.
Er
wollte seine Augen schließen, aber es gelang ihm nicht. Er war nicht
mehr Herr
seines Willens.
Die
Schritte gingen geradeswegs auf das Deck, auf den Portugiesen zu, der
sich
rücklings gegen die Schiffswand gelehnt hatte und seine Hände wie
wahnsinnig in
die Bordwand krallte.
Der
Mann sah offenbar etwas. Er wollte fortlaufen, er schien seine Beine
mit Gewalt
vom Boden reißen zu wollen, aber er hatte keine Kraft. Das unsichtbare
Wesen
schien ihn
anzufassen. Da riß er gleichsam wie im Übermaß seiner Anstrengung seine
Zähne
auseinander, und er stammelte mit einer blechernen Stimme, die wie aus
einer
weiten Ferne heraufzukommen schien, die Worte: "Mutter, Mutter."
Seine
Augen brachen, sein Gesicht wurde grau wie Asche. Der Krampf seiner
Glieder
löste sich. Und er fiel vornüber, und er schlug schwer mit der Stirn
auf das
Deck des Schiffes.
Das
unsichtbare Wesen setzte seinen Weg fort, er hörte wieder die
schleppenden
Schritte. Es schien auf die beiden Engländer loszugehen. Und das
schreckliche
Schauspiel wiederholte sich noch einmal. Und auch hier war es wieder
derselbe
zweimalige Ruf, den die letzte Todesangst aus ihrer Kehle preßte, der
Ruf: „Mutter,
Mutter“ in dem ihr Leben entfloh.
Und
nun wird es zu mir kommen, dachte der Franzose. Aber es kam nichts,
alles blieb
still. Und er war allein mit den Toten.
Der
Morgen ging dahin. Er rührte sich nicht von seinem Fleck. Er hatte nur
den
einen Gedanken, wann wird es kommen. Und seine Lippen wiederholten
mechanisch immerfort
diesen kleinen Satz: „Wann wird es kommen, wann wird es kommen?“
Der
Nebel hatte sich langsam verteilt. Und die Sonne, die nun schon nahe am
Mittag
stand, hatte das Meer in eine ungeheure strahlende Fläche verwandelt,
in eine ungeheure
silberne Platte, die selber wie eine zweite Sonne ihr Licht in den Raum
hinausstrahlte.
Es
war wieder still. Die Hitze der Tropen brodelte überall in der Luft.
Die Luft
schien zu kochen. Und der Schweiß rann ihm in dicken Furchen über das
graue
Gesicht. Sein Kopf,
auf dessen Scheitel die Sonne stand, kam ihm vor wie ein riesiger roter
Turm,
voll von Feuer. Er sah seinen Kopf ganz deutlich von innen heraus in
den Himmel
wachsen. Immer höher und immer heißer wurde er innen. Aber drinnen,
über eine
Wendeltreppe, deren letzte Spiralen sich in dem weißen Feuer der Sonne
verloren, kroch ganz langsam eine schlüpfrige weiße Schnecke. Ihre
Fühler
tasteten sich in den
Turm herauf, während ihr feuchter Schweif sich noch in seinem Halse
herumwand.
Er
hatte die dunkle Empfindung, daß es doch eigentlich zu heiß wäre, das
könnte
doch eigentlich kein Mensch aushalten. Da — bum — schlug ihm jemand mit
einer
feurigen Stange auf den Kopf, er fiel lang hin. Das ist der Tod, dachte
er. Und
nun lag er eine Weile auf den glühenden Schiffsplanken.
Plötzlich
wachte er wieder auf. Ein leises dünnes Gelächter schien sich hinter
ihm zu
verlieren. Er sah auf, und da sah er: das Schiff fuhr, das Schiff fuhr,
alle
Segel waren besetzt.
Sie bauschten sich weiß und blähend, aber es ging kein Wind, nicht der
leiseste
Hauch. Das Meer lag spiegelblank, weiß, eine feurige Hölle. Und in dem
Himmel
oben, im Zenith, zerfloß die Sonne wie eine riesige Masse weißglühenden
Eisens.
Überall troff sie über den Himmel hin, überall klebte ihr Feuer, und
die Luft
schien zu brennen. Ganz in der Ferne, wie ein paar blaue Punkte, lagen
die Inseln,
bei denen sie geankert hatten.
Und
mit einem Male war das Entsetzen wieder oben, riesengroß wie ein
Tausendfüßler,
der durch seine Adern lief und sie hinter sich erstarren machte, wo er
mit dem Gewimmel
seiner kalten Beinchen hindurchkam.
Vor
ihm lagen die Toten. Aber ihr Gesicht stand nach oben. Wer hatte sie
umgedreht?
