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04.3
Geschichten - Joseph Roth
Werke
4
1916-
1929
Romane und
Erzählungen
Der
blinde Spiegel
1925
Die
kleine Fini saß auf einer Bank im Prater und hüllte sich in die gute,
bergende
Wärme des Apriltages. Einer süßen, niegekannten, fremden Ohnmacht gab
sie sich
willig hin wie einer Melodie. Das Blut hämmerte schwer und schnell
gegen die
dünne Haut der Pulse und Schläfen. Das blasse Grün der Bäume und Wiesen
breitete sich aus über Kinderwagen, Steinen und Bänken. Alles Sichtbare
floß
ineinander, als blickte man aus einem
sehr schnellen Zug in eine sehr grünende Welt. Es dauerte einen ewigen
Augenblick. Dann gewannen Menschen und Gegenstände der Umgebung ihre
Konturen
wieder, eigene Gestalt und eigenes Leben, Gang und Haltung, besonderes
Merkmal
und vertrautes Gesicht. Aber die Ohnmacht schwang noch nach, singend im
Blut, mit
ihm kreisend, füllte sie die Adern, den ganzen Körper wie ein Choral
eine
Kirche. Die Leere sang, schwer waren die Glieder, aber leicht
und schwebend das Leben, Flügel bekam das Herz wie in der Stunde
besiegten
Sterbens. Fernab flatterten schwarze Ängste nieder, kein Dunkel drohte
mehr, es
wartete keine Gewalt, keine Furcht zuckte auf am weiten, glücklichen
Horizont
eines wunderbaren Tags. Fini konnte das langsame Pochen ihres Herzens
hören,
tröstend war diese unmittelbare Nähe des eigenen warmen Lebens, zum
ersten mal und
überraschend waren sie und ihr Herz merkbar allein, und sein Pochen wie
eine
langsam tropfende, tröstliche Antwort auf angstvoll verschwiegene
Fragen. Die
Brust war leicht wie kurz nach einer ausgeschütteten Qual, und sorglich
gebettet in eine beglückende Wehmut - als würde man weinen, als löste
sich eine
schmerzlich gekrampfte Fessel nach langen Jahren - endlich, endlich.
Fini,
die Kleine, erhob sich und streckte die Arme, jung, wie ein junger
Vogel zu
fliegen versucht, und als sie den ersten Schritt machte, kamen die
Gedanken
wieder. In rätselhafter Nähe hatten sie gelauert, wie Fliegenschwärme
kamen
sie; die kleinen Ängste, die flinken, schwarzen Sorgen, die häßlich
huschenden
Nöte, die Drohungen des Morgen und Übermorgen, die grausamen Bilder
grausamer
Tage, und die Furcht wölbte sich wie ein niederes Joch über zitterndem
Nacken.
Verrauscht
war die süße Musik der Ohnmacht, der gute, schläfrige Sang des
Vergessens, verblaßt
alle leuchtende Weite des sorglosen Nichts und ausgekühlt die bergende
Wärme
des lauen Tags. Fini fror im Aprilabend, als sie aufstand, um die
Briefe
auszutragen an die Firma Mendel & Co., an das Landesgericht
I und II, an den Nebenkläger Wolff & Söhne, die fremden Briefe
in dem grüngefaßten Buch, die fremden Briefe in die fremden Vorzimmer,
die
leichte, die schmerzende Last, die man austrug, um das Porto zu
verdienen, von
vier Uhr nachmittags bis sieben Uhr abends.
Durch
die großen Straßen ging sie, verloren und gering, und merkte erst in
einem
Hausflur, daß der Brief an das Landesgericht I nicht mehr da war, der
wichtige
Brief, in der lockeren Reihe flüchtiger Unterschriften fehlte eine, war
eine
Zeile leer und rundete sich, sah man lange darauf, zu einem furchtbar
glotzenden Loch, einem hohlen, weißen Auge. Ein großes Zittern befiel
das
kleine, frierende Mädchen, und die Kälte wuchs, die man kaum mehr
ertrug,
mitten im lauen Aprilabend - man fühlte ihn, und er wärmte nicht. Fini
wollte
die Wärme herabziehn und sie um die dünnen Schultern legen. Wie der
Abend die Stadt
einhüllte, so sollte er sie auch schützen, die verloren war in der
unermeßlichen
Straße.
Ach!
wenn man so dünn und gering ist, tut es gut, sich irgendwo bergen zu
können, in
der lärmenden Wüste der Stadt. Drohend wölbt sich das eiserne Leben
über unsern
kleinen Köpfen, und wir sind machtlos und verloren, preisgegeben dem
bellenden
Hund und dem blinkenden Polizisten, dem gierigen Auge des Mannes und
dem
keifenden Ruf des kriegsbereiten Weibes, dem wir besinnungslos in den
Weg
treten, jeder Macht, die auf den Plätzen lebt und an den Ecken lauert.
