lifedays-seite

moment in time



Literatur


04.3


Geschichten - Joseph Roth
Werke 4
1916- 1929

Romane und Erzählungen






Der blinde Spiegel 2
1925


V.
 
Die Wunder hörten nicht auf, die Güte Gottes gebar sich immer neu. Ein Mann kam, eine Viertelstunde vor dem Doktor Finkelstein, und brachte den Brief, den verlorenen, in die Kanzlei. Fini gab ihm ihr letztes Straßenbahngeld. Sie sah den Mann genau an und behielt sein Gesicht, seine Kleidung, seinen Schnurrbart treu im Gedächtnis. Jahrelang später wußte sie, daß ihm Haarbüschel, graue, aus den Ohren wuchsen. Allerdings kam der Sozius Blum in dem Augenblick herein, als der Mann fortging, groß, stark, duftend und strahlend, ein Gott der Frauen. Behutsam und väterlich faßte er Finis Arm, Milde und Verzeihung schwangen in seiner Stimme, als er zur Vorsicht für alle künftigen Fälle mahnte. Dabei spürte sie den sanften Druck seiner Finger am Oberarm, sie blickte zu ihm auf und sah seine sorgfältig verworrene Locke über dem linken Auge und seinen lächelnden Mund.
 
Später floß das Wunderbare über in die gewöhnliche Lauheit ärgerlichen Tages. Fini saß vor dem braunen Telephonapparat mit den verwirrenden Stöpseln und verworrenen Bändern, den grüngetupften, den rotgestreiften, den blauen und den unbesetzten Löchern, vor denen die rätselhaften Klappen aus rätselhaften Gründen plötzlich abfielen mit leisem Schlag wie verwelkte, harte Augenlider. Das Telephon schrillte, die helle Fanfarenstimme einer Frau verlangte den Doktor Blum; ein Stöpsel flog in ein beliebiges Loch, und Fini wartete auf den Erfolg. Schon ahnte sie gleichzeitig, daß es eine falsche Verbindung war, und sie wartete furchtsam wie in der Schule, wenn sie auf der Tafel eine Rechnung falsch gelöst hatte und hinter dem Rücken das peinliche Schweigen der Klasse fühlte und den triumphierenden Atem der Lehrerin auf der Schulter. Wie konnte man auch an diesem stöpselreichen Apparat den richtigen finden, wenn ein Wunder nicht zu Hilfe kam?
 
Ach, es kam nicht, sondern der Doktor Finkelstein. Gefräßig, mit einer Aktenmappe stürzte er, der ewig gefräßige, immer sturz bereite, streitbare, mit starken Brillengläsern funkelnde, herein; denn bei ihm hatte es geläutet und nicht beim Sozius, bei ihm hatte die Exzellenz Helena nichts zu suchen – „nichts zu suchen, sage ich“ -, die Schlange, die sie beide noch ruinieren würde. „Ich mache keine Strafprozesse, das müßten Sie wissen, zehn Jahre sitzen Sie hier!“ Lärm kündigte ihn an, den Doktor Finkelstein, in einer Wolke von Lärm lebte er, und er begann zu diktieren. „Lassen Sie den Apparat, den Sie doch nie verstehen werden, und setzen Sie sich an die Maschine!“ - Und leise vor sich hin wiederholte er: „Zehn Jahre sitzt sie schon hier“ - bis plötzlich ein Blick zu Fini hinüberflog und ihr Gesicht streifte und eine dunkle Erinnerung an die Erzählung des Doktor Blum von einer neuen, jungen Hilfskraft weckte.
 
Wie flatterte das Herz, wenn er diktierte, die großen, fremden, nie gehörten Worte sprudelten, Sturzbäche erstaunlicher Satzgefüge, prachtvoll exotische Klänge, lateinische Namen, Sätze, labyrinthisch gebaute, mit kunstvoll verborgenen Prädikaten, die manchmal unerklärlich verlorengingen. Während Fini stenographierte, überhörte sie ein Wort, mißverstand sie einen Namen, und der Bleistift, mühsam unter den Druck des Zeigefingers gezwungen, begann zu flattern, wild auf raschelndem Papier, der Klang eines gehörten Wortes zeugte ein ähnliches im Bewußtsein, drohend erhob sich am Ende des Diktats die unerläßliche Vorlesung des Stenogramms, und daran mußte Fini denken, während sie schrieb. An die nächste halbe Stunde, in der es sich erweisen sollte, wie kläglich das Diktat ausgefallen war, an die mißlungenen Sätze mit den verstümmelten Namen, die weggelassenen Paragraphen und verschobenen Prädikate. Es war, als hätte man ein verrücktes, wirbelndes Rad zu stenographieren; große, bunte Räder kreisten, wuchsen violett und rot gerändert aus dem Papier.
 
