Der
blinde Spiegel 4
1925
X.
Den
kleinen Kasten hatte sie endlich, treulich gezimmert hat ihn der Vater.
Am
Sonntag zog er ihn aus der Ecke hervor, einen braunpolierten Kasten mit
glänzendem Nickelschloß. Neue Skizzen von Ernst und eine neue wandelnde
Frau
auf einsamem Pfad zwischen melancholisch blühenden Feldern tat Fini
hinein; mit
lieblichen Fingern glättete sie gedrucktes Stanniolpapier ungesehen des
Nachts
auf der Bettkante, bunte Seidenfähnchen und Bänder, Perlmutterknöpfe
und eine
gefundene Schlipsnadel,
einen japanischen Sonnenschirm aus buntem Papier und die weiche, oft
gestreichelte Feder eines Hahnes, die rostbraune und golden
schimmernde. Es war
eine Heimat inmitten des Heims, eine heimliche Heimat, bergend und
geborgen,
liebend und geliebt, verschlossen und gütig. Unter dem Bett stand der
Kasten,
wartete auf die zärtliche, einsame Stunde vor dem Schlafengehen,
zweimal
knackte der
sicher sitzende Schlüssel aus blankem, kühlem Stahl im sicheren Schloß,
und
leicht, wie in Gelenken, bewegte sich die Tür in den Angeln. Geborgen
war alles
gut vor dem Zugriff neugierig forschender Finger.
XI.
Es
geschah um diese Zeit, daß Tilly krank wurde. Es fehlte wochenlang der
unermüdliche Lauscher, das durstig geöffnete Ohr, unausgesprochenes
Erlebnis
vieler Tage staute sich in Fini.
Nichts
erfuhr sie von der Krankheit der Freundin, Ausflucht und lächelndes
Mißtrauen
hatte man in ihrem Hause für sorgende Fragen. Zwei Wochen später ging
Fini ins
Sanatorium, lange zögerte sie mit dem Entschluß, sie liebte die Luft
des
Spitals nicht und die vergitterten Fenster.
Es
lebte in ihr das Krankenhaus, nie vergessen, unvergeßlich, in dem sie
gelegen
war, sechsjährig und scharlachkrank, die schleichende, schwarze
Krankenschwester, die bärtige Nonne, die im nächtlichen Saal vor dem
aufgestellten Spiegel auf dem Nachtkästchen Haare aus dem Kinn zupfte.
Die
Schwester mit der Warze auf der Oberlippe, einem häßlichen Insekt. Noch
schritt
der weißgekittelte Arzt durch ihre Träume,
die Brille auf die Stirn gerückt, der vieräugige Mann mit den tastenden
Händen,
den gelben, warmen, dichtbewachsenen ; noch lebten in Fini die
Besuchsnachmittage von drei bis fünf, wenn die Mutter kam und Kuchen
liegenließ, den die Schwester sich nahm; die Korridore mit den Kranken
in
blaugestreiften Kleidern, mit den pergamentenen Gesichtern; und die
große
Badestube mit den vielen nackten Frauen, die verkrüppelte Zehen und
Ballen an
den Füßen hatten.
Geruch
von Kampfer und Jodoform lagerte, eine böse Ahnung, über dem grünen
Rasen des
Sanatoriums und hemmte den Schritt. Fini roch an dem Flieder, den sie
mitbrachte. Im dritten
Stock lag Tilly, allein im kleinen Zimmer, blaß und verändert und mit
hängendem
Mund. Nicht mehr das Mädchen, das erwachsene, erwachte, sicher und
bewundert;
nicht mehr die Freundin, die starke, die ratende und tröstende, Tilly,
die
stolze und abweisende; krank war Tilly und unheilbar. Nicht mehr drohte
ihr der
Tod, gestorben war sie und lebte. Anders und eine Fremde.
„Kleine
Fini“, sagte Tilly, „wenn du wüßtest. Ein Tier ist der Mann, wenn er zu
uns
kommt und wenn er uns verläßt. Wenn wir dem eisernen Druck seiner
Schenkel
nachgeben und wenn er aufsteht, müde und mit nachlässigen Fingern
uns das Kleid zuhakt. Kein Arzt will dir das Kind abtreiben, und wenn
du Seife
nimmst, erkrankst du. Jetzt ist alles vorbei – er kam nicht, als ich
ihm
schrieb, als ich sterben sollte, und auch jetzt kommt er nicht. Er wird
niemals
kommen. Auf den Knien flehte er mich an, und süßen Orangenlikör mußte
ich
trinken. Kleine Fini, wenn du wüßtest.“
Wer
war es? Ludwig war es. Fini hatte ihn vergessen, wie man einen alten
Gegenstand
vergißt, der auf dem Grunde des Kästchens ruhte, des sorgsam gehüteten.
Ludwig
mit der dunklen Cellostimme, der Geiger in der geblümten Weste. Von
seiner
geheimen Kraft erzählte Tilly, der die Frauen - und klügere auch -
erlagen.
