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Literatur


04.3


Geschichten - Joseph Roth
Werke 4
1916-1929

Romane und Erzählungen






Der Vorzugsschüler 1
1916

 
Des Briefträgers Andreas Wanzls Söhnchen Anton, hatte das merkwürdigste Kindergesicht von der Welt. Sein schmales, blasses Gesichtchen mit den markanten Zügen, die eine gekrümmte, ernste Nase noch verschärfte, war von einem äußerst kargen, weißgelben Haatrschopf gekrönt. Eine hohe Stirn thronte enrfurchtsgebietend über dem kaum sichtbaren weißen Brauenpaar, und darunter sahenzwei blaßblaue, tiefe Äuglein sehr altklug und ernst in die Welt. Ein Zug der Verbissenheit trotzte in den schmalen, blassen, zusammengepreßten Lippen, und ein schönes, regelmäßiges Kinn bildete einen imposanten ABschluß des Gesichtes. Der Kopf stak auf einem dünnen Halse, sein ganzer Körperbau war schmächtig und zart. Zu seiner Gestalt bildeten nur die starken roten Hände, die an den dünn-gebrechlichen Hangelenken wie lose angeheftet schlenkerten, einen sonderbaren Gegensatz. Antwon Wanzl war stets nett und reinlich gekleidet. Kein Stäubchen auf seinem Rock, kein winziges Loch im Strumpf, keine Narbe, kein Ritz auf dem glatten, blassen Gesichtchen. Anton Wanzl spielte selten, raufte nie mit den Buben und stahl keine roten Äpfel aus Nachbars Garten. Antwon Wanzl lernte nur. Er lernte vom Morgen bis spät in die Nacht. Seine Bücher und Hefte waren fein säuberlich in knatterndes weißes Packpapier gehüllt, auf dem ersten Blatte stand in der für ein Kind seltsam kleinen, netten Schrift sein Name. Seine glänzenden Zeugnisse lagen feierlich gefaltet in einem großen ziegelroten Kuvert dicht nebem dem Album mit den wunderschönsten Briefmarken, um die Antwon noch mehr als um seine Zeugnisse beneidet wurde.
 
Anton Wanzl war der ruhigste Junge im ganzen Ort. In der Schule saß er still, die Arme nach Vorschrift »verschränkt«, und starrte mit seinen altklugen Äuglein auf den Mund des Lehrers. Freilich war er Primus.
 
Ihn hielt man stets als Muster der ganzen Klasse vor, seine Schulhefte wiesen keinen roten Strich auf, mit Ausnahme der mächtigen I, die regelmäßig unter allen Arbeiten prangte. Anton gab ruhige, sachliche Antworten, war stets vorbereitet, nie krank. Auf seinem Platz in der Schulbank saß er wie angenagelt. Am unangenehmsten waren ihm die Pausen. Da mußten alle hinaus, das Schulzimmer wurde gelüftet, nur der „Aufseher“ blieb. Anton aber stand draußen im Schulhof, drückte sich scheu an die Wand und wagte keinen Schritt, aus Furcht, von einem der rennenden, lärmenden Knaben umgestoßen zu werden.
 
Aber wenn die Glocke wieder läutete, atmete Anton auf. Bedächtig, wie sein Direktor, schritt er hinter den drängenden, polternden Jungen einher, bedächtig setzte er sich in die Bank, sprach zu keinem ein Wort, richtete sich kerzengerade auf und sank automatenhaft wieder auf den Platz nieder, wenn der Lehrer „Setzen!“ kommandiert hatte.
 
Anton Wanzl war kein glückliches Kind. Ein brennender Ehrgeiz verzehrte ihn. Ein eiserner Wille zu glänzen, alle seine Kameraden zu überflügeln, rieb fast seine schwachen Kräfte auf. Vorderhand hatte Anton nur ein Ziel. Er wollte „Aufseher“ werden. Das war nämlich zur Zeit ein anderer, ein „minder guter“ Schüler, der aber der Älteste in der Klasse war und dessen respektables Alter im Klassenlehrer Vertrauen erweckt hatte. Der „Aufseher“ war eine Art Stellvertreter des Lehrers. In dessen Abwesenheit hatte der also ausgezeichnete Schüler auf seine Kollegen aufzupassen, die Lärmenden „aufzuschreiben“ und dem Klassenlehrer anzugeben, für eine blanke Tafel, feuchten Schwamm und zugespitzte Kreide zu sorgen, Geld für Schulhefte, Tintenfässer und Reparaturen rissiger Wände und zerbrochener Fensterscheiben zu sammeln. Ein solches Amt imponierte dem kleinen Anton gar gewaltig. Er brütete in schlaflosen Nächten grimmige, racheheiße Pläne aus, er sann unermüdlich nach, wie er den „Aufseher“ stürzen könnte, um selber dieses Ehrenamt zu übernehmen. Eines Tages hatte er es heraus.
 