Dann erfolgte die Kündigung, notgedrungen, Entlassung auf der Stelle sogar. Rückkehr mit hängendem Kopf und Suchen in den kleinen Anzeigen des Morgenblattes. Warten in den Vorzimmern und sorgsames Kalligraphieren der gleichlautenden Offerten. „Punktum, Schluß!“ schrie Doktor Finkelstein,“lesen Sie, schnell!“ Aber an diesem wunderbaren Tage strömte Rettung, plötzlich und dankbar empfangen, aus allen Türen. Nun klingelte jemand, und Exzellenz Helena trat ein, ihre Stimme klang hell, eine Siegesfanfare, in hellem Kleid rauschte sie mit dem kühngeschwungenen Hut voll jugendlicher Kornblumen. Aus einer merkwürdigen, großen Welt kam sie, aus der Welt der noblen Klientel; Leere war um sie, kein stenographierendes Mädchen und kein Bürodiener, durch Kleider und Körper drangen ihre Blicke, aus Glas war man selbst, ein durchsichtiger Gegenstand. Die tobende Wildheit Doktor Finkelsteins war dahin, Höflichkeiten stotterte er und empfahl sich bestens, den Sozius versprechend.
 
Einen Akt galt es zu suchen, einen verlorenen Akt. Exzellenz Helena contra Ehegatten, und man suchte ihn unter H, verzweifelt, schnell, fünfmal durchblätterte Fini den Buchstaben H, bis Doktor Blum ungeduldig Tuschak rief, Exzellenz Tuschak. Unter T fand sich der Akt.
 
Währenddessen saß Tilly eifrig gebeugt über raschelnden Papieren, Bleistifte spitzend, Radiergummis ordnend, Löschblätter schneidend, Briefmarken zählend; vergebens suchte Fini ihren Blick, den freundschaftlichen Blick, den Hilfe versprechenden - ein böses Ding war Tilly, sie stellte sich fleißig und ließ den Kameraden im Unglück. Es verdroß und tat weh, das Blut schoß in die Wangen, Fini fühlte, wie ein Strumpfband sich lockerte, aber ein rettender Griff nach dem Knie war verboten und hätte ein Jucken vorgetäuscht, das lockere Band und der rutschende Strumpf nahmen den letzten Rest von Haltung, Papiere stoben flatternd auseinander.
 
Dann folgte eine heilende Stille, keine Klingel weckte. Fini sah durchs Fenster, sah die langsame Turmuhr, das rote Kloster mit dem Wandelgang für die Nonnen im Park, die hin und her schritten, schwarz und weiß, fremde Geschöpfe im Jenseits hinter den roten Mauern, im Garten, im Vorhof der ewigen Seligkeit. Die Scheu vor den Bräuten Christi verschwand, und Fini schien es wunderbar im Garten des Klosters.
 
Langsam rückten die goldenen Zeiger vor, Exzellenz Helena verrauschte, einen Augenblick stand Doktor Finkelstein noch da mit funkelnden Brillengläsern, dann ratterte er los mit der schwarzen Mappe und der flatternden Hutkrempe.
 
In den Straßen war der Frühling, es hatte geregnet, und die großen Kieselquadersteine leuchteten rot und bläulich, als spiegelte sich in ihnen ein Regenbogen. Frisch gewaschen war das Gras auf den Rasenbeeten, die Amseln standen schwarz in der Straßenmitte, Fini schlenderte langsam mit Tilly, heute schon erwachsen, unwohl und Frau.
 
„Ich sehe schlecht aus“, sagte Fini, „siehst du nicht? Ich bin unwohl“, sagte Fini wie etwas Selbstverständliches und maß die Brüste Tillys, die unter der dünnen Bluse zitterten. Die Männer lächelten sie an, die jungen Männer, die beutegierig durch die Straßen gingen.
 
