Der
blinde Spiegel 2
1925
V.
Die
Wunder hörten nicht auf, die Güte Gottes gebar sich immer neu. Ein Mann
kam,
eine Viertelstunde vor dem Doktor Finkelstein, und brachte den Brief,
den
verlorenen, in die Kanzlei. Fini gab ihm ihr letztes Straßenbahngeld.
Sie sah
den Mann genau an und behielt sein Gesicht, seine Kleidung, seinen
Schnurrbart
treu im Gedächtnis. Jahrelang später wußte sie, daß ihm Haarbüschel,
graue, aus
den Ohren wuchsen.
Allerdings kam der Sozius Blum in dem Augenblick herein, als der Mann
fortging,
groß, stark, duftend und strahlend, ein Gott der Frauen. Behutsam und
väterlich
faßte er Finis Arm, Milde und Verzeihung schwangen in seiner Stimme,
als er zur
Vorsicht für alle künftigen Fälle mahnte. Dabei spürte sie den sanften
Druck
seiner Finger am Oberarm, sie blickte zu ihm auf und sah seine
sorgfältig
verworrene Locke
über dem linken Auge und seinen lächelnden Mund.
Später
floß das Wunderbare über in die gewöhnliche Lauheit ärgerlichen Tages.
Fini saß
vor dem braunen Telephonapparat mit den verwirrenden Stöpseln und
verworrenen
Bändern, den grüngetupften, den rotgestreiften, den blauen und den
unbesetzten
Löchern, vor denen die rätselhaften Klappen aus rätselhaften Gründen
plötzlich
abfielen mit leisem Schlag wie verwelkte, harte Augenlider. Das
Telephon schrillte,
die helle Fanfarenstimme einer Frau verlangte den Doktor Blum; ein
Stöpsel flog
in ein beliebiges Loch, und Fini wartete auf den Erfolg. Schon ahnte
sie
gleichzeitig, daß es eine falsche Verbindung war, und sie wartete
furchtsam wie
in der Schule, wenn sie auf der Tafel eine Rechnung falsch gelöst hatte
und
hinter dem Rücken das peinliche Schweigen der Klasse fühlte und den
triumphierenden Atem der
Lehrerin auf der Schulter. Wie konnte man auch an diesem stöpselreichen
Apparat
den richtigen finden, wenn ein Wunder nicht zu Hilfe kam?
Ach,
es kam nicht, sondern der Doktor Finkelstein. Gefräßig, mit einer
Aktenmappe
stürzte er, der ewig gefräßige, immer sturz bereite, streitbare, mit
starken
Brillengläsern funkelnde, herein; denn bei ihm hatte es geläutet und
nicht beim
Sozius, bei ihm hatte die Exzellenz Helena nichts zu suchen – „nichts
zu
suchen, sage ich“ -, die Schlange, die sie beide noch ruinieren würde.
„Ich
mache keine Strafprozesse, das müßten Sie wissen, zehn Jahre sitzen Sie
hier!“
Lärm kündigte ihn an,
den Doktor Finkelstein, in einer Wolke von Lärm lebte er, und er begann
zu
diktieren. „Lassen Sie den Apparat, den Sie doch nie verstehen werden,
und
setzen Sie sich an die Maschine!“ - Und leise vor sich hin wiederholte
er: „Zehn
Jahre sitzt sie schon hier“ - bis plötzlich ein Blick zu Fini
hinüberflog und
ihr Gesicht streifte und eine dunkle Erinnerung an die Erzählung des
Doktor
Blum von einer neuen, jungen Hilfskraft
weckte.
Wie
flatterte das Herz, wenn er diktierte, die großen, fremden, nie
gehörten Worte
sprudelten, Sturzbäche erstaunlicher Satzgefüge, prachtvoll exotische
Klänge,
lateinische Namen, Sätze, labyrinthisch gebaute, mit kunstvoll
verborgenen
Prädikaten, die manchmal unerklärlich verlorengingen. Während Fini
stenographierte,
überhörte sie ein Wort, mißverstand sie einen Namen, und der Bleistift,
mühsam unter
den Druck des Zeigefingers gezwungen, begann zu flattern, wild auf
raschelndem
Papier, der Klang eines gehörten Wortes zeugte ein ähnliches im
Bewußtsein,
drohend erhob sich am Ende des Diktats die unerläßliche Vorlesung des
Stenogramms, und daran mußte Fini denken, während sie schrieb. An die
nächste
halbe Stunde, in der es sich erweisen sollte, wie kläglich das Diktat
ausgefallen
war, an die mißlungenen Sätze mit den verstümmelten Namen, die
weggelassenen Paragraphen
und verschobenen Prädikate. Es war, als hätte man ein verrücktes,
wirbelndes Rad zu stenographieren; große, bunte Räder kreisten, wuchsen
violett
und rot gerändert aus dem Papier.