Jetzt
müßte man ein Haus wissen, in das man gehn dürfte, ein schützendes Haus
mit
reichem Portal, das uns mütterlich empfängt und speist und tröstet und
die
große Furcht aus unsern Herzen treibt wie der mächtige Portier die
unbefugten
Eindringlinge; jetzt, da man die Unbarmherzigkeit des Draußen gefühlt
hatte,
täte ein großes, bergendes Haus so wohl. Keine Sorge wäre drin um den
verlorenen Brief und das bange erwartete Morgen.
Als
der weißgekittelte Mann kam und eine Laterne mit langer Stange
entzündete,
huschte eine kleine Wärme durch das frierende Mädchen und ein armer,
aber guter
Trost, daß zwischen dem Heute und dem Morgen noch eine lange Nacht lag.
Zwischen
dem Unglück und seinen schrecklichen Folgen waren zwölf oder zehn
Stunden und
ein Schlaf und ein rettender Traum vielleicht und Zeit genug für ein
Wunder, das
einmal ja kommen muß in unserem Leben. Vielleicht, wenn kein Traum kam
und das
Wunder enttäuschte, ließ sich in der Früh noch mit Doktor Blum, dem
Sozius,
reden, der besser war, weil er jünger war, und eine Stirnlocke trug wie
ein
Student.
Wäre
der Hausflur nicht, in den wir jeden Abend gehn müssen, der Hausflur,
der
schlimmer war als die Straße, in dem der Kot junger Katzen roch und die
Pförtnerin
lauerte, und die Treppe nicht mit dem schadhaften Geländer wie einem
lückenreichen Gebiß und die vergrämte Mutter nicht mit der ewigen
Neugier und
dem ungläubig geschärften Ohr - wäre das alles nicht, so könnte man das
Morgen Gott,
dem lieben Gott, überlassen und heute noch feiern, im weichen Bett, ein
Buch
und Ansichtskarten auf der Decke.
II.
Noch
war die Mutter nicht zu Hause. - Es ist gut, wenn unsere Mütter nicht
da sind,
die Mütter mit den ungläubig forschenden Augen, die traurig sind und
weinen
müssen, strenge und fürchterlich und dennoch traurig, unsere armen
Mütter, die
nichts verstehen und schelten und vor denen wir lügen müssen. Wir
brauchen
niemandem Bericht zu erstatten, und keine Furcht ist in uns vor der
Wirkung des Berichts,
keine Furcht vor dem Zwang zur Lüge und keine um ihre Entdeckung. Fini
entkleidete sich langsam; sie fühlte es warm und feucht an ihren
Schenkeln
rinnen, Blut mußte es sein, groß war ihre Sorge. Irgend etwas war mit
ihr
geschehen, und sie forschte in ihrem vergeßlichen Gehirn nach einer
Sünde,
einer vor grauen Tagen begangenen.
Es
ist schön, sich allein im Zimmer vor dem Spiegel entkleiden zu können -
allein,
die Tür ist versperrt, als hätte man sein eigenes Zimmer wie Tilly, die
Große -
und festzustellen, wie die Brüste wachsen, weiß und fest und von
rosigen Kuppen
gekrönt, obwohl sie noch nicht so groß und durch die Kleider deutlich
sichtbar
sind wie bei Tilly,
die einen Freund hat und küssen darf.
Gerührt,
als streichelte sie ein kleines, fremdes Tier, so tastete Fini an ihrem
Körper,
erfühlte den beginnenden Schwung der Hüfte und das kühl gerundete Knie
und sah,
wie das Blut eine schmale, rote Furche zog, das nackte Bein entlang.
Die
kleinen Mädchen fürchten sich, wenn sie das rote Blut sehen und wenn
sie nicht
wissen, woher es kommt, und ganz allein und nackt sind, ohne die
schützende
Hülle des Kleides, mit einem lebendigen Spiegel eingeschlossen in einem
Zimmer,
rotes Blut, unbekanntes, aus unbekannten Gründen fließendes sehen, ist
ihre
Furcht dreimal so groß. Die Wunder haben in ihnen selbst ihre Ursache
und ihr
Leben, und wir erschrecken vor dieser Nähe des Rätsels, von dem wir
geglaubt haben,
daß es in der Weite wächst und ferne unsern Körpern.
