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Literatur


04.3


Geschichten - Joseph Roth
Werke 4
1916- 1929

Romane und Erzählungen






Der blinde Spiegel 4
1925

 
X.
 
Den kleinen Kasten hatte sie endlich, treulich gezimmert hat ihn der Vater. Am Sonntag zog er ihn aus der Ecke hervor, einen braunpolierten Kasten mit glänzendem Nickelschloß. Neue Skizzen von Ernst und eine neue wandelnde Frau auf einsamem Pfad zwischen melancholisch blühenden Feldern tat Fini hinein; mit lieblichen Fingern glättete sie gedrucktes Stanniolpapier ungesehen des Nachts auf der Bettkante, bunte Seidenfähnchen und Bänder, Perlmutterknöpfe und eine gefundene Schlipsnadel, einen japanischen Sonnenschirm aus buntem Papier und die weiche, oft gestreichelte Feder eines Hahnes, die rostbraune und golden schimmernde. Es war eine Heimat inmitten des Heims, eine heimliche Heimat, bergend und geborgen, liebend und geliebt, verschlossen und gütig. Unter dem Bett stand der Kasten, wartete auf die zärtliche, einsame Stunde vor dem Schlafengehen, zweimal knackte der sicher sitzende Schlüssel aus blankem, kühlem Stahl im sicheren Schloß, und leicht, wie in Gelenken, bewegte sich die Tür in den Angeln. Geborgen war alles gut vor dem Zugriff neugierig forschender Finger.
 
XI.
 
Es geschah um diese Zeit, daß Tilly krank wurde. Es fehlte wochenlang der unermüdliche Lauscher, das durstig geöffnete Ohr, unausgesprochenes Erlebnis vieler Tage staute sich in Fini.
 
Nichts erfuhr sie von der Krankheit der Freundin, Ausflucht und lächelndes Mißtrauen hatte man in ihrem Hause für sorgende Fragen. Zwei Wochen später ging Fini ins Sanatorium, lange zögerte sie mit dem Entschluß, sie liebte die Luft des Spitals nicht und die vergitterten Fenster.
 
Es lebte in ihr das Krankenhaus, nie vergessen, unvergeßlich, in dem sie gelegen war, sechsjährig und scharlachkrank, die schleichende, schwarze Krankenschwester, die bärtige Nonne, die im nächtlichen Saal vor dem aufgestellten Spiegel auf dem Nachtkästchen Haare aus dem Kinn zupfte. Die Schwester mit der Warze auf der Oberlippe, einem häßlichen Insekt. Noch schritt der weißgekittelte Arzt durch ihre Träume, die Brille auf die Stirn gerückt, der vieräugige Mann mit den tastenden Händen, den gelben, warmen, dichtbewachsenen ; noch lebten in Fini die Besuchsnachmittage von drei bis fünf, wenn die Mutter kam und Kuchen liegenließ, den die Schwester sich nahm; die Korridore mit den Kranken in blaugestreiften Kleidern, mit den pergamentenen Gesichtern; und die große Badestube mit den vielen nackten Frauen, die verkrüppelte Zehen und Ballen an den Füßen hatten.
 
Geruch von Kampfer und Jodoform lagerte, eine böse Ahnung, über dem grünen Rasen des Sanatoriums und hemmte den Schritt. Fini roch an dem Flieder, den sie mitbrachte. Im dritten Stock lag Tilly, allein im kleinen Zimmer, blaß und verändert und mit hängendem Mund. Nicht mehr das Mädchen, das erwachsene, erwachte, sicher und bewundert; nicht mehr die Freundin, die starke, die ratende und tröstende, Tilly, die stolze und abweisende; krank war Tilly und unheilbar. Nicht mehr drohte ihr der Tod, gestorben war sie und lebte. Anders und eine Fremde.
 
„Kleine Fini“, sagte Tilly, „wenn du wüßtest. Ein Tier ist der Mann, wenn er zu uns kommt und wenn er uns verläßt. Wenn wir dem eisernen Druck seiner Schenkel nachgeben und wenn er aufsteht, müde und mit nachlässigen Fingern uns das Kleid zuhakt. Kein Arzt will dir das Kind abtreiben, und wenn du Seife nimmst, erkrankst du. Jetzt ist alles vorbei – er kam nicht, als ich ihm schrieb, als ich sterben sollte, und auch jetzt kommt er nicht. Er wird niemals kommen. Auf den Knien flehte er mich an, und süßen Orangenlikör mußte ich trinken. Kleine Fini, wenn du wüßtest.“
 
Wer war es? Ludwig war es. Fini hatte ihn vergessen, wie man einen alten Gegenstand vergißt, der auf dem Grunde des Kästchens ruhte, des sorgsam gehüteten. Ludwig mit der dunklen Cellostimme, der Geiger in der geblümten Weste. Von seiner geheimen Kraft erzählte Tilly, der die Frauen - und klügere auch - erlagen. Wenn er eine berührte, so, man kann es nicht schildern, würde sie schwach und war ihm verfallen. Ein böses, fremdes Tier ist Ludwig, der Mann.
 