Dann
erfolgte die Kündigung, notgedrungen, Entlassung auf der Stelle sogar.
Rückkehr
mit hängendem Kopf und Suchen in den kleinen Anzeigen des
Morgenblattes. Warten
in den Vorzimmern und sorgsames Kalligraphieren der gleichlautenden
Offerten. „Punktum,
Schluß!“ schrie Doktor Finkelstein,“lesen Sie, schnell!“ Aber an diesem
wunderbaren Tage strömte Rettung, plötzlich und dankbar empfangen, aus
allen
Türen. Nun klingelte jemand, und Exzellenz Helena trat ein, ihre Stimme
klang
hell, eine Siegesfanfare, in hellem Kleid rauschte sie mit dem
kühngeschwungenen Hut voll jugendlicher Kornblumen. Aus einer
merkwürdigen,
großen Welt kam sie, aus der Welt der noblen Klientel; Leere war um
sie, kein
stenographierendes Mädchen und kein Bürodiener, durch Kleider und
Körper
drangen ihre Blicke, aus Glas war man selbst, ein durchsichtiger
Gegenstand.
Die tobende Wildheit Doktor Finkelsteins war dahin, Höflichkeiten
stotterte er und
empfahl sich bestens, den Sozius versprechend.
Einen
Akt galt es zu suchen, einen verlorenen Akt. Exzellenz Helena contra
Ehegatten,
und man suchte ihn unter H, verzweifelt, schnell, fünfmal
durchblätterte Fini
den Buchstaben H, bis Doktor Blum ungeduldig Tuschak rief, Exzellenz
Tuschak.
Unter T fand sich der Akt.
Währenddessen
saß Tilly eifrig gebeugt über raschelnden Papieren, Bleistifte
spitzend,
Radiergummis ordnend, Löschblätter schneidend, Briefmarken zählend;
vergebens
suchte Fini ihren Blick, den freundschaftlichen Blick, den Hilfe
versprechenden
- ein böses Ding war Tilly, sie stellte sich fleißig und ließ den
Kameraden im
Unglück. Es verdroß und tat weh, das Blut schoß in die Wangen, Fini
fühlte, wie
ein Strumpfband sich lockerte, aber ein rettender Griff nach dem Knie
war
verboten und hätte ein Jucken vorgetäuscht, das lockere Band und der
rutschende
Strumpf nahmen den letzten Rest von Haltung, Papiere stoben flatternd
auseinander.
Dann
folgte eine heilende Stille, keine Klingel weckte. Fini sah durchs
Fenster, sah
die langsame Turmuhr, das rote Kloster mit dem Wandelgang für die
Nonnen im
Park, die hin und her schritten, schwarz und weiß, fremde Geschöpfe im
Jenseits
hinter den roten Mauern, im Garten, im Vorhof der ewigen Seligkeit. Die
Scheu
vor den Bräuten Christi verschwand, und Fini schien es wunderbar im
Garten des
Klosters.
Langsam
rückten die goldenen Zeiger vor, Exzellenz Helena verrauschte, einen
Augenblick
stand Doktor Finkelstein noch da mit funkelnden Brillengläsern, dann
ratterte
er los mit der schwarzen Mappe und der flatternden Hutkrempe.
In
den Straßen war der Frühling, es hatte geregnet, und die großen
Kieselquadersteine
leuchteten rot und bläulich, als spiegelte sich in ihnen ein
Regenbogen. Frisch
gewaschen war das Gras auf den Rasenbeeten, die Amseln standen schwarz
in der
Straßenmitte, Fini schlenderte langsam mit Tilly, heute schon
erwachsen, unwohl
und Frau.
„Ich
sehe schlecht aus“, sagte Fini, „siehst du nicht? Ich bin unwohl“,
sagte Fini
wie etwas Selbstverständliches und maß die Brüste Tillys, die unter der
dünnen
Bluse zitterten. Die Männer lächelten sie an, die jungen Männer, die
beutegierig durch die Straßen gingen.