Fini
hielt den Atem an und hörte plötzlich die große Leere im Zimmer, fühlte
das
Totsein der toten Gegenstände, sah die Lampe in einem Nebel brennen, in
einem
weißen Nebel, der die Form eines Angesichts annahm und behielt, eines
gespenstischen
Angesichts mit leuchtendem Kern. Fini hörte aus unermeßlicher Ferne wie
aus
einem geahnten Jenseits Stimmen der Straße und das Kreischen einer
Bahn, die
Melodie einer ewigen Geige und ein tröstliches Rauschen der Stille wie
aus einer
großen Muschel. Kühl und weich flutete die unendliche Stille, ein
Ozean, der
von den Füßen aufstieg und stieg - schon stand sie mit den Knien darin,
und die
blaue Stille deckte die Hüften ein und wuchs um das Herz beklemmend.
Ein
gutes Dunkel kam und deckte sie zu. Sie sank in die Ohnmacht, in den
weichen,
ausgebreiteten, gastlichen Mantel aus zärtlichem Samt.
So
fand sie die Mutter, die allzeit geschäftige, in Sorgen ergrauende, die
Mutter,
die von der Tour kam, aus Purkersdorf mit der Westbahn.
Den
Hut, den schiefen, auf der Fahrt beschädigten, zum Einkassieren
unerläßlichen,
warf sie auf das Sofa. Eier zerbrachen mit kläglichem Laut in der
Tasche. Schön
öffnete sie den zitternden Mund zum Fluch, ein häßliches Wort krümmte
die
Lippe, da erschrak sie, dachte an Selbstmord und grausigen Bericht in
der
Zeitung und beugte sich über Fini.
Das
Mädchen erwachte und sah über sich das breite Gesicht der Mutter, sah
in die
schmerzlichen Augen und eine unbekannte Güte darin, einen Trost und ein
fremdes
Erschrecken. Rasch hob sie die Mutter auf starken Armen ins weiße,
breite,
weiche Bett, kalte Milch brachte sie und küßte Stirn, Mund und Augen
wie lange
nicht mehr. Vertraut war die Berührung der mütterlichen Lippen, lang
entbehrt
und wie eine Wiederkehr der halbvergessenen Kindheit. „Mein gutes
Kind“, sagte die
Mutter und wiederholte die Worte, und ihre Stimme war verwandelt, die
Stimme
einer alten, einer gewesenen, verlorenen, zurückgekehrten Mutter.
„Jetzt bist
du unwohl“, sagte die Mutter und: „Nun bist du eine Frau.“ Und Fini
verstand,
was Tilly, die Erwachsene, immer gefragt hatte: ob sie auch schon
unwohl sei.
Eine stille Feier entzündete sich im Innern, ein heimliches Fest, als
trüge man
ein weißes Kleid und würde konfirmiert.
„Bleib
morgen zu Hause, geh nicht ins Büro“, sagte die Mutter. Weich und
warm wie ein kleiner, lieber Wind ging ihre Stimme über Finis Gesicht.
So
merkwürdig verwandelt war alles; der Bruder schwieg, der sonst immer
tobte, die
Mutter summte leise in der Küche, und der Nachtwind spielte mit einer
zart
klirrenden Fensterangel im Nebenzimmer. Ruhe, weiße, war im Bett und in
der Welt,
die behagliche Wärme eines neugefundenen Heims, Heimat ohne Ende, Güte
ohne Grenze
und mit der Mutter die Gemeinsamkeit des Erwachsenseins und des
Frauseins. Nicht mehr strafende Mutter war sie, sondern schwesterliche
Frau.
Spät
am Abend klingelte die Nachbarin noch, auf einen Plausch kam sie; leise
rasselte ihr Schlüsselbund, und man hörte sie reden. Fini lauschte; die
Mutter
sprach mit der Frau vom Krieg; sie lasen im Abendblatt den Sieg von
Sadowa und
sprachen von den Männern, die lange nichts mehr schrieben. Der Duft
bratender
Erdäpfel wandelte durch
die Zimmer; die Frauen aßen und kicherten; jetzt erzählte die Mutter
von Fini,
und das Kichern der alten Frau wurde unangenehm, und ihr Flüstern kam
wie ein
Zischen unverständlich und beunruhigend aus der Küche.
Zu
schön war die Behaglichkeit des weißen, heimatlichen Bettes und zu
aufregend
ein mißtrauisches Lauschen. Es war besser, man legte sich gerade hin
und dachte
an gar nichts mehr.
Aber
plötzlich überfiel Fini der Gedanke an den schrecklichen verlorenen
Brief, und
sie rief die Mutter herbei und erzählte es ihr, die nicht erschrak und
nicht
fluchte, sondern gütiger wurde und weicher, Trost und Vermittlung
versprach und
mit beiden Händen die Decke glättete.
So
verwandelt hat sich die Welt, eine Dankbarkeit strömt aus tausend
aufgebrochenen
Quellen, und aus den Tiefen verschütteter Kindheit holen wir unsere
alten,
kleinen, frommen Gebete hervor und weinen ein bißchen zu dem
auferstandenen
Gott und schlafen ein.