Wenn er eine berührte, so, man kann es nicht schildern, würde sie
schwach und
war ihm verfallen. Ein böses, fremdes Tier ist Ludwig, der Mann.
„Allen
mußte es geschehen. Du wirst es erleben!“ sagte Tilly und weinte. Der
Abend
brach plötzlich heran, er überfiel die Sonne. Eine Amsel pfiff im
Garten. Ein
Ruf scholl im Korridor und der huschende Schritt einer Schwester. Eine
Klingel
schrillte. Aus fernen Straßen kam Geheul einer Autohupe. Der
mitgebrachte
Flieder begann stark zu duften wie hundert Gärten.
Allein
ging Fini durch die Straßen, nicht mehr am nächtlichen Marktplatz
vorbei, wo
die schwarz gelagerten Fässer sparsamen Schatten gaben, wo Ernst
wartete, der Mann, ein grausames Tier. Sie fühlte die sanfte Rundung
seiner
hohlen Hand dennoch auf der kleinen Brust, deren Spitzen sich hart und
drängend
entgegenstreckten, dem Abend, der Straße und dem grausamen Mann. Sie
floh nach
Hause, ängstlich geduckt unter dem Druck des eisernen Lebens, oft
gestreift im
Gewirr der Stadt vom Arm eines männlichen Wesens. Heim huschte sie, die
kleine
Fini, hinein in das dunkle Haustor, die schadhafte Treppe empor;
niemand war zu Hause,
und ungesehen durfte sie weinen.
Spät,
nach Wochen, kam Tilly zurück, verändert und alt, mit einer neuen
Frisur, weil
sie lockeres Haar bekommen hatte. Wie eine Frau aus fremden Bezirken
war Tilly,
schweigsam und gut, nicht mehr fleißig geduckt über raschelnden
Papieren, wenn
Doktor Finkelstein eintrat, nicht mehr Bleistifte spitzend, sondern mit
schlaffer Brust und länglich gewordener Nase, mit festgeschlossenen
Lippen,
nicht mehr lächelnd in den
Straßen, durch die sie zusammen gingen, und einmal nur gesprächig, mit
tränenerfüllten Augen, in der kleinen, billigen Konditorei, während es
regnete,
stundenlang, den ganzen Nachmittag.
Fremd
und schrecklich war alles, was Tilly erzählte, von Ludwig, dem alle
Mädchen
verfielen, von den jungen Ärzten im Krankenhaus, von der Narkose, in
die man
untertauchte wie in ein Meer des Vergessens, von dem Erwachen, nachdem
man sich
tot geglaubt, von den düsteren Abenden daheim und dem ewigen Seufzen
der
Mutter.
Es
regnete, und Tilly erzählte; gedrückt saßen sie in der dunkelnden Ecke
der
Konditorei.
XII.
Eine
neue Stelle für beide suchte und fand Tilly, in der großen
Warenzentrale, in
der man Teuerungszulagen bekam und in der es lustig war.
Hell
und weit gestreckt lagen die Räume, reich an Fenstern, besonnt und
lärmvoll und
erfüllt von der Tätigkeit vieler Mädchen und Männer. Die Mädchen saßen
an den
Schreibmaschinen, weiß und lächelnd, wie weiße Pflanzen blühten sie auf
neben
den Tischen. Viele Männer gab es, lächelnde und mürrische. Vorgesetzte,
die man
fürchtete und die zu gewinnen schwer war, und andere, denen man im
Korridor
begegnete, vor den doppelt gepolsterten Türen des Chefs.
Neue
Freundschaft gewann Fini, mit Hede, der blonden, die Pralines bekam und
aus
ihrer reich gefüllten Schublade verteilte.
Manchmal
kam der junge Baron, vom Kriegsdienst enthoben und leutselig. Manchem
weißen
Mädchen griff er ans Kinn, und der und jener schenkte er Blumen.
Offiziere,
heimgekehrt und in Urlaub, brachten froh gelaunt wunderbare Dinge, die
man seit
zwei Jahren nicht mehr gegessen hatte.
Nicht
mehr ängstlich vor dem braunen Telephonapparat saß Fini, nicht mehr
ratlos vor
den buntgestreiften Schnüren.
Nicht
mehr zitterte die Luft vor dem Schrei Doktor Finkelsteins, des
fürchterlich mit
Brillengläsern funkelnden.
Und
am Nachmittag, spät, in die schiefen, gelben Strahlen der Sonne, liefen
die
Mädchen hinaus, und auf jede wartete einer.
XIII.
Eines
Tages wartete Ludwig draußen. Fini hatte ihn vergessen, wie man einen
Gegenstand vergißt, der tief auf dem Grund des Kastens ruht, des
sorgsam
gehüteten.
Leise
sprach er wieder, mit verschleierter Stimme, die wie ein Cello klang,
barhaupt
ging er, und sein weicher Hut steckte zusammengerollt in der
Rocktasche.
Erschrocken
war Fini und spähte nach einer Nebenstraße, durch die sie flüchten
könnte.
Ungeschickt war sie und dachte nach, wie sie fliehen könnte, wenn sie
gewandter
wäre in der großen Kunst der Lüge und der Ausflüchte.