Bei
Trillby lockte gelbes Eis, von zarten Waffeln überdeckt, in
rundgeschliffenen Eiergläsern,
die halben und ganzen Portionen auf marmornen Tischchen draußen, und
die tiefen
Korbsessel. Das Porto, das bitter verdiente, ging zur Hälfte drauf, ein
Trinkgeld bekam die Kellnerin, und knapp, ehe ein Einjähriger sich
anschickte,
aus der hinteren Ecke an den Tisch der Mädchen zu treten, standen sie
auf und
schritten, neu
gestärkt und den Glanz der untergehenden Sonne vor sich auf den
Gesichtern, um
die Ecke.
Es
duftet zu Hause nach süßen Dingen, die man für den heimkehrenden Vater
bereitet, der Bruder Josef tobt - und als wären Jahrzehnte seit gestern
vergangen, so füllt wieder die graue Unerbittlichkeit das Haus, die
Treppe und
die Mutter. Dahin ist die warme Bettheimlichkeit von gestern, die
Mutter kommt
forschend aus der Küche, Einzelheiten des Tagesablaufes will sie
wissen,
unablässig. Tief schneiden die Seufzer ihrer Unzufriedenheit ins Herz,
die
Nacht kommt und die geizige Petroleumlampe mit dem graublau
angehauchten
Glaszylinder, aus dem die Nachbarin Regen für morgen prophezeit.
VI.
Es
regnete wirklich, und der Vater kam, mit ergrauten Schläfen, rätselhaft
klein
geworden und behaftet mit dem Duft von Jodoform, Hygiene, Rotem Kreuz
und
Eisenbahn.
Eine
Granate hatte ihn Gott sei Dank verschüttet; nun war er da, für immer
vielleicht, aber ratlos inmitten seiner gesunden Familie, betäubt von
der
Ankunft in seinem eigenen Haus, heimatlos in der Heimat und
außergewöhnlich
zwischen dem Gewöhnlichen, mit suchenden Blivken, die immer abglitten
und
zurückzukehren schienen in eine Ferne, in die verlassene Ferne, deren
Schattenriß wir kaum ahnen konnten, deren Wirklichkeit uns niemals
erkennbar
war.
In
Fini lebte er als der große, starke Mann, der sie in die Arme nahm, als
er
schied, jetzt war er klein und gedrückt und ihn umarmte Fini.
„Lauter
sprechen“, bat er und erzählte, daß er schwerhörig geworden. Man sprach
lauter,
man schrie, und er hatte doch nicht verstanden, er war stocktaub, und
nach zwei
Tagen kam er mit einem schwarzen Hörrohr, das seltsam und erschrecklich
aus der
oberen Tasche seines Uniformrocks einen langen Hals mit breitem
Trichter
reckte. Verwandelt war er ohne Instrument und noch mehr, wenn er es ans
Ohr
legte.
Jeden
Tag humpelte er an seinem Stock ins Spital und brachte den Geruch der
Medikamente nach Hause und manchmal einen großen, länglichen Brotlaib,
den man
beim Bäcker nicht bekam. Die Verwandten kamen, ihn zu begrüßen, sie
schrien mit
Lust und weideten sich an seinen Mißverständnissen und lachten
verstohlen.
Arnold, der Onkel, wollte seine guten Touren partout nicht verkaufen,
und man
sprach von
einer Neugründung der Existenz.
Dann
waren die lauten Besuchstage verrauscht, und einmal entstand ein Streit
wegen
einer Zündholzschachtel, die der Vater im Spital vergessen hatte oder
im
Wirtshaus - wer konnte es wissen? Ein wenig trank er, dann war er
stiller als
gewöhnlich, und manchmal stahl er kleine Dinge aus dem Hause. Die
Mutter
schrie, nur sie allein verstand er gut, und er blieb die Antwort nicht
schuldig. Aber sprach die Mutter leise,
verstand er dennoch nichts, und sie durfte fluchen – und Worte, die sie
tief
zurückgedrängt hätte, wäre er nicht taub gewesen, tanzten jetzt frech
über
ihren Mund und trafen ihn nicht, so daß er lächeln konnte, wenn sie
„Schubiak“
sagte.
In
der Nacht aber hörte man sie zärtlich flüstern im Bett, wenn Fini
zufällig erwachte; spät nach Mitternacht
drang das Wispern schwül aus dem Schlafzimmer. Da belebte sich
wahrscheinlich
sein Gehör, denn es ging um Liebesdinge. Merkwürdig war, daß sie ihren
Streit
vergessen konnten, wenn sie Körper an Körper lagen; der warme
Milchduft, der
von der Mutter kam, versöhnt ihn, dachte Fini.
