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"Verzweiflung",
Ludwig Meidner
(Ausschnitt), 1914, "Ludwig
Meidner Archiv, Jüdisches
Museum der Stadt Frankfurt a. M.
04.3
Prosadichtungen und Schriften
Georg Heym
Die
Pest
Mit
einem Schlage brach die Pest aus. Keiner wußte,
woher sie gekommen war, keiner wußte, in welchem Hause sie ausgebrochen
war.
Die
Europäer merkten es zuerst daran, daß die roten
chinesischen Totenlampen in einer Nacht viel zahlreicher als sonst vor
den
kleinen Schuppen brannten, die die Himmelsstraße umrahmten, die wie
eine breite
weiße helle Straße durch das Gewirr zahlloser dunkler Gassen der
Eingeborenenstadt Charbin hindurchlief.
Einem
russischen Oberst passierte es, daß der
Kutscher seiner Troika plötzlich im Fahren hintenüberfiel, in den
Schlitten
hinein, gerade auf den dicken Bauch des Obersten. Und als der Oberst
seine
Knute nehmen wollte, um den betrunkenen Kutscher zur Vernunft zu
bringen, sah
er in ein paar glasige Augen, die der Schrecken des Todes weit
aufgerissen
hatte. Und ein schrecklicher Atem des Todes quoll ihm aus dem weit
offenstehenden Munde entgegen. Der Kutscher röchelte noch einige mal
schwer im
Stroh des Schlittens, dann richtete er sich mit einer letzten
Anstrengung halb
auf, schluckte ein paarmal, und dann spie er auf den grauen Pelz des
Obersten
eine schwarze, dicke Blutwolke, einen großen, breiten giftigen Brodem,
seine
ganze Lunge entleerte sich in dieser schwarzen Masse. Und er fiel in
das
blutige Stroh des Schlittens zurück.
Das
Blut gefror sofort auf den Handschuhen, und dem
dicken Pelz des Obersten.
Der
Oberst war in das Kasino seines Regiments
gekommen, außer sich, er hatte alle Leute von sich gejagt, er schrie
wie ein
Wahnsinniger in einem fort. Die Ekstase des Schreckens hatte ihn
übermannt.
Nach einer halben Stunde war er quer über den Eßtisch hingeschlagen, er
hatte
im Fallen das ganze Tischtuch mit sich gerissen, und das Blut, das ihm
aus der
Lunge ausbrach, vermischte sich mit den Speisen, die lustig in dieser
warmen
Brühe umherschwammen.
Als
die
Offiziere ihn hinfallen sahen, wichen sie alle zurück, keiner rührte
ihn an,
einer drängte den andern heraus. Draußen stürzten sie sich auf ihre
Schlitten,
und fuhren davon; sie ließen ihre Kutscher auf die Pferde einschlagen,
um dem
Tode einen Vorsprung abzugewinnen, der hinter ihnen herjagte, auf einem
schwarzen Klepper, dessen Geschirr wie kleine Glocken in ihren Ohren
klingelte.
Keiner sah sich nach dem andern um, alle waren stumm vor Entsetzen. Und
wo ihre
Schlitten auf dieser verzweifelten Jagd durchkamen, da sahen sie Tote
liegen,
die eben gefallen waren, krepiert auf der Straße, mitten auf der Straße
krepiert, und die Schlitten fuhren drüber hin, und das Blut der
Gefallenen
spritzte an den Kufen aus. Gegen den Abend, um fünf Uhr waren die
Straßen Charbins
wie ausgestorben.
Kein
Schlitten fuhr mehr über den Korso, keine
russische Uniform zeigte sich mehr. Keine von den Weibern aus dem
Tingeltangel
ließ sich mehr sehen. Und in dem weißgelben Abendhimmel, der vor Kälte
zitterte, erschien wie eine schwarze Wolke das Haupt der Pest, das mit
einem
unhörbar grausigen Lachen Besitz nahm von Charbin, dem großen Charbin,
der
Metropole der Steppen, dem lustigen Paradiese des Lasters.
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