Das
war Ludwig, der Mann; weich ging seine Stimme, gern hörte sie ihren
Klang.
Einmal blickte sie seitwärts, um sein Angesicht zu sehen, und begegnete
seinem
Aug', dem dreieckig sonderbar geschnittenen, den aufwärts fliehenden,
schmalen
Brauen, und sie dachte an Tilly.
„Sie
denken an Tilly“, sagte Ludwig, unheimlich, der Mann, ein wildes Tier,
vor dem
es keine Rettung gab.
„Tilly
ist eine dumme Frau“, sagte Ludwig und lachte kurz und tief. Nie hatte
Fini
sein Lachen gehört, es klang wie ein kleiner, samtener Donner.
„Sie
lieben den Maler Ernst?“ fragte Ludwig.
„Nein!“
„Ich
bin in Sie verliebt“, sprach Ludwig und steuerte in eine belebte
Straße, in der
sie sich aneinanderdrängen mußten.
„Tilly
hat Ihnen von mir Böses erzählt, und ich bin eigentlich nicht immer gut
zu ihr
gewesen. Aber Ihnen bin ich gut. Sie sind jung und schüchtern und ein
bißchen
dumm.“
Von
seinem Arm ging eine große Wärme aus, Fini fühlte sie durch das dünne
Kleid.
„Gehn
wir in den Park“, sagte Ludwig.
Es
ist zu spät, hätte sie gerne gesagt, und sie mußte nach Hause. Dennoch
ging sie
an Ludwigs Seite und dachte an Tilly.
Sie
gingen durch den Park, und jeden Augenblick fürchtete Fini, Ernst zu
begegnen.
„Fürchten
Sie nichts!“ sagte Ludwig. „Ernst ist heute eingeladen!“
Alles
las er in ihren dummen Augen, und ihre Furcht stieg und schwoll an, und
nun
zitterte sie leise im Dämmer des Parks.
Ludwigs
Arm fühlte sie, und gleichzeitig fiel ihr Blick auf eine verborgene
Bank. Da
saß Tilly und neben ihr ein Mann.
Ludwig
lachte noch einmal kurz, wie vorher.
Durch
fremde, dunkle Alleen gingen sie, nicht mehr war es der vertraute Park,
der
gute, schattende. Weit waren die Klänge der Musik, aus einer fernen
Welt kamen
sie. Fremd war der Park und fremd der Teich und fremd die Wasserrosen,
die auf
ihm schwammen. Ludwig nahm den Arm nicht mehr weg, wie eine Fessel
drückte er
und schmerzte
nicht.
Plötzlich
standen sie vor einem Haus, gingen sie eine Treppe empor, eine zweite,
eine
dritte, und müde wurde Fini, und ihr schwindelte vor den Treppen, die
gewunden
und mit ungewöhnlich hohen steinernen Stufen unendlich auf einen Turm
zu führen
schienen. Sah sie durch das Geländer hinunter, erblickte sie einen
kleinen
Ausschnitt des Flurs, ein dunkles, unbekanntes und rufendes Loch. Neben
ihr
ging Ludwig auf der
schmalen Treppe, gedrängt an sie und Wärme verbreitend, und - blieb sie
stehn
und hoffte sie, daß er vorbeigehn oder zurückbleiben würde - so geschah
dieses
nicht, sondern auch er blieb auf demselben Treppenabsatz, und ihre
Müdigkeit
erriet er und legte seinen Arm um ihren Körper. Nichts sprachen sie,
niemand
begegnete ihnen, keine Stimme erscholl, und kein Laut wurde lebendig
hinter den
Türen der Wohnungen, an denen sie vorbeikamen. Fini hörte nur ihr
eigenes und Ludwigs
starkes Atmen. Sie wußte nicht, wohin er sie führte, und sie fürchtete
sich
auch nicht mehr. Eine große Leere war in ihr, und sie rastete eine
Weile. Als
lägen Schleier, stillende, über sie gebreitet, hörte sie gedämpftes
Knarren
einer Tür, und als blickte sie in einen Spiegel, sah sie sich selbst
hineinschreiten in die weiße Helle des Ateliers.
Notenblätter
sah sie, verstreute, über Tischen und Stühlen, und eine wirre Welt, vor
der sie
Achtung bekam. Hoch wohnte Ludwig, unter einem gläsernen Dach, und es
fiel Fini
ein, daß es furchtbar sein mußte, so allein und so preisgegeben ein
Gewitter zu
erleben, Blitz und Donner und prasselnden Regen, nur durch Glas
getrennt von
dem Zorn des Himmels, aber nicht vor ihm geschützt. Jetzt sah man die
Sonne
fern hinter
den Dächern rot verglühen, und die Gegenstände im Atelier bekamen eine
warme,
goldene Färbung. Geheimnisvolle Zeichen waren die Noten auf den großen,
harten
Papierbogen, halbbeschrieben nur lagen einige, und die schwarzen
Notenköpfchen
saßen auf den dünnen Linien wie winzige Vögel auf Telegraphendrähten.