Um
acht Uhr früh schon weckte eine schrille Klingel, eine Feldpostkarte
des Vaters
kündigte sie an oder eine Todesnachricht; eines von beiden nur konnte
es sein.
Tag für Tag, Stunde um Stunde wartete man auf die Karte, auf die
Todeskarte vom
Regiment, und man zitterte vor dem kurzen Geschrill der Glocke, das man
ersehnte, wenn es ausblieb.
Fini
hörte der Mutter gewöhnliches Ächzen beim Aufstehen, das Schlurfen
ihrer
Pantinen bis zur Tür und zurück, den Gruß des Postboten und das Rattern
der
emporgezogenen, hölzernen Jalousien. Es dauerte ein paar Minuten, es
waren
Minuten süßer, banger Ungewißheit, die wir liebhaben, die gespannten
Minuten
mit dem angehaltenen Atem vor den großen Überraschungen, die man immer
ersehnt,
und wären sie auch fürchterlich.
Aus
der Küche scholl der Mutter freudiger Ausruf, herbei eilte sie ans Bett
und
setzte sich und meldete die Ankunft des Vaters, der schon unterwegs
war,
entronnen dem Tode, verletzt, und vielleicht für immer dem Hause
wiedergegeben.
Mit
zärtlich zittrigen Fingern zerknitterte sie die rote Karte, schon sah
sie aus
wie am Busen zerdrückt, und der arme Kopf vergaß das Butterbrot für
Josef und
die Obliegenheiten der morgendlichen Stunden. Am Bettrand saß sie mit
dünn
gewickeltem Zopf und spann Träume, wollte Touren aufgeben, die
vergeblichen
wenigstens, und von Arnold, dem Onkel, die erträglichen und
ertragssicheren
abkaufen, in den Gegenden der Munitionsarbeiter, die sichere Gehälter
bezogen und
verläßliche Ratenzahler waren.
Eine
merkwürdige Güte offenbarte das Leben, Gnaden schüttete Gott aus, er
verwandelte die Mutter, die fluchende, die Rächerin und die Richterin,
in die
gütige, freudige Frau, fast konnte man's nicht glauben. Oft schon waren
Zweifel
in Fini des Morgens gewesen, ob sie in die Wirklichkeit des Tages
erwacht oder
entschlummert war in die Fortsetzung des Traumes. Diesmal war alles
unwahrscheinlich, die Sonne und der plinkende Sperling am blechernen
Fensterbrett, die goldige Staubsäule in der Ecke beim Ofen, die
Wiederkehr des
Vaters und die Ruhe im Herzen.
Die
Mutter strömte den schwülen Duft ihrer Körper- und Bettwärme aus, sie
roch
vertraut wie warme Milch und weckte in Fini das Verlangen, die Arme um
den Hals
der Frau zu legen, die nachgiebige Weichheit der mütterlichen Brüste zu
fühlen
und glücklich zu weinen. Wäre nicht der Gedanke an den verlorenen Brief
noch
lebendig in seiner ganzen Furchtbarkeit - wie wäre der Morgen
sorgenfrei und
wunderbar -, wäre die nächste, die kommende Stunde nicht in der Kanzlei
vor dem
Doktor Finkelstein.
„Ich
will hingehen und ihm erzählen“, sagte die Mutter. Und Fini entsann
sich der
Schuljahre und der mütterlichen Vermittlungen und ungeschickten
Ausreden und
des blamierenden Diskurses zwischen Mutter und Lehrer und entschloß
sich,
selbst zu gehen. Wenn Gott, der wiedergekehrte, neuerbetete, helfen
wollte, so
half er in allen schwierigen Dingen den kleinen Mädchen, und wie immer,
wenn
wir fast keinen Ausweg
mehr wissen, dämmert in unsern Köpfen langsam eine Ausrede und formt
sich zum
wahrscheinlichen Bericht, an den wir am
Ende glauben. Konnte man nicht mit der Feldpostkarte hingehn und den
verlorenen
Brief mit Aufregung entschuldigen, die man wohl glaubte, während man
eine
Ohnmacht, eine gewöhnliche, belächelte? Vieles Wunderbare war seit
gestern
geschehn, viel mehr Wunder brachte das Heute. - Und Fini, die Kleine,
ging über
die Straßen, vor denen sie sich gestern so gefürchtet hatte, und war
nicht mehr
gering und verloren, sondern stolz und gehoben, gewachsen und reif
geworden in
der schwülen, regenschwangeren Luft des trüben Tags.
Die
Wolken hingen fallbereit. Kleiner schien die Unermeßlichkeit der
Atmosphäre und
näher der Welt; verlangend lag der Himmel über der Erde, bereit, sie zu
umarmen
und zu befruchten.
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