Bei Trillby lockte gelbes Eis, von zarten Waffeln überdeckt, in rundgeschliffenen Eiergläsern, die halben und ganzen Portionen auf marmornen Tischchen draußen, und die tiefen Korbsessel. Das Porto, das bitter verdiente, ging zur Hälfte drauf, ein Trinkgeld bekam die Kellnerin, und knapp, ehe ein Einjähriger sich anschickte, aus der hinteren Ecke an den Tisch der Mädchen zu treten, standen sie auf und schritten, neu gestärkt und den Glanz der untergehenden Sonne vor sich auf den Gesichtern, um die Ecke.
 
Es duftet zu Hause nach süßen Dingen, die man für den heimkehrenden Vater bereitet, der Bruder Josef tobt - und als wären Jahrzehnte seit gestern vergangen, so füllt wieder die graue Unerbittlichkeit das Haus, die Treppe und die Mutter. Dahin ist die warme Bettheimlichkeit von gestern, die Mutter kommt forschend aus der Küche, Einzelheiten des Tagesablaufes will sie wissen, unablässig. Tief schneiden die Seufzer ihrer Unzufriedenheit ins Herz, die Nacht kommt und die geizige Petroleumlampe mit dem graublau angehauchten Glaszylinder, aus dem die Nachbarin Regen für morgen prophezeit.
 
VI.
 
Es regnete wirklich, und der Vater kam, mit ergrauten Schläfen, rätselhaft klein geworden und behaftet mit dem Duft von Jodoform, Hygiene, Rotem Kreuz und Eisenbahn.
 
Eine Granate hatte ihn Gott sei Dank verschüttet; nun war er da, für immer vielleicht, aber ratlos inmitten seiner gesunden Familie, betäubt von der Ankunft in seinem eigenen Haus, heimatlos in der Heimat und außergewöhnlich zwischen dem Gewöhnlichen, mit suchenden Blivken, die immer abglitten und zurückzukehren schienen in eine Ferne, in die verlassene Ferne, deren Schattenriß wir kaum ahnen konnten, deren Wirklichkeit uns niemals erkennbar war.
 
In Fini lebte er als der große, starke Mann, der sie in die Arme nahm, als er schied, jetzt war er klein und gedrückt und ihn umarmte Fini.
 
„Lauter sprechen“, bat er und erzählte, daß er schwerhörig geworden. Man sprach lauter, man schrie, und er hatte doch nicht verstanden, er war stocktaub, und nach zwei Tagen kam er mit einem schwarzen Hörrohr, das seltsam und erschrecklich aus der oberen Tasche seines Uniformrocks einen langen Hals mit breitem Trichter reckte. Verwandelt war er ohne Instrument und noch mehr, wenn er es ans Ohr legte.
 
Jeden Tag humpelte er an seinem Stock ins Spital und brachte den Geruch der Medikamente nach Hause und manchmal einen großen, länglichen Brotlaib, den man beim Bäcker nicht bekam. Die Verwandten kamen, ihn zu begrüßen, sie schrien mit Lust und weideten sich an seinen Mißverständnissen und lachten verstohlen. Arnold, der Onkel, wollte seine guten Touren partout nicht verkaufen, und man sprach von einer Neugründung der Existenz.
 
Dann waren die lauten Besuchstage verrauscht, und einmal entstand ein Streit wegen einer Zündholzschachtel, die der Vater im Spital vergessen hatte oder im Wirtshaus - wer konnte es wissen? Ein wenig trank er, dann war er stiller als gewöhnlich, und manchmal stahl er kleine Dinge aus dem Hause. Die Mutter schrie, nur sie allein verstand er gut, und er blieb die Antwort nicht schuldig. Aber sprach die Mutter leise, verstand er dennoch nichts, und sie durfte fluchen – und Worte, die sie tief zurückgedrängt hätte, wäre er nicht taub gewesen, tanzten jetzt frech über ihren Mund und trafen ihn nicht, so daß er lächeln konnte, wenn sie „Schubiak“ sagte.
 
In der Nacht aber hörte man sie zärtlich flüstern im Bett, wenn Fini  zufällig erwachte; spät nach Mitternacht drang das Wispern schwül aus dem Schlafzimmer. Da belebte sich wahrscheinlich sein Gehör, denn es ging um Liebesdinge. Merkwürdig war, daß sie ihren Streit vergessen konnten, wenn sie Körper an Körper lagen; der warme Milchduft, der von der Mutter kam, versöhnt ihn, dachte Fini.
 
Warm war die Nacht, und das Bett strömte Wärme aus; Fini stand auf und ging ans offene Fenster, während Vater und Mutter im Schlafzimmer eine Kerze anzündeten mit heiserem Kichern.
 
Rührung überfällt uns in der klaren Nachtluft, wenn die Sehnsucht aus den blauen Gründen zu uns kommt und am Fenster der Pfiff einer weitrollenden Lokomotive hängenbleibt, auf dem Bürgersteig gegenüber liebesdurstig eine Katze schleicht, in einem Kellerfenster verschwindet, hinter dem der Kater lauert. Groß und sternenreich ist der Himmel über uns, zu hoch, um gütig zu sein, zu schön, um nicht einen Gott zu erhalten. Die nahen Kleinigkeiten und die ferne Ewigkeit haben einen Zusammenhang, und wir wissen nicht, welchen. Vielleicht wüßten wir ihn, wenn die Liebe zu uns käme; sie ist mit den Sternen verwandt und mit dem Schleichen der Katze, mit dem Pfiff der Sehnsucht und mit der Größe des Himmels.
 
Zwei Menschen entkleideten sich drüben, hinter den Jalousien sah man ihre Schatten, eine Hand löschte mit wehendem Schwung die Kerze aus, und Mann und Frau gingen schlafen - jetzt flüsterten sie, wie die Eltern flüstern. Fini fühlte die Nachtluft nicht mehr, rote Kreise vor den Augen sah sie, ein jäher Blutstrom rann in die Schenkel, und die Spitzen ihrer Brüste wuchsen, streckten sich dem Draußen, den Lokomotiven, den Pfiffen, den Sternen entgegen.
 
Der neue Tag graute; hinter den Häusern erhob sich ein weißes Leuchten. Sonntag war es. Der Morgen breitete sich aus, schnell hellte das Zimmer auf, am Nachmittag gehen wir mit Tilly ins Atelier; wir werden neue, wunderbare Dinge erleben, in einer unbekannten Welt, neue, große Dinge, kleine, kleine Fini.
 
VII.
 
Dieser Nachmittag im Atelier behielt seine leuchtende Seltsamkeit noch lange Jahre später, als Fini schon in einer anderen Welt lebte und die süße Dummheit ihrer jungen Tage vergessen und vergraben hatte.
 
Mitten zwischen den großen und klugen Menschen war sie noch einsamer als daheim, geringer als in den weiten, großen Straßen der großen Stadt, wenn sich das Leben eisern über ihrem kleinen Kopfe wölbte.
 
Aus allen Bereichen der wunderbaren, ungekannten und kaum erahnten Welt strömten die Gedanken der Menschen, die schönen, die zarten, die unverständlichen, die weichen Gedanken, die Musik aus unzähligen, verstreuten und verborgenen Instrumenten. Die Hälfte verstand sie nicht und wußte nicht, wen zu fragen; denn unerreichbar war Tilly, die Erwachsene, Gewandte, die kühn zu Hause war, wo man sie hinstellte, und aus der glanzvollen Mitte, die sie einnahm und die ihr gebührte, in den stillen Winkel Finis kühles Lächeln schickte und kalt strahlenden Blick. Fini fühlte, daß keine Hilfe kam, und es war ihr, als müßte sie, ungelernt, wie sie war, in der nächsten Stunde zur Prüfung treten. Stolz und mutig waren die Menschen, gewiß kamen sie aus den großen, kühlen, bewachten Häusern und aus den reichen Zimmern, in denen Spiegel an jeder Wand die Haltung ihrer Besitzer unter steter Aufsicht halten und bis zur Vollkommenheit verbessern. Wer aber, wie wir, aus den engen Häusern kommt und in den Zimmern mit den blinden Spiegeln heranwächst, bleibt zage und gering sein ganzes Leben lang.
 
Schon sprachen die Männer, sie hatten braune Gesichter und mutige Augen, und sie waren auch im Kriege gewesen, wie der Vater; aber sie kamen nicht klein und gedrückt und nicht taub nach Hause, und selbst aus ihrer Verstümmelung noch strahlte Glanz. Die Männer sind aus einer ganz anderen Welt als wir kleinen Mädchen, sie sind klug, stark und stolz, sie lernen viel und wissen viel, sie suchen die Gefahren, und durch die Straßen gehen sie herrschend, und ihrer ist, was sie sich wünschen, die Häuser, die Bahnen, die Frauen und die ganze Stadt.
 
 





   lifedays-seite - moment in time