Der
blinde Spiegel 5
1925
XIII.
„Was
soll ich Ihnen vorspielen?“ fragte Ludwig, die Geige mit demKinn
festhaltend,
und mit unglaubhaft geschickten Fingern strich er an dem schmalen,
weißglänzenden Bogen, als schliffe er ein Schwert, mit dem er Fini
töten
sollte. In einer großen Verlegenheit schwieg sie und suchte angestrengt
in
ihrem armen, vergeßlichen Kopfe nach dem Bild eines Konzertprogramms,
auf dem
ein Lied gestanden hatte, das ihr gefiel.
Wenig wußte sie von Musik, Fini, die kleine, und schließlich fiel ihr
ein, daß
es auch gleichgültig sei, was er spielte.
So
fing er an mit tiefen, dunkelvioletten Tönen, die Helle gebaren, kühn
gewölbt
spannten sich Bogen aus Musik, weich geschwellt und silbern gekräuselt
flossen
Wellen aus Musik. In der Mitte hörte er auf und legte die Geige auf den
Tisch,
aufschreckend wie plötzlicher Lärm fiel die plötzliche Stille ein.
Mitten
aus der wirren Unordnung des gläsernen Schranks holte er die schlanke
Likörflasche und zwei dünne Gläser mit unendlich zartem Geklirr. Fini
trank
Likör, zum erstenmal, er schmeckte süß und nach Orangenschalen, so
ähnlich
waren schon einmal gefüllte Schokoladenpralines gewesen - dieser Likör
aber war
nackt, nicht freundlich gebettet in lindernde Schale, und er ließ eine
süße
Taubheit zurück und schuf
ein sanftes Schaukeln violettfarbener Lichtwellen vor den schläfrigen
Augen.
Noch
hörte sie den Klang der plötzlich verstummten Geige und sah den
abendlichen
Himmel nahe über der gläsernen Decke des Ateliers.
Sie
hörte Ludwigs leise Bewegungen nicht und wußte nur, daß sie hier
eingeschlossen
war mit dem Mann, der gefährlich war, aber sie noch ruhen ließ, und sie
genoß
diese Stunde, die ihr blieb, wie ein Verurteilter die letzte Spanne
Zeit
genießt, die ihn von seiner Strafe scheidet.
Nun
stand er nahe bei ihr und sprach und sah ihr in die Augen und fiel, ehe
sie
begriffen hatte, in die Knie, barg seinen Kopf in ihrem Kleide und
weinte. Es
weinte Ludwig, der Mann, das Tier; sein Körper zuckte, seine breiten
Schultern
bebten. Fini, die kleine, verstand nicht, wie es gekommen war, sein
Schmerz
schmerzte sie.
Weil
wir so klein und gering sind, wird uns doppelt weh, wenn ein großer
Mann, der
hoch unter dem Himmel in Gottes Nähe lebt und schmelzende Melodien
spielt, kleiner
und geringer als wir vor uns liegt - und wir nur können ihn erlösen. So
leicht
fallen uns die Kleider ab, die welke, unbrauchbare Schale, locker
werden die
Knöpfe und lösen sich selbst. In uns siegt das Blut, das rote, schwer
ist der
Kopf, im Nebel sehen wir die behaarte Brust des Mannes, riechen den
Duft, den tierhaft
fremden, sehen das Gesicht, das fremde, in der Nähe fremdere.
Fini
schloß die Augen, fühlte ihre Brust in der warmen, gehüllten Schale
seiner
Hand, der schmerzhaft und liebend pressenden, spürte seine zuckenden
Finger
drückender in der heimlichen Höhlung des Knies. Heiß überhauchte sie
sein
heißer Atem und deckte sie zu, scharf biß er in ihre Lippen, und wie
ein
großer, betäubender, schmerzhafter und erschreckender Jubel kam in sie
der
Mann, in ihrem Innern fühlte sie
ihn, glühend mit ihrem Körper verschmelzend und fremd, ein Gast in ihr
und in
ihr zu Hause.
Langsam
kehrte Fini wieder in die Welt, Ludwig küßte sie matt und leise. Ihr
war, als
leckte er ihr Gesicht mit heißer, vertrocknender Zunge, Ludwig, der
Mann, ein
dankbar demütiges Tier.
XIV.
Heimlich,
des Nachts, an der Bettkante glättete Fini neu gesammeltes Silberpapier
und
kramte unter den sorglich gehüteten Schätzen das Bild hervor, die
wandelnde
Frau zwischen melancholisch blühenden Feldern.
Nicht
mehr lauschte sie aufgeregt dem nächtlichen Geflüster der Eltern, nicht
mehr
spähte sie nach den heißen Geheimnissen der nachbarlichen Häuser. Immer
noch
pfiffen die Züge durch die Nacht, wölbte sich der Himmel über der
schlafenden
Straße, schlichen die Katzen, gedrückt an die Wände. Aber nichts mehr
war
wunderbar, nicht mehr lockte der sehnsüchtige Schrei der Lokomotiven,
unverhüllt war
das Geheimnis schleichender Tiere und nachbarlichen Tuns hinter
blaßerleuchteten
Gardinen. Leer lagen vor ihr die kommenden Tage, Tage ohne Furcht, ohne
Hoffnung, wie ausgeräumte Gemächer, nichts konnten sie geben, nur den
kärglichen Widerhall zaghafter Schritte. Gleichgültig war das Getriebe
der
Straße, nicht mehr spannte sich eisern das Leben, nicht mehr ging Fini
ängstlich geduckt unter schmerzendem Joch.
Nicht
mehr war sie die wandelnde Frau zwischen blühenden Feldern, und fern
und
verloren war Ernst, der vergeblich wartete im geizigen Schatten der
nächtlich
gelagerten Fässer.
Am
Ende dieses Tages lauerte das Böse, das Tilly geschehen war, ferne noch
lag es,
aber sichtbar.
Inzwischen
reihte sich eine abenteuerliche Stunde im Atelier an die andere, das
Gespräch
mit Ludwig an das Spiel seiner Geige. Er holte nicht die klirrenden
Gläser aus
dem Schrank und die schlankgeschliffene Likörflasche. Sie legten sich
schlafen
mit unerbittlichem Gleichmaß, und schal war das Aufstehen wie das Ende
jeder
sparsam genossenen Freude. Ein anderes Gesicht bekam Ludwig, wenn er zu
Hause, entspannt
und nicht mehr ringend um den eroberten Besitz, ohne Rock, in
Pantoffeln
herumging, nicht fremd mehr roch er, nicht tierhaft und nach bitteren
Wurzeln,
kein grausames Tier mehr - ein einsamer Mensch, alternd, kurzsichtig
und mit
spärlichem Haar, demütig und bittend, lässig und vergeßlich, von
ärmlicher
Sorge bedrückt und kleinen
Schulden. Den warmen Celloklang verlor seine Stimme, er hörte zu
spielen auf
und war wie ein erloschener Krater.
Einmal
erzählte er, daß er eine Brille haben müsse - und er kaufte sich eine
mit
schwarzem Hornrand und stark geschliffenen Gläsern. Verändert und
entfremdet
war er auf einmal, wie der Vater mit dem Hörrohr, und wenn er die
Brille
ablegte, suchte er mit verlegenen Augen nach Gegenständen, die ihm nahe
waren
und die er dennoch nicht greifenkonnte.
Schüler,
von denen er gelebt hatte, schickte er nach Hause, bestellte Arbeiten
ließ er
liegen. Oft hastete er, mühsam atmend, die Treppen empor und rannte
wieder
hinunter. Den Hut vergaß er und den Regenschirm. Flüchtige Küsse
hauchte er auf
den Nacken Finis, und während er mit ihr sprach, schweifte sein Auge
ungeduldig
über die Straße, den Platz, den Garten. Einmal brachte er einen Hund
nach
Hause, der sich verlaufen hatte, und am nächsten Tage kam der Besitzer,
das
Tier zu holen.
Zwei Tage trauerte Ludwig um den Hund. Eine alte Nierenkrankheit
wiederholte
sich, weil er im Regen ohne Mantel ausgegangen war, und eine Woche lag
er krank
im Bett. Er wusch sich nicht, hatte Fieber, und sein Bart wuchs, graue
Stoppeln
umgaben sein Angesicht, tief in die Höhlen sanken seine dreieckig
geschnittenen
Augen. Zerrissen war seine Wäsche und mühsam geflickt und gelb das
Leintuch,
auf dem er lag.
Besuche
empfing er nicht. Freunde schickte er weg, ein Konzert in der Provinz
gab er
auf, die alte Wirtschafterin beschuldigte er des Diebstahls, und sie
kam nicht
mehr. Sein Haar lichtete sich schnell, an seinen Fingern wuchsen die
Nägel, die
Zigaretten schmeckten ihm nicht, schwarzen Kaffee trank er, um sich
wach zu
erhalten, und Brom nahm er, um einzuschlafen.
„Ich
will dich heiraten“, sagte er zu Fini, und sie führte ihn nach Hause.
Beschlossen
war ihr Schicksal, vorbei das Jungsein, Mädchensein, Kindsein. Ihm war
sie
anheimgefallen, treu blieb sie ihm und brauchte das Schicksal Tillys
nicht
abzuwarten. Ein kranker, alter Mann war er, arm und verlassen, vom
Leben, von
der Musik, von den Freunden. »“Wir werden zusammen wieder jung“, sagte
er zu
Fini. Sie führte ihn nach Hause, beklemmend legte sich ein Schweigen
über das
Zimmer, in dem sie saßen, die Mutter mit eilig übergeworfenem
Schlafrock und
der Vater mit dem bereitliegenden Hörrohr vor sich auf dem Tisch. Fini
in der Mitte,
zwischen ihm und den Eltern, mit hängendem Kopf, und die Fremdheit
wuchs um
jeden einzelnen, und jeder saß wie eingeschlossen in einer gläsernen
Kugel, sah
den andern an und erreichte ihn nicht.
Endlich
hub der Vater an, vom Krieg erzählte er, die Mutter fiel ein und wußte
Gleichgültiges zu sagen. Mit behutsamen Worten lockten sie aus Ludwig
Geständnisse heraus. Alter, Stand, Abkunft und Wohnung, Geburt und
Eltern, und
Ludwig erzählte, aufgelebt für eine Stunde, von den Tagen der Kindheit
und von
der lang verstorbenen Mutter, Sorgen des Berufs und Plänen für die
Zukunft.
Eine Musikschule wollte er errichten, in fremdes, reiches Land fahren,
zweimal
im Jahr, und mit dem Geld beladen wiederkommen. Noch war er nicht alt
und krank,
nein, verjüngt,
müde nur des Junggesellenlebens, und er aß mit Appetit und breiten,
mahlenden
Kiefern eilig bereitete Speisen.
Spät
schied er, Fini küßte er auf den Mund vor der weinenden Mutter, der
Vater stieg
mit nächtlicher Kerze die Treppe hinunter und leuchtete. Die Mutter
umarmte
Fini und küßte sie wieder, nach langer Zeit. Aus dem Kästchen nahm Fini
die
Bilder Ernsts und verbrannte sie mit leisem Schluchzen, Stück für
Stück, an der
knisternden Kerze.
XV.
Noch
sprach man von der Heirat nicht, aber sie lag in greifbarer Nähe, und
Fini galt
als erwachsen, eine Stimme im Haus, ein Mensch, nicht mehr dem Schelten
untertan, sondern Güte fordernd.
Und
es änderte sich nichts, und vom Klappern der Maschinen erfüllt waren
die Tage.
Tilly
fand einen Freund und dachte Ludwigs nicht mehr und nicht des
erlittenen
Unglücks.
Niemanden
hatte Fini mehr, zu dem sie sprechen konnte, und sie hätte gern
erzählt, wie
die Welt jetzt aussah, eine Welt ohne Geheimnis, ohne Furcht und ohne
Erwartung.
Früher
- wie war unser pochendes Herz gespannt, die Straße, die wir
dahinschritten,
von Geheimnissen erfüllt, wie lauerten die Abenteuer hinter jeder Ecke,
um die
wir biegen sollten! Nun ist unsere Erwartung ausgelöscht, auf unsern
Wegen eine
Stille ohne Grenze, eine Landschaft ohne Fernen verbergende Hügel,
alles wissen
wir, Anfang und Ende, männliche Armseligkeit und unseres eigenen
Angesichts
bittere Zukunft.
Verrauscht
war die süße Musik des Unbekannten, der gute lockende Sang anbrechenden
Lebens,
verblaßt die leuchtende Weite unendlich sich dehnender Tage und
ausgekühlt die
bergende Wärme der Jugend. Vollendet ist unser kurzer Weg, und fremd
ist uns
der Mann; jeden Tag wird er fremder.
Fini
sah, wie er mit anderen Menschen sprach, lässige Gebärde nahm er an und
hörte
keine Antwort mehr, Pfeifenköpfe schnitzte er, stundenlang hockend auf
niederem
Schemel, Schokolade, lange im Vorrat gekauft, barg er sorgfältig vor
ihrem
genäschigen Auge, hoch oben unter Pappendeckeln, auf staubübersätem
Schrank,
kleine und große Rippen, gelb vor Alter gewordene, und Silberpapier
sammelte er
in dichten
Knäueln zur Verzierung der Pfeifenköpfe. Zwischen den Notenständern,
den weiß
lackierten, im Winkel gehäuften, hielt er Tabak und Zigarren, die er
niemals
rauchte und niemals hergab, sorgfältig wachend mit hundescharfem Aug'.
Kleiderstoffe
lagerten geschichtet in wachsam raschelndem Papier, gestapelt im
Schrank, unter
den Hüllen gilbender Notenblätter.