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Literatur


04.3


Geschichten - Joseph Roth
Werke 4
1916- 1929

Romane und Erzählungen






Der blinde Spiegel 5
1925
 
XIII.

„Was soll ich Ihnen vorspielen?“ fragte Ludwig, die Geige mit demKinn festhaltend, und mit unglaubhaft geschickten Fingern strich er an dem schmalen, weißglänzenden Bogen, als schliffe er ein Schwert, mit dem er Fini töten sollte. In einer großen Verlegenheit schwieg sie und suchte angestrengt in ihrem armen, vergeßlichen Kopfe nach dem Bild eines Konzertprogramms, auf dem ein Lied gestanden hatte, das ihr gefiel. Wenig wußte sie von Musik, Fini, die kleine, und schließlich fiel ihr ein, daß es auch gleichgültig sei, was er spielte.
 
So fing er an mit tiefen, dunkelvioletten Tönen, die Helle gebaren, kühn gewölbt spannten sich Bogen aus Musik, weich geschwellt und silbern gekräuselt flossen Wellen aus Musik. In der Mitte hörte er auf und legte die Geige auf den Tisch, aufschreckend wie plötzlicher Lärm fiel die plötzliche Stille ein.
 
Mitten aus der wirren Unordnung des gläsernen Schranks holte er die schlanke Likörflasche und zwei dünne Gläser mit unendlich zartem Geklirr. Fini trank Likör, zum erstenmal, er schmeckte süß und nach Orangenschalen, so ähnlich waren schon einmal gefüllte Schokoladenpralines gewesen - dieser Likör aber war nackt, nicht freundlich gebettet in lindernde Schale, und er ließ eine süße Taubheit zurück und schuf ein sanftes Schaukeln violettfarbener Lichtwellen vor den schläfrigen Augen.
 
Noch hörte sie den Klang der plötzlich verstummten Geige und sah den abendlichen Himmel nahe über der gläsernen Decke des Ateliers.
 
Sie hörte Ludwigs leise Bewegungen nicht und wußte nur, daß sie hier eingeschlossen war mit dem Mann, der gefährlich war, aber sie noch ruhen ließ, und sie genoß diese Stunde, die ihr blieb, wie ein Verurteilter die letzte Spanne Zeit genießt, die ihn von seiner Strafe scheidet.
 
Nun stand er nahe bei ihr und sprach und sah ihr in die Augen und fiel, ehe sie begriffen hatte, in die Knie, barg seinen Kopf in ihrem Kleide und weinte. Es weinte Ludwig, der Mann, das Tier; sein Körper zuckte, seine breiten Schultern bebten. Fini, die kleine, verstand nicht, wie es gekommen war, sein Schmerz schmerzte sie.
 
Weil wir so klein und gering sind, wird uns doppelt weh, wenn ein großer Mann, der hoch unter dem Himmel in Gottes Nähe lebt und schmelzende Melodien spielt, kleiner und geringer als wir vor uns liegt - und wir nur können ihn erlösen. So leicht fallen uns die Kleider ab, die welke, unbrauchbare Schale, locker werden die Knöpfe und lösen sich selbst. In uns siegt das Blut, das rote, schwer ist der Kopf, im Nebel sehen wir die behaarte Brust des Mannes, riechen den Duft, den tierhaft fremden, sehen das Gesicht, das fremde, in der Nähe fremdere.
 
Fini schloß die Augen, fühlte ihre Brust in der warmen, gehüllten Schale seiner Hand, der schmerzhaft und liebend pressenden, spürte seine zuckenden Finger drückender in der heimlichen Höhlung des Knies. Heiß überhauchte sie sein heißer Atem und deckte sie zu, scharf biß er in ihre Lippen, und wie ein großer, betäubender, schmerzhafter und erschreckender Jubel kam in sie der Mann, in ihrem Innern fühlte sie ihn, glühend mit ihrem Körper verschmelzend und fremd, ein Gast in ihr und in ihr zu Hause.
 