Der „Aufseher“ hatte eine merkwürdige Vorliebe für Farbenstifte und-tinten, für Kanarienvögel, Tauben und junge Küchlein. Geschenke solcher Art konnten ihn leicht bestechen, und der Geber durfte nach Herzenslust lärmen, ohne angezeigt zu werden. Hier wollte Anton eingreifen. Er selbst gab nie Geschenke. Aber noch ein zweiter Junge zahlte keinen Tribut. Es war der Ärmste der Klasse. Da der „Aufseher“ den Anton nicht anzeigen konnte, weil man diesem Jungen keinen Schabernack zutraute, war der arme Knabe das tägliche Opfer der aufseherischen Anzeigenwut. Hier konnte Anton ein glänzendes Geschäft machen. Keiner würde ahnen, daß er „Aufseher“ werden wolle.
 
Nein, nahm er sich des armen, windelweich geprügelten Jungen an und  verriet er dem Lehrer die schändliche Bestechlichkeit des jungen Tyrannen, so würde man das sehr gerecht, ehrlich und mutig nennen.
 
Aber auch kein anderer hatte dann Aussicht auf den vakanten Aufseherposten als eben Anton. Und so faßte er sich eines Tages ein Herz und schwärzte den „Aufseher“ an. Derselbe wurde sofort unter Verabreichung einiger Rohrstockstreiche seines Amtes enthoben und Anton Wanzl zum „Aufseher“ feierlich ernannt. Er hatte es erreicht.
 
Anton Wanzl saß sehr gerne auf dem schwarzen Katheder. Es war so ein wonniges Gefühl, von einer respektablen Höhe aus das Klassenzimmer zu überblicken, mit dem Bleistift zu kritzeln, hie und da Mahnungen auszuteilen und ein bißchen Vorsehung zu spielen, indem man ahnungslose Polterer aufschrieb, der gerechten Strafe zuführte und im vorhinein wußte, wen das unerbittliche Schicksal ereilen werde. Man wurde vom Lehrer ins Vertrauen gezogen, durfte Schulhefte tragen, konnte wichtig erscheinen, genoß ein Ansehn. Aber Anton Wanzls Ehrgeiz ruhte nicht. Stets hatte er ein neues Ziel vor Augen. Und darauf arbeitete er mit allen Kräften los. Dabei konnte er aber keineswegs ein „Lecker“ genannt werden. Er bewahrte äußerlich stets seine Würde, jede seiner kleinen Handlungen war wohldurchdacht, er erwies den Lehrern kleine Aufmerksamkeiten mit einem ruhigen Stolz, half ihnen in die Überröcke mit der strengsten Miene, und jede seiner Schmeicheleien war unauffällig und hatte den Charakter einer Amtshandlung.
 
Zu Hause hieß er „Tonerl“ und galt als Respektsperson. Sein Vater hatte das charakteristische Wesen eines kleinstädtischen Briefträgers, halb Amtsperson, halb privater Geheimsekretär und Mitwisser mannigfaltiger Familiengeheimnisse, ein bißchen würdevoll, ein bißchen untertänig, ein wenig stolz, ein wenig trinkgeldbedürftig. Er hatte den charakteristischen geknickten Gang der Briefträger, scharrte mit den Füßen, war klein und dürr wie ein Schneiderlein, hatte eine etwas zu weite Amtskappe und bißchen zu lange Hosen an, war aber im übrigen ein recht „anständiger Mensch“ und erfreute sich bei Vorgesetzten und Bürgern eines gewissen Ansehens.
 
Seinem einzigen Söhnchen bewies Herr Wanzl eine Hochachtung, wie er sie nur noch vor dem Herrn Bürgermeister und dem Herrn Postverwalter hatte. Ja, dachte sich oftmals Herr Wanzl an seinen freien Sonntagnachmittagen: Der Herr Postverwalter ist eben ein Postverwalter. Aber was mein Anton noch alles werden kann! Bürgermeister, Gymnasialdirektor, Bezirkshauptmann und - hier machte Herr Wanzl einen großen Sprung - vielleicht gar Minister? Wenn er solche Gedanken seiner Frau äußerte, so führte diese erst den rechten, dann den linken blauen Schürzenzipfel an beide Augen, seufzte ein bißchen und sagte bloß: „Ja, ja.“ Denn Frau Margarethe Wanzl hatte vor Mann und Sohn einen gewaltigen Respekt, und wenn sie schon einen Briefträger hoch über alle andern stellte, wie nun gar einen Minister?!
 
Der kleine Anton aber vergalt den Eltern ihre Sorgfalt und Liebe mit sehr viel Gehorsam. Freilich, das fiel ihm gar nicht allzu schwer. Denn da seine Eltern wenig befahlen, hatte Anton wenig zu gehorchen. Aber zugleich mit seinem Ehrgeiz, der beste Schüler zu sein, ging auch sein Bestreben, ein „guter Sohn“ genannt zu werden. Wenn ihn seine Mutter vor den Frauen lobte, sommers, draußen vor der Türe, auf der dottergelben Holzbank, und Anton auf dem Hühnerbauer mit seinem Buche saß, so schwoll sein Herz vor Stolz. Er machte freilich dabei die gleichgültigste Miene, schien, ganz in seine Sache vertieft, von den Weiberreden kein Wort zu hören. Denn Anton Wanzl war ein geriebener Diplomat. Er war so gescheit, daß er nicht gut sein konnte.

Nein, Anton Wanzl war nicht gut. Er hatte keine Liebe, er fühlte kein Herz. Er tat nur, was er für klug und praktisch fand. Er gab keine Liebe und verlangte keine. Nie hatte er das Bedürfnis nach einer Zärtlichkeit, einer Liebkosung, er war nicht wehleidig, er weinte nie. Anton Wanzl hatte auch keine Tränen. Denn ein braver Junge durfte nicht weinen.
 
So wurde Anton Wanzl älter. Oder besser: Er wuchs heran. Denn jung war Anton nie gewesen.
 
Anton Wanzl änderte sich auch nicht im Gymnasium. Nur in seinem äußeren Wesen war er noch sorgfältiger geworden. Er war weiter der Vorzugsschüler, der Musterknabe, fleißig, sittsam und tugendhaft, er beherrschte alle Gegenstände gleich gut und hatte keine sogenannten „Vorlieben“, weil er überhaupt nichts hatte, was mit Liebe zusammenhing.
 
Nichtsdestoweniger deklamierte er Schillersche Balladen mit feurigem Pathos und künstlerischem Schwung, spielte Theater bei verschiedenen Schulfeiern, sprach sehr altklug und weise von der Liebe, verliebte sich aber selbst nie und spielte den jungen Mädchen gegenüber die langweilige Rolle des Mentors und Pädagogen. Aber er war ein vorzüglicher Tänzer, auf Kränzchen gesucht, von tadellos lackierten Manieren und Stiefeln, steifgebügelter Haltung und Hose, und seine Hemdbrust ersetzte an Reinheit, was seinem Charakter von dieser Eigenschaft fehlte. Seinen Kollegen half er stets, aber nicht weil er helfen wollte, sondern aus Furcht, er könnte einmal auch was vom andern brauchen. Seinen Lehrern half er weiter in die Überröcke, war stets bei der Hand, wenn man ihn brauchte, aber ohne Aufsehen zu erregen, und wurde trotz seines kränklichen Aussehens nie krank.
 
Nach der glänzend bestandenen Matura, den obligaten Glückwünschen und Gratulationen, den elterlichen Umarmungen und Küssen dachte Anton Wanzl über die weitere Richtung seiner Studien nach.
 
Theologie! Dazu hätte er sich vielleicht am besten geeignet, dazu befähigte ihn seine blasse Scheinheiligkeit. Aber - Theologie! Wie leicht konnte man sich da kompromittieren! Nein, das war es nicht. Arzt werden, dazu liebte er die Menschen zu wenig. Advokat wäre er gerne geworden, Staatsanwalt am liebsten – aber Jurisprudenz - das war nicht vornehm, galt nicht für ideal. Aber man war Idealist, wenn man Philosophie studierte. Und zwar: Literatur. Ein „Bettlerberuf“ - sagten die Leute. Aber man konnte zu Geld und Ansehn kommen, wenn man es geschickt anstellte. Und etwas geschickt anstellen - das konnte Anton.
 
Anton war also Student. Aber einen so „soliden“ Studenten hatte die Welt noch nicht gesehen. Anton Wanzl rauchte nicht, trank nicht, schlug sich nicht. Freilich, einem Verein mußte er angehören, das lag tief in seiner Natur. Er mußte Kollegen haben, die er überflügeln konnte, er mußte glänzen, ein Amt haben, Vorträge halten. Und wenn auch die übrigen Vereinsmitglieder Anton ins Gesicht lachten, ihn einen Stubenhocker und Büffler nannten, so hatten sie doch im stillen einen gewaltigen Respekt vor dem jungen Menschen, der noch in den grünen Semestern steckte und dennoch ein so ungeheures Wissen besaß.
 
Auch bei den Lehrern fand Anton Achtung. Daß er klug war, erkannten sie auf den ersten Blick. Er war übrigens ein äußerst notwendiges Nachschlagewerk, ein wandelndes Lexikon, er wußte alle Bücher, Verfasser, Jahreszahlen, Verlagsbuchhandlungen, er kannte alle neuen, verbesserten Auflagen, er war ein Schnüffler und Bücherwurm. Aber er hatte auch eine scharfe Kombinationsgabe, ein klein bißchen Stoffhuber, was den Professoren aber am meisten behagte, war eine wahrhaft köstliche Naturgabe. Er konnte nämlich stundenlang mit dem Kopf nicken, ohne zu ermüden. Er gab immer recht. Dem Professor gegenüber kannte er keinen Widerspruch. Und so kam es, daß Anton Wanzl in den Seminarübungen eine bekannte Persönlichkeit war. Er war stets gefällig, immer ruhig und dienstbeflissen, er fand unauffindbare Bücher auf, schrieb Zettel aus und Vortragsankündigungen, aber auch Überröcke hielt er weiter, war Schweizer, Türsteher, Professorenbegleiter.
 
Nur auf einem Gebiete hatte Anton Wanzl sich noch nicht hervorgetan: auf dem der Liebe. Aber er hatte kein Bedürfnis nach Liebe. Freilich, wenn er so im stillen überlegte, so fand er, daß erst der Besitz eines Weibes ihm bei Freunden und Kollegen die vollkommenste Achtung verschaffen konnte. Dann erst würden die Spötteleien aufhören, dann stände er, Anton, da, ehrfurchtgebietend, hochgeachtet, unerreichbar, das Muster eines Mannes.
 
Und auch seine unermeßliche Herrschsucht verlangte nach einem Wesen, das ihm vollständig ergeben wäre, das er kneten und formen konnte nach seinem Willen. Anton Wanzl hatte bis jetzt gehorcht. Nun wollte er einmal befehlen. In allem gehorchen würde ihm nur ein liebendes Weib. Man mußte es nur geschickt anstellen. Und etwas geschickt anstellen, das konnte Anton. –
 
Die kleine Mizzi Schinagl war Miederverkäuferin bei Popper, Eibenschütz & Co. Sie war ein nettes, dunkles Ding mit zwei großen braunen Rehaugen, einem schnippischen Näschen und einer etwas zu kurzen Oberlippe, so daß das blitzblanke Mäuschengebiß schimmernd hervorblinkte. Sie war schon „wie verlobt“, und zwar mit Herrn Julius Reiner, Commis und Spezialist in Krawatten und Schnupftüchern, ebenfalls bei der Firma Popper, Eibenschütz & Co. An dem sauberen jungen Mann fand Mizzi zwar ein ziemliches Wohlgefallen, aber ihr kleines Köpfchen und noch weniger ihr Herz konnte sich den Herrn Julius Reiner als den Gatten der Mizzi Schinagl vorstellen. Nein, der konnte unmöglich ihr Mann werden, der junge Mensch, der noch vor kaum zwei Jahren von Herrn Markus Popper zwei schallende Ohrfeigen erhalten hatte. Mizzi mußte einen Mann haben, zu dem sie aufblicken sollte, einen Ehrenmann von höherer sozialer Stellung. Das echt weibliche Wesen, dessen angeborenen Takt ein Mann erst durch Bildung erwerben muß, empfand manche Seiten des Spezialisten in Krawatten und Schnupftüchern doppelt unschön. Am liebsten wäre Mizzi Schinagl ein junger Student gewesen, einer von den vielen buntbekappten jungen Leuten, die draußen nach Geschäftsschluß auf die weiblichen Angestellten warteten. Mizzi hätte sich so gerne von einem Herrn auf der Straße ansprechen lassen, wenn nur der Julius Reiner nicht so furchtbar achtgegeben hätte.

 





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