Warm
war die Nacht, und das Bett strömte Wärme aus; Fini stand auf und ging
ans
offene Fenster, während Vater und Mutter im Schlafzimmer eine Kerze
anzündeten
mit heiserem Kichern.
Rührung
überfällt uns in der klaren Nachtluft, wenn die Sehnsucht aus den
blauen
Gründen zu uns kommt und am Fenster der Pfiff einer weitrollenden
Lokomotive
hängenbleibt, auf dem Bürgersteig gegenüber liebesdurstig eine Katze
schleicht,
in einem Kellerfenster verschwindet, hinter dem der Kater lauert. Groß
und
sternenreich ist der Himmel über uns, zu hoch, um gütig zu sein, zu
schön, um
nicht einen Gott zu erhalten. Die nahen Kleinigkeiten und die ferne
Ewigkeit
haben einen
Zusammenhang, und wir wissen nicht, welchen. Vielleicht wüßten wir ihn,
wenn
die Liebe zu uns käme; sie ist mit den Sternen verwandt und mit dem
Schleichen
der Katze, mit dem Pfiff der Sehnsucht und mit der Größe des Himmels.
Zwei
Menschen entkleideten sich drüben, hinter den Jalousien sah man ihre
Schatten,
eine Hand löschte mit wehendem Schwung die Kerze aus, und Mann und Frau
gingen
schlafen - jetzt flüsterten sie, wie die Eltern flüstern. Fini fühlte
die
Nachtluft nicht mehr, rote Kreise vor den Augen sah sie, ein jäher
Blutstrom
rann in die Schenkel, und die Spitzen ihrer Brüste wuchsen, streckten
sich dem
Draußen, den Lokomotiven, den Pfiffen, den Sternen entgegen.
Der
neue Tag graute; hinter den Häusern erhob sich ein weißes Leuchten.
Sonntag war
es. Der Morgen breitete sich aus, schnell hellte das Zimmer auf, am
Nachmittag
gehen wir mit Tilly ins Atelier; wir werden neue, wunderbare Dinge
erleben, in
einer unbekannten Welt, neue, große Dinge, kleine, kleine Fini.
VII.
Dieser
Nachmittag im Atelier behielt seine leuchtende Seltsamkeit noch lange
Jahre
später, als Fini schon in einer anderen Welt lebte und die süße
Dummheit ihrer
jungen Tage vergessen und vergraben hatte.
Mitten
zwischen den großen und klugen Menschen war sie noch einsamer als
daheim,
geringer als in den weiten, großen Straßen der großen Stadt, wenn sich
das
Leben eisern über ihrem kleinen Kopfe wölbte.
Aus
allen Bereichen der wunderbaren, ungekannten und kaum erahnten Welt
strömten
die Gedanken der Menschen, die schönen, die zarten, die
unverständlichen, die
weichen Gedanken, die Musik aus unzähligen, verstreuten und verborgenen
Instrumenten. Die Hälfte verstand sie nicht und wußte nicht, wen zu
fragen;
denn unerreichbar war Tilly, die Erwachsene, Gewandte, die kühn zu
Hause war,
wo man sie hinstellte, und aus der glanzvollen Mitte, die sie einnahm
und die
ihr gebührte, in den stillen Winkel Finis kühles Lächeln schickte und
kalt strahlenden
Blick. Fini fühlte, daß keine Hilfe kam, und es war ihr, als müßte sie,
ungelernt, wie sie war, in der nächsten Stunde zur Prüfung treten.
Stolz und
mutig waren die Menschen, gewiß kamen sie aus den großen, kühlen,
bewachten
Häusern und aus den reichen Zimmern, in denen Spiegel an jeder Wand die
Haltung
ihrer Besitzer unter steter Aufsicht
halten und bis zur Vollkommenheit verbessern. Wer aber, wie wir, aus
den engen
Häusern kommt und in den Zimmern mit den blinden Spiegeln heranwächst,
bleibt
zage und gering sein ganzes Leben lang.
Schon
sprachen die Männer, sie hatten braune Gesichter und mutige Augen, und
sie
waren auch im Kriege gewesen, wie der Vater; aber sie kamen nicht klein
und gedrückt
und nicht taub nach Hause, und selbst aus ihrer Verstümmelung noch
strahlte
Glanz. Die Männer sind aus einer ganz anderen Welt als wir kleinen
Mädchen, sie
sind klug, stark und stolz, sie lernen viel und wissen viel, sie suchen
die
Gefahren, und durch die Straßen gehen sie herrschend, und ihrer ist,
was sie
sich wünschen, die Häuser, die Bahnen, die Frauen und die ganze Stadt.