Ihre Haut war blaugrün. Ihre weißen Augen sahen ihn an. Die beginnende
Verwesung hatte
ihre Lippen auseinandergezogen und die Backen in ein wahnsinniges
Lächeln
gekräuselt. Nur der Leichnam des Iren schlief ruhig in seiner
Hängematte. Er versuchte,
sich langsam an dem Schiffsbord in die Höhe zu ziehen, gedankenlos.
Aber
die unsagbare Angst machte ihn schwach und kraftlos. Er sank in seine
Knie. Und
jetzt wußte er, jetzt wird es kommen. Hinter dem Mastbaum stand etwas.
Ein schwarzer
Schatten. Jetzt kam es mit seinem schlürfenden Schritte über Deck.
Jetzt stand
es hinter dem Kajütendache, jetzt kam es hervor. Eine alte Frau in
einem
schwarzen altmodischen Kleid, lange weiße Locken fielen ihr zu beiden
Seiten in
das blasse, alte Gesicht. Darin steckten ein paar Augen von
unbestimmter Farbe
wie ein paar Knöpfe, die ihn unverwandt ansahen. Und überall war ihr
Gesicht
mit den
blauen und roten Pusteln übersät, und wie ein Diadem standen auf ihrer
Stirn
zwei rote Beulen, über die ihr weißes Großmutterhäubchen gezogen war.
Ihr
schwarzer Reifrock knitterte, und sie kam auf ihn zu. In einer letzten
Verzweiflung richtete
er sich mit Händen und Füßen auf. Sein Herz schlug nicht mehr. Er fiel
wieder
hin.
Und
nun war sie schon so nahe, daß er ihren Atem wie eine Fahne aus ihrem
Munde
wehen sah.
Noch
einmal richtete er sich auf. Sein linker Arm war schon gelähmt. Etwas
zwang ihn
stehenzubleiben, etwas Riesiges hielt ihn fest. Aber er gab den Kampf
noch
nicht auf. Er drückte es mit seiner rechten Hand herunter, er riß sich
los.
Und
mit schwankenden Schritten, ohne Besinnung, stürzte er den Bord
entlang, an dem
Toten in der Hängematte vorbei, vorn, wo die große Strickleiter vom
Ende des
Bugspriets zu dem vordersten Mäste herauflief.
Er
kletterte daran herauf, er sah sich um.
Aber
die Pest war hinter ihm her. Jetzt war sie schon auf den untersten
Sprossen. Er
mußte also höher, höher. Aber die Pest ließ nicht los, sie war
schneller wie
er, sie mußte
ihn einholen. Er griff mit Händen und Füßen zugleich in die Stricke,
trat da
und dorthin, geriet mit einem Fuße durch die Maschen, riß ihn wieder
heraus,
kam oben an. Da war die Pest noch ein paar Meter entfernt. Er kletterte
an der
höchsten Rahe entlang. Am Ende war ein Seil. Er kam an dem Ende der
Rahe an.
Aber wo war das Seil? Da war leerer Raum.
Tief
unten war das Meer und das Deck. Und gerade unter ihm lagen die beiden
Toten.
Er
wollte zurück, da war die Pest schon am andern Ende der Rahe.
Und
nun kam sie freischwebend auf dem Holze heran wie ein alter Matrose mit
wiegendem Gang.
Nun
waren es nur noch sechs Schritte, nur noch fünf. Er zählte leise mit,
während
die Todesangst in einem gewaltigen Krampf seine Kinnbacken
auseinanderriß, als wenn
er gähnte. Drei Schritte, zwei Schritte.
Er
wich zurück, griff mit den Händen in die Luft, wollte sich irgendwo
festhalten,
überschlug sich und stürzte krachend auf das Deck, mit dem Kopf zuerst
auf eine eiserne
Planke. Und da blieb er liegen mit zerschmettertem Schädel.
Ein
schwarzer Sturm zog schnell im Osten über dem stillen Ozean auf. Die
Sonne
verbarg sich in den dicken Wolken, wie ein Sterbender, der ein Tuch
über sein
Gesicht zieht. Ein paar große chinesische Dschunken, die aus dem
Halbdunkel
herauskamen, hatten alle Segel besetzt und fuhren rauschend vor dem
Sturme
einher mit brennenden Götterlampen und Pfeifengetön. Aber an ihnen
vorbei fuhr das
Schiff riesengroß wie der fliegende Schatten eines Dämons. Auf dem Deck
stand
eine schwarze Gestalt. Und in dem Feuerschein schien sie zu wachsen,
und ihr Haupt
erhob sich langsam über die Masten, während sie ihre gewaltigen Arme im
Kreise
herumschwang gleich einem Kranich gegen den Wind. Ein fahles Loch tat
sich auf
in den Wolken. Und das Schiff fuhr geradeswegs hinein in die
schreckliche
Helle.