Langsam kehrte Fini wieder in die Welt, Ludwig küßte sie matt und leise. Ihr war, als leckte er ihr Gesicht mit heißer, vertrocknender Zunge, Ludwig, der Mann, ein dankbar demütiges Tier.
 
 
XIV.
 
Heimlich, des Nachts, an der Bettkante glättete Fini neu gesammeltes Silberpapier und kramte unter den sorglich gehüteten Schätzen das Bild hervor, die wandelnde Frau zwischen melancholisch blühenden Feldern.
 
Nicht mehr lauschte sie aufgeregt dem nächtlichen Geflüster der Eltern, nicht mehr spähte sie nach den heißen Geheimnissen der nachbarlichen Häuser. Immer noch pfiffen die Züge durch die Nacht, wölbte sich der Himmel über der schlafenden Straße, schlichen die Katzen, gedrückt an die Wände. Aber nichts mehr war wunderbar, nicht mehr lockte der sehnsüchtige Schrei der Lokomotiven, unverhüllt war das Geheimnis schleichender Tiere und nachbarlichen Tuns hinter blaßerleuchteten Gardinen. Leer lagen vor ihr die kommenden Tage, Tage ohne Furcht, ohne Hoffnung, wie ausgeräumte Gemächer, nichts konnten sie geben, nur den kärglichen Widerhall zaghafter Schritte. Gleichgültig war das Getriebe der Straße, nicht mehr spannte sich eisern das Leben, nicht mehr ging Fini ängstlich geduckt unter schmerzendem Joch.
 
Nicht mehr war sie die wandelnde Frau zwischen blühenden Feldern, und fern und verloren war Ernst, der vergeblich wartete im geizigen Schatten der nächtlich gelagerten Fässer.
 
Am Ende dieses Tages lauerte das Böse, das Tilly geschehen war, ferne noch lag es, aber sichtbar.
 

Inzwischen reihte sich eine abenteuerliche Stunde im Atelier an die andere, das Gespräch mit Ludwig an das Spiel seiner Geige. Er holte nicht die klirrenden Gläser aus dem Schrank und die schlankgeschliffene Likörflasche. Sie legten sich schlafen mit unerbittlichem Gleichmaß, und schal war das Aufstehen wie das Ende jeder sparsam genossenen Freude. Ein anderes Gesicht bekam Ludwig, wenn er zu Hause, entspannt und nicht mehr ringend um den eroberten Besitz, ohne Rock, in Pantoffeln herumging, nicht fremd mehr roch er, nicht tierhaft und nach bitteren Wurzeln, kein grausames Tier mehr - ein einsamer Mensch, alternd, kurzsichtig und mit spärlichem Haar, demütig und bittend, lässig und vergeßlich, von ärmlicher Sorge bedrückt und kleinen Schulden. Den warmen Celloklang verlor seine Stimme, er hörte zu spielen auf und war wie ein erloschener Krater.
 
Einmal erzählte er, daß er eine Brille haben müsse - und er kaufte sich eine mit schwarzem Hornrand und stark geschliffenen Gläsern. Verändert und entfremdet war er auf einmal, wie der Vater mit dem Hörrohr, und wenn er die Brille ablegte, suchte er mit verlegenen Augen nach Gegenständen, die ihm nahe waren und die er dennoch nicht greifenkonnte.
 
Schüler, von denen er gelebt hatte, schickte er nach Hause, bestellte Arbeiten ließ er liegen. Oft hastete er, mühsam atmend, die Treppen empor und rannte wieder hinunter. Den Hut vergaß er und den Regenschirm. Flüchtige Küsse hauchte er auf den Nacken Finis, und während er mit ihr sprach, schweifte sein Auge ungeduldig über die Straße, den Platz, den Garten. Einmal brachte er einen Hund nach Hause, der sich verlaufen hatte, und am nächsten Tage kam der Besitzer, das Tier zu holen. Zwei Tage trauerte Ludwig um den Hund. Eine alte Nierenkrankheit wiederholte sich, weil er im Regen ohne Mantel ausgegangen war, und eine Woche lag er krank im Bett. Er wusch sich nicht, hatte Fieber, und sein Bart wuchs, graue Stoppeln umgaben sein Angesicht, tief in die Höhlen sanken seine dreieckig geschnittenen Augen. Zerrissen war seine Wäsche und mühsam geflickt und gelb das Leintuch, auf dem er lag.
 