„Allen mußte es geschehen. Du wirst es erleben!“ sagte Tilly und weinte. Der Abend brach plötzlich heran, er überfiel die Sonne. Eine Amsel pfiff im Garten. Ein Ruf scholl im Korridor und der huschende Schritt einer Schwester. Eine Klingel schrillte. Aus fernen Straßen kam Geheul einer Autohupe. Der mitgebrachte Flieder begann stark zu duften wie hundert Gärten.
 
Allein ging Fini durch die Straßen, nicht mehr am nächtlichen Marktplatz vorbei, wo die schwarz gelagerten Fässer sparsamen Schatten gaben, wo Ernst wartete, der Mann, ein grausames Tier. Sie fühlte die sanfte Rundung seiner hohlen Hand dennoch auf der kleinen Brust, deren Spitzen sich hart und drängend entgegenstreckten, dem Abend, der Straße und dem grausamen Mann. Sie floh nach Hause, ängstlich geduckt unter dem Druck des eisernen Lebens, oft gestreift im Gewirr der Stadt vom Arm eines männlichen Wesens. Heim huschte sie, die kleine Fini, hinein in das dunkle Haustor, die schadhafte Treppe empor; niemand war zu Hause, und ungesehen durfte sie weinen.
 
Spät, nach Wochen, kam Tilly zurück, verändert und alt, mit einer neuen Frisur, weil sie lockeres Haar bekommen hatte. Wie eine Frau aus fremden Bezirken war Tilly, schweigsam und gut, nicht mehr fleißig geduckt über raschelnden Papieren, wenn Doktor Finkelstein eintrat, nicht mehr Bleistifte spitzend, sondern mit schlaffer Brust und länglich gewordener Nase, mit festgeschlossenen Lippen, nicht mehr lächelnd in den Straßen, durch die sie zusammen gingen, und einmal nur gesprächig, mit tränenerfüllten Augen, in der kleinen, billigen Konditorei, während es regnete, stundenlang, den ganzen Nachmittag.
 
Fremd und schrecklich war alles, was Tilly erzählte, von Ludwig, dem alle Mädchen verfielen, von den jungen Ärzten im Krankenhaus, von der Narkose, in die man untertauchte wie in ein Meer des Vergessens, von dem Erwachen, nachdem man sich tot geglaubt, von den düsteren Abenden daheim und dem ewigen Seufzen der Mutter.
 
Es regnete, und Tilly erzählte; gedrückt saßen sie in der dunkelnden Ecke der Konditorei.
 
XII.
 
Eine neue Stelle für beide suchte und fand Tilly, in der großen Warenzentrale, in der man Teuerungszulagen bekam und in der es lustig war.
 
Hell und weit gestreckt lagen die Räume, reich an Fenstern, besonnt und lärmvoll und erfüllt von der Tätigkeit vieler Mädchen und Männer. Die Mädchen saßen an den Schreibmaschinen, weiß und lächelnd, wie weiße Pflanzen blühten sie auf neben den Tischen. Viele Männer gab es, lächelnde und mürrische. Vorgesetzte, die man fürchtete und die zu gewinnen schwer war, und andere, denen man im Korridor begegnete, vor den doppelt gepolsterten Türen des Chefs.
 
Neue Freundschaft gewann Fini, mit Hede, der blonden, die Pralines bekam und aus ihrer reich gefüllten Schublade verteilte.
 
Manchmal kam der junge Baron, vom Kriegsdienst enthoben und leutselig. Manchem weißen Mädchen griff er ans Kinn, und der und jener schenkte er Blumen.
 
Offiziere, heimgekehrt und in Urlaub, brachten froh gelaunt wunderbare Dinge, die man seit zwei Jahren nicht mehr gegessen hatte.
 
Nicht mehr ängstlich vor dem braunen Telephonapparat saß Fini, nicht mehr ratlos vor den buntgestreiften Schnüren.
 
Nicht mehr zitterte die Luft vor dem Schrei Doktor Finkelsteins, des fürchterlich mit Brillengläsern funkelnden.
 
Und am Nachmittag, spät, in die schiefen, gelben Strahlen der Sonne, liefen die Mädchen hinaus, und auf jede wartete einer.
 
XIII.
 
Eines Tages wartete Ludwig draußen. Fini hatte ihn vergessen, wie man einen Gegenstand vergißt, der tief auf dem Grund des Kastens ruht, des sorgsam gehüteten.
 
Leise sprach er wieder, mit verschleierter Stimme, die wie ein Cello klang, barhaupt ging er, und sein weicher Hut steckte zusammengerollt in der Rocktasche.
 
Erschrocken war Fini und spähte nach einer Nebenstraße, durch die sie flüchten könnte. Ungeschickt war sie und dachte nach, wie sie fliehen könnte, wenn sie gewandter wäre in der großen Kunst der Lüge und der Ausflüchte.
 
Das war Ludwig, der Mann; weich ging seine Stimme, gern hörte sie ihren Klang. Einmal blickte sie seitwärts, um sein Angesicht zu sehen, und begegnete seinem Aug', dem dreieckig sonderbar geschnittenen, den aufwärts fliehenden, schmalen Brauen, und sie dachte an Tilly.
 
„Sie denken an Tilly“, sagte Ludwig, unheimlich, der Mann, ein wildes Tier, vor dem es keine Rettung gab.
 
„Tilly ist eine dumme Frau“, sagte Ludwig und lachte kurz und tief. Nie hatte Fini sein Lachen gehört, es klang wie ein kleiner, samtener Donner.
 
„Sie lieben den Maler Ernst?“ fragte Ludwig.
 
„Nein!“
 
„Ich bin in Sie verliebt“, sprach Ludwig und steuerte in eine belebte Straße, in der sie sich aneinanderdrängen mußten.
 
„Tilly hat Ihnen von mir Böses erzählt, und ich bin eigentlich nicht immer gut zu ihr gewesen. Aber Ihnen bin ich gut. Sie sind jung und schüchtern und ein bißchen dumm.“
 
Von seinem Arm ging eine große Wärme aus, Fini fühlte sie durch das dünne Kleid.
 
„Gehn wir in den Park“, sagte Ludwig.
 
Es ist zu spät, hätte sie gerne gesagt, und sie mußte nach Hause. Dennoch ging sie an Ludwigs Seite und dachte an Tilly.
 
Sie gingen durch den Park, und jeden Augenblick fürchtete Fini, Ernst zu begegnen.
 
„Fürchten Sie nichts!“ sagte Ludwig. „Ernst ist heute eingeladen!“
 
Alles las er in ihren dummen Augen, und ihre Furcht stieg und schwoll an, und nun zitterte sie leise im Dämmer des Parks.
 
Ludwigs Arm fühlte sie, und gleichzeitig fiel ihr Blick auf eine verborgene Bank. Da saß Tilly und neben ihr ein Mann.
 
Ludwig lachte noch einmal kurz, wie vorher.
 
Durch fremde, dunkle Alleen gingen sie, nicht mehr war es der vertraute Park, der gute, schattende. Weit waren die Klänge der Musik, aus einer fernen Welt kamen sie. Fremd war der Park und fremd der Teich und fremd die Wasserrosen, die auf ihm schwammen. Ludwig nahm den Arm nicht mehr weg, wie eine Fessel drückte er und schmerzte nicht.
 
Plötzlich standen sie vor einem Haus, gingen sie eine Treppe empor, eine zweite, eine dritte, und müde wurde Fini, und ihr schwindelte vor den Treppen, die gewunden und mit ungewöhnlich hohen steinernen Stufen unendlich auf einen Turm zu führen schienen. Sah sie durch das Geländer hinunter, erblickte sie einen kleinen Ausschnitt des Flurs, ein dunkles, unbekanntes und rufendes Loch. Neben ihr ging Ludwig auf der schmalen Treppe, gedrängt an sie und Wärme verbreitend, und - blieb sie stehn und hoffte sie, daß er vorbeigehn oder zurückbleiben würde - so geschah dieses nicht, sondern auch er blieb auf demselben Treppenabsatz, und ihre Müdigkeit erriet er und legte seinen Arm um ihren Körper. Nichts sprachen sie, niemand begegnete ihnen, keine Stimme erscholl, und kein Laut wurde lebendig hinter den Türen der Wohnungen, an denen sie vorbeikamen. Fini hörte nur ihr eigenes und Ludwigs starkes Atmen. Sie wußte nicht, wohin er sie führte, und sie fürchtete sich auch nicht mehr. Eine große Leere war in ihr, und sie rastete eine Weile. Als lägen Schleier, stillende, über sie gebreitet, hörte sie gedämpftes Knarren einer Tür, und als blickte sie in einen Spiegel, sah sie sich selbst hineinschreiten in die weiße Helle des Ateliers.
 
Notenblätter sah sie, verstreute, über Tischen und Stühlen, und eine wirre Welt, vor der sie Achtung bekam. Hoch wohnte Ludwig, unter einem gläsernen Dach, und es fiel Fini ein, daß es furchtbar sein mußte, so allein und so preisgegeben ein Gewitter zu erleben, Blitz und Donner und prasselnden Regen, nur durch Glas getrennt von dem Zorn des Himmels, aber nicht vor ihm geschützt. Jetzt sah man die Sonne fern hinter den Dächern rot verglühen, und die Gegenstände im Atelier bekamen eine warme, goldene Färbung. Geheimnisvolle Zeichen waren die Noten auf den großen, harten Papierbogen, halbbeschrieben nur lagen einige, und die schwarzen Notenköpfchen saßen auf den dünnen Linien wie winzige Vögel auf Telegraphendrähten.

 





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