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Literatur

"Verzweiflung", Ludwig Meidner (Ausschnitt), 1914, "Ludwig Meidner Archiv, Jüdisches Museum der Stadt Frankfurt a. M.
       
04.3


Aus den Tagebüchern
 Georg Heym

Viertes Tagebuch



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Viertes Tagebuch


5.IX 1911
Manchmal aber kann ich nicht mehr.

Und die Tränen
Pest.
 
Ich bin durch die Wildnis 
      gelaufen 
durch den herbstlichen Wald. 
Bis ich in eine öde Ebene kam 
wo niemand war, 
      als die Sonne, wie ein bleiches Licht.
steht die Qual in mir auf 
wie ein gewaltiges Tier 
Das hinaus will aus mir 
Denn es fraß mich schon leer

Ein Vogel flog über mir.
Ich begrub mein Gesicht in den Sand

und hörte in meine Tränen,

wie der Abendwind über die klingenden Gräser zog.
 

Ich kann keinen bürgerlichen Beruf haben, denn ich habe den, zu lieben.
 
 
15.9.1911.
Man könnte vielleicht sagen, daß meine Dichtung der beste Beweis eines metaphysischen Landes ist, das seine schwarzen Halbinseln weit herein in unsere flüchtigen Tage streckt.
 
Mein Gott – ich ersticke noch mit meinem brachliegenden Enthousiasmus in dieser banalen Zeit. Denn ich bedarf gewaltiger äußerer Emotionen, um glücklich zu sein. Ich sehe mich in meinen wachen Phantasieen, immer als einen Danton, oder einen Mann auf der Barrikade, ohne meine Jacobinermütze kann ich mich eigentlich garnicht denken. Ich hoffte jetzt wenigstens auf einen Krieg. Auch das ist nichts.
 
Mein Gott, wäre ich in der französischen Revolution geboren, ich hätte wenigstens gewußt, wo ich mit Anstand hätte mein Leben lassen können, bei Hohenlinden oder Jémappes.
 
Alle diese Jentsch, u. Koffka, alle diese Leute können sich in diese Zeit eingewöhnen, sie alle, Hebbelianer, Leute des Innern, können sich schließlich in jeder Zeit zurecht finden, ich aber, der Mann der Dinge, ich, ein zerrissenes Meer, ich immer in Sturm, ich der Spiegel des Außen, ebenso wild und chaotisch wie die Welt, ich leider so geschaffen, daß ich ein ungeheures, begeistertes Publikum brauche um glückselig zu sein, krank genug, um mir nie selbst genug zu sein, ich wäre mit einem Male gesund, ein Gott, erlöst, wenn ich irgendwo eine Sturmglocke hörte, wenn ich die Menschen herumrennen sähe mit angstzerfetzten Gesichtern, wenn das Volk aufgestanden wäre, und eine Straße hell wäre von Pieken, Säbeln, begeisterten Gesichtern, und aufgerissene Hemden.
 
Wie gut haben es die Contemplativen, die Unlebendigen, Leute eben wie Jentzsch u. Koffka, die genug Leben aus ihrer Seele ziehen können.
 
Vielleicht irre ich mich hier, ich kann das ja auch, – aber – sie sind dabei glücklich, und ich nicht. (Denkfehler, aufsuchen)
 
Man vergleiche doch ihre Gesichter, wie friedlich sie aussehen und das meine, auf dem Qual, Laster, Verzweiflung, Enthousiasmus alles mögliche stündlich tausend mal herüberfahren.
 
 
27.9.1911
Der Jambus ist eine Lüge. Mindestens eine lateinische Form, »Durchsichtiges, vierkantiges« ist eine Kette am Gedanken. In einer großen Curve bin ich dahin zurück gekehrt, wo ich einst ausging, wie jemand der in den Windungen einer Bergstraße geht, und plötzlich an der selben Stelle des Berges steht, nur eben um einen weiten Abhang höher.
 
Der gezwungene Reim ist eine Gotteslästerung, ich bin wieder bei meinen allerersten Gedichten, wie.: Das alte Haus: auch rote Lichter flammen. O einmal Mensch sein dürfen. – (. . .)

 

9.10.11.
Ich weiß nicht mehr, wo mein Weg hingeht. Früher war alles klar, einfach. Jetzt ist alles dunkel, auseinander, zerstreut.
 
Eine solche Mischung wie ich ist sicher noch nirgends dagewesen, von rechts wegen müßte das unmittelbar zum Wahnsinn führen. Am liebsten wäre ich, man denke sich, Kürassierleutnant, – heute – und morgen wäre ich am liebsten Terrorist. Und nun denke man sich das nicht etwa fein säuberlich getrennt, sondern wie ein wirrer Knäuel durcheinander. Es hätte für mich nur einen Platz gegeben, wo ich mich wohlgefühlt hätte, ich hätte ein Kaiser sein müssen.
 
Ich habe Talent zur fröhlichsten Kameradschaft, zur dollsten Sauferei, zum Geschwätz mit Weibern, und 5 Minuten darauf bin ich totunglücklich, leer, hohl, verlassen – und dann bin ich auf einmal wieder Künstler. – Und nun soll ich mir aus mir ein Bild machen, was für mich das beste ist.
 
 
3.11.11.
Einem Litteraturhistoriker muß es von großem Interesse sein, später einmal meinen Wegen nachzugehen. Ich glaube, er wird da viel interessantes finden. Nur eines: Ich wäre einer der größten Dichter geworden, wenn ich nicht einen solchen schweinernen Vater gehabt hätte. In einer Zeit, wo mir verständige Pflege nötig war, mußte ich alle Kraft aufwenden, um diesen Schuft von mir fern zu halten. Wenn man mir nicht glaubt, so frage man meine Mutter nach meiner Jugend.
 
 
10.11.11.
Mit wem kämpfe ich eigentlich? Wo ist dieses Scheusal, das sich mir niemals stellt? Vielleicht giebt es Menschen, die durch einen Irrtum des Schicksals in eine falsche Zeit gestellt worden sind. Die Natur kann also irren.
 
 
Verstreute Tagebuchaufzeichnungen
 
15.11.1911   Mittwoch Abend. 15. Ankunft München
 
Donnerstag. Greco. Goya (Pute) Rembrandt: Grablegung.
 
Baldung.  Ruysdaal Wandernde. Altdorfer: Krieg. Wald.
 
Greco: Der Inquisitor.
 
Nachmittag Isartal.
 
Abends  Das interessanteste Gespräch mit Erika.
Handgelenke. 100jährige Verkörperung. Erdbeben.
 
 
20.11.11.
Jetzt habe ich den Kampf. Denn meine Phantasie ist gegen mich aufgetreten und will nicht mehr wie ich will. Meine Phantasie, meine Seele, sie haben Angst und rennen wie verzweifelt in ihrem Käfig. Ich kann sie nicht mehr fangen. Wo ist die göttliche Ruhe des Tages, der Ophelia, des Fieberspitals.
 
Ich verbiege Jentzsch u. Hoddis alles. Hoddis, Jentsch verbiegen mir alles. Jentsch, ich, verbiegen Hoddis alles.
 
Der Irrsinn der Natur, uns 3 auf einen Klumpen zu werfen. Ich hätte am Äquator, Jentsch am Südpol, Hoddis am Nordpol wohnen müssen. Oder besser auf drei um Ewigkeiten getrennten Sternen.






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