Besuche empfing er nicht. Freunde schickte er weg, ein Konzert in der Provinz gab er auf, die alte Wirtschafterin beschuldigte er des Diebstahls, und sie kam nicht mehr. Sein Haar lichtete sich schnell, an seinen Fingern wuchsen die Nägel, die Zigaretten schmeckten ihm nicht, schwarzen Kaffee trank er, um sich wach zu erhalten, und Brom nahm er, um einzuschlafen.
 
„Ich will dich heiraten“, sagte er zu Fini, und sie führte ihn nach Hause. Beschlossen war ihr Schicksal, vorbei das Jungsein, Mädchensein, Kindsein. Ihm war sie anheimgefallen, treu blieb sie ihm und brauchte das Schicksal Tillys nicht abzuwarten. Ein kranker, alter Mann war er, arm und verlassen, vom Leben, von der Musik, von den Freunden. »“Wir werden zusammen wieder jung“, sagte er zu Fini. Sie führte ihn nach Hause, beklemmend legte sich ein Schweigen über das Zimmer, in dem sie saßen, die Mutter mit eilig übergeworfenem Schlafrock und der Vater mit dem bereitliegenden Hörrohr vor sich auf dem Tisch. Fini in der Mitte, zwischen ihm und den Eltern, mit hängendem Kopf, und die Fremdheit wuchs um jeden einzelnen, und jeder saß wie eingeschlossen in einer gläsernen Kugel, sah den andern an und erreichte ihn nicht.
 
Endlich hub der Vater an, vom Krieg erzählte er, die Mutter fiel ein und wußte Gleichgültiges zu sagen. Mit behutsamen Worten lockten sie aus Ludwig Geständnisse heraus. Alter, Stand, Abkunft und Wohnung, Geburt und Eltern, und Ludwig erzählte, aufgelebt für eine Stunde, von den Tagen der Kindheit und von der lang verstorbenen Mutter, Sorgen des Berufs und Plänen für die Zukunft. Eine Musikschule wollte er errichten, in fremdes, reiches Land fahren, zweimal im Jahr, und mit dem Geld beladen wiederkommen. Noch war er nicht alt und krank, nein, verjüngt, müde nur des Junggesellenlebens, und er aß mit Appetit und breiten, mahlenden Kiefern eilig bereitete Speisen.
 
Spät schied er, Fini küßte er auf den Mund vor der weinenden Mutter, der Vater stieg mit nächtlicher Kerze die Treppe hinunter und leuchtete. Die Mutter umarmte Fini und küßte sie wieder, nach langer Zeit. Aus dem Kästchen nahm Fini die Bilder Ernsts und verbrannte sie mit leisem Schluchzen, Stück für Stück, an der knisternden Kerze.
 
 
XV.
 
Noch sprach man von der Heirat nicht, aber sie lag in greifbarer Nähe, und Fini galt als erwachsen, eine Stimme im Haus, ein Mensch, nicht mehr dem Schelten untertan, sondern Güte fordernd.
 
Und es änderte sich nichts, und vom Klappern der Maschinen erfüllt waren die Tage.
 
Tilly fand einen Freund und dachte Ludwigs nicht mehr und nicht des erlittenen Unglücks.
 
Niemanden hatte Fini mehr, zu dem sie sprechen konnte, und sie hätte gern erzählt, wie die Welt jetzt aussah, eine Welt ohne Geheimnis, ohne Furcht und ohne Erwartung.
 
Früher - wie war unser pochendes Herz gespannt, die Straße, die wir dahinschritten, von Geheimnissen erfüllt, wie lauