Ein
Nachmittag
Beitrag
zur Geschichte eines kleinen Jungen
Die
Straße kam ihm vor wie ein langer Strich, die Leute, die an ihm
vorübergingen,
schienen ihm wie lauter aufgeblasene weiße Puppen. Was wußten sie auch
von
seiner Seligkeit.
Er hatte sie gefragt: "Darf ich Sie küssen?", der kleine Junge, und
sie hatte
ihm ihren Mund hingehalten, und er hatte sie geküßt. Und dieser Kuß
brannte ihm
tief in das Herz hinein, wie eine große reine Flamme, die ihn erlöste,
die ihn
glücklich machte, die ihn selig machte. Götter, er hätte tanzen mögen
vor
Seligkeit. Und der Himmel
lief über ihn dahin wie eine große, blaue Straße, das Licht reiste nach
Westen
wie ein feuriger Wagen, und alle die glühenden Häuser schienen sein
glühendes
Feuer widerzustrahlen.
Er
hatte das Gefühl eines starken brausenden Lebens, als hätte er noch nie
so
gelebt, als schwämme er wie ein Vogel hoch in der Luft, versunken in
ewigem
Äther, grenzenlos glücklich, grenzenlos einsam.
Und
das unsichtbare Diadem der Glückseligkeit lag auf seiner eckigen
Kinderstirn
und verschönte sie, wie eine nächtliche Landschaft unter dem weiten
Aufbrechen
eines Blitzes.
„Götter,
ich werde geliebt, ich werde geliebt, wie man mich nur lieben kann.“ Er
ging
schneller, er kam ins Laufen, als wäre die gewöhnliche, gemessene
Bewegung zu
langsam für den Sturm, der in seinem Herzen brauste. Und so rannte er
die
Straße herab zum Strande und setzte sich an das Meer.
„O
Meer, Meer!“ und er erzählte dem Meer sein Erlebnis, in einem kurzen
Jauchzen,
in einem zitternden Flüstern, in dem Taumel einer stummen Sprache. Und
das Meer verstand
ihn und hörte ihm zu, das Meer, auf dessen blauer dröhnender Weite seit
so vielen
Jahrtausenden der Orkan der Freude und das Lallen der Qualen
widerhallte, wie
ein ewiger Wirbelsturm über einer ewig unberührten Tiefe.
Er
behütete ängstlich seine Einsamkeit. Wenn Menschen kamen, sprang er
auf, lief
er davon und kroch in die Dünen. Waren sie vorbei, so lief er wieder
hervor ans
Meer, dessen gewaltige Weite der einzige Becher war, in den er die Flut
seines
unendlichen Übermaßes fortgeben konnte.
Allmählich
wurde der Strand belebter. Allenthalben blinkten weiße Kleider zwischen
den Strandkörben
vor, alte Damen kamen mit Büchern unter dem Arm. Helle Sonnenschirme
wippten
auf den schmalen Holzgängen, und die Kinder füllten wieder scharenweise
die
Sandburgen. Ruderboote fuhren aus, an den großen Segelkähnen wurden die
Segel
gehißt. Ein Photograph watete durch den Sand mit dem Kasten am Riemen
über der
Schulter.
Er
sah nach der Uhr. Noch eine halbe Stunde, noch neunundzwanzig Minuten,
dann wird
er sie treffen. Er wird sie an der Hand nehmen, sie werden zusammen in
den Wald
gehen, da, wo es ganz still ist. Und sie werden sich zusammen
hinsetzen, Hand
in Hand, verborgen im grünen Dickicht.
Aber
was soll er zu ihr reden, damit sie ihn nicht langweilig findet. Denn
sie ist
schon wie eine kleine Dame, man muß sie unterhalten, man muß Witze
machen.
Was
soll er bloß zu ihr reden.
Ach,
er wird überhaupt nichts sprechen, sie wird ihn auch so verstehen. Sie
werden
sich in die Augen sehen, die werden sich genug sagen.
Und
dann wird sie ihm wieder ihren Mund hinhalten, er ihren Kopf leise in
seinen
Arm nehmen, so, so — er probierte es an einer Ginsterstaude —, und dann
wird er sie
küssen, ganz leise, ganz zart.
Und
so werden sie beieinander sitzen im Walde, beieinander, bis es dunkel
wird; o
wie schön, wie schön, wie unermeßlich selig.
Sie
werden sich nie mehr verlassen. Er wird immer arbeiten, dann wird er
schnell
studieren, und eines Tages wird er sie heiraten. Und das Leben erschien
dem
Kinde wie
eine klare gerade Straße, die in einem Himmel von ewiger Bläue zieht,
kurz,
einfach, ohne Ereignisse, wie ein ewiger Garten.
Er
stand auf und ging über den Strand durch die spielenden Kinder, die
Leute und
die Strandkörbe hin. Ein Dampfer legte an, ein Strom von Menschen
schwoll auf
die Landungsbrücke zu. Es wurde geläutet. Er bemerkte nichts von
alledem,
alles, was sonst seine Aufmerksamkeit gefesselt hatte, war
verschwunden. Sein
Auge war nach innen gerichtet, als müßte er alle seine Zeit darauf
verwenden,
den neuen Menschen zu studieren, der da mit einem Male aus seinem
verschlossenen Kern gekrochen war.
Er
kam an die Bank, wo er seine kleine Freundin treffen wollte; sie war
noch nicht
da.
Aber
es war ja auch noch zu früh. Es fehlten ja noch zehn Minuten. Sie mußte
wahrscheinlich
erst noch Kaffee trinken, sicher hatte sie ihre Mutter noch nicht
fortgelassen.
Er
setzte sich einige Minuten auf die Bank, stand dann wieder auf, lief
einige
Male in dem kleinen Baumrondell hin und her. Jetzt fehlten noch zwei
Minuten,
jetzt mußte sie doch eigentlich schon zu sehen sein. Er schaute den Weg
herunter nach ihr aus. Aber der Weg blieb leer. Seine Bäume verbargen
niemand.
Sie standen sanft vergoldet von der Nachmittagssonne ruhig in der
Windstille,
und durch ihr Laub zitterte das Licht auf den Weg, wie auf den Grund
eines
goldenen Baches. Der Laubgang war wie eine große, grüne, stille Halle,
und
hinten in seinem Tore zitterte ein kleiner, blauer Streifen, fern wo
Meer und
Himmel ineinander verflossen.
Er
zitterte. Er fühlte, wie sich etwas in ihm zusammenzog. "Warum kommt
sie
nicht, warum kommt sie nicht?
Ach,
ist das nicht ihr Hut, ist das nicht das weiße Band ? Das ist sie, das
ist sie."
Und
das Tor seiner Seele sprang auf, er fühlte sich wie von einem Sturme
geschüttelt, er lief ihr entgegen. Als er näher kam, sah er, daß er
sich
getäuscht hatte. Das war sie ja gar nicht, das war ja jemand anderes.
Und in
demselben Augenblick war ihm, als würde etwas in ihm erstickt, als
sollte er
erwürgt werden.
Er
hatte plötzlich dasselbe Gefühl, das er einmal gehabt hatte, als er aus
einem
Hause geführt wurde, in dem er an einem Totenbette gestanden hatte:
eine Art
Ekel oder Widerwillen vor sich selbst. Dieses eigentümliche besondere
Gefühl
bemächtigte sich seiner immer dann, wenn ihm etwas Unangenehmes
entgegentrat,
dem er nicht ausweichen konnte, eine
mathematische Arbeit, eine Zensur.
Aber
so stark wie eben hatte er es noch nicht gefühlt. Er konnte es beinahe
auf der
Zunge schmecken, bitter, wie etwas Graues.
Sein
Blut schien zu stocken; ihn überkam eine Trägheit, die ihm unheimlich
war. Seine
Stirn war klein und grau, als hätte jemand sie mit dem Schatten seiner
Hand
bedeckt.
Er
ging langsam nach dem Rondell zurück. „Aber sie wird noch kommen,
gewiß.“ Sie
konnte sich ja verspäten.
Wenn
sie nur noch käme. Seinethalben konnte sie ja eine Viertelstunde zu
spät kommen,
wenn sie nur überhaupt käme.
Er
sah wieder nach der Uhr. Die Zeit war vorbei, und der Sekundenzeiger
lief immer
weiter hinaus wie eine kleine dünne Spinne in einem silbernen Käfig.
Ihr
kleiner Fuß trat
auf die Sekunden, die in kleinen Strichen hinter ihr hinfielen, wie
eine Art
winzigen Staubes auf einer winzigen Landstraße.
Nun
waren schon vier Minuten vorbei, nun schon fünf. Und der Minutenzeiger
stieg
immer weiter auf den Stufen seiner kleinen Treppe herauf. Er wollte ihr
entgegengehen.
Aber, wenn sie nun von der andern Seite käme, was dann? Und er
schwankte,
sollte er bleiben, sollte er gehen? Aber seine Unrast trieb ihn fort.
Er lief
wieder einige Schritte den Weg herunter, dann blieb er wieder stehen,
er kehrte wieder
um.
Er
setzte sich auf die Bank, sah vor sich hin. Und mit jeder Minute verlor
sich
seine Zuversicht mehr. Bis um fünf Uhr wollte er noch warten,
vielleicht käme
sie noch.
Aus
der Ferne hätte man ihn für einen alten Mann halten können, wie er
dasaß.
Gekrümmt, in sich verkrochen wie jemand, über den viele Jahre Kummers
dahingegangen sind.
Er
stand noch einmal auf und ging langsam noch ein paar Schritte über den
Schauplatz
seiner kindlichen Tragödie.
Von
fern hörte er eine Uhr schlagen, aber das war noch zu früh. Er verglich
sie mit
seiner Taschenuhr. Sicher, die dort schlug zu früh. Es fehlten noch
drei
Minuten
an
fünf.
Und
in diesen drei Minuten bäumte sich noch einmal die Hoffnung in seinem
Herzen
auf, die Sehnsucht, wie eine sterbende Flamme aus einem verlöschenden
Brande, wie
das Fanal des Lebens aus dem letzten Herzschlag eines Sterbenden.
Jetzt,
jetzt war es soweit. Jetzt schlugen alle Türme aus der Stadt hinter dem
Walde.
Er sah eine Glocke schwingen in der klaren Luft, oben im Schalloch
eines
Kirchturms.
Und
bei jedem dieser dröhnenden Schläge war es ihm, als würde ihm langsam,
ruckweise, um seine Qual zu verlängern, das Herz aus der Brust
gerissen. So,
so, jetzt wird es bald draußen sein, dachte er.
Die
Türme schwiegen, es wurde wieder still. Und in seiner Brust wurde es
ganz leer,
es war ihm, als wäre darin ein großes hohles Loch, als trüge er etwas
Totes in
sich herum.
Es
kam ihm so vor, als hätte ihm jemand etwas Dumpfes in sein Blut
gegossen. Davon
wurde sein Kopf so schwer, davon wurde er so müde.
Über
einem sonnigen Teich, der durch die Bäume der Anlagen
herüberschimmerte,
zeigten sich einige Rauchwolken aus dem Schornstein des Badehauses. Sie
verflogen im
Wind. Er sah ihnen teilnahmslos nach, wie sie im Lichte zergingen. Ein
paar
Stimmen wurden hinter den Büschen laut. Ein paar Kindermädchen kamen,
die die
Kinderwagen vor sich herschoben.
Sie
setzten sich ihm gegenüber auf die Bank im Rondell, sie hoben die
Kinder aus
dem Wagen, die sogleich über einen Sandhaufen purzelten.
Da
stand er auf und ging fort, langsam, gedankenlos. Er kam wieder an den
Strand
herunter. Er ging wieder durch die Strandkörbe. Da saßen noch die alten
Damen mit
ihren Büchern, da stand der Photograph vor einer Gruppe von Menschen.
Er mußte
wohl einen Witz gemacht haben, denn alle hatten lachende Gesichter.
Er
wurde von seiner Leidenschaft nach dem Strandkorbe hinübergetrieben, in
dem er
am Mittag den Kuß bekommen hatte, wie ein kleines Schiff, das der Sturm
erbarmungslos auf einen Felsen jagt.
Vielleicht
saß sie darin. Das war seine letzte Hoffnung. Er schlich sich
vorsichtig
zwischen den Strandkörben durch, immer näher. Und die rote Fahne schien
ihn von
dem Dache heranzuwinken.
Nun
war er ganz nahe. Eine ungewisse Angst hieß ihn stehenbleiben. Da hörte
er ihre
Stimme. Sie lachte. Und nun wieder eine andere Stimme, das war eine
Knabenstimme.
Er
schlich vorsichtig weiter in einem Bogen herum. Er warf sich in den
Sand und
kroch auf allen vieren vorwärts. Als er so weit war, daß er sie sehen
konnte,
legte er sich hinter einen Sandhügel und hob den Kopf etwas über den
Rand
herauf.
Da
saß sie auf dem Schoß eines Jungen. Der Junge bog ihren Kopf herunter,
gab ihr
einen Kuß, dann ließ er ihn los. Seine Hand griff nach ihrem Bein, und
fuhr
langsam daran
hinauf. Und sie lehnte sich an die Schulter des Jungen, weit zurück.
Der
kleine Junge zog seinen Kopf wieder zurück und kroch davon, mechanisch
ein Bein
hinter dem andern, eine Hand hinter der andern.
Er
empfand eigentlich nichts, keinen Schmerz, keine Qual. Er hatte nur den
einzigen Wunsch, sich zu verstecken, irgendwo hinkriechen und dann ganz
stilliegen, irgendwo sich einen kleinen Fleck suchen im Strandhafer.
Als
er weit genug war, erhob er sich aus dem Sand, ging er fort.
Auf
seinem Wege traf er einen Schulkameraden, er verkroch sich hinter einem
Zelt
vor ihm. Von rechts kam seine Mutter und rief ihn herüber. Er tat, als
hätte er
nichts gehört.
Er begann zu laufen, über die Strandkörbe und über die Menschen hinaus.
Und bei
seinem Laufen kam ihm plötzlich der Gedanke, daß er heute schon einmal
so gelaufen
war, mittags, als er so glücklich gewesen war.
Da
übermannte ihn die Qual. Er rettete sich schnell die Dünen herauf. Oben
warf er
sich hin, das Gesicht in den Halmen. Der Strandhafer nickte über seinem
Kopf
wie ein Wald, ein paar Libellen kamen summend durch die Halme.
Und
das war das erstemal im Leben des Knaben, daß er an einem Tage den
Becher der Seligkeit
und den der Qual trank, er, der verurteilt war, noch oft von den
Extremen der
tiefsten Qualen und des wildesten Glückes erschüttert zu werden, wie
ein
kostbares Gefäß, das durch viele glühende Flammen gewandert sein muß,
ohne zu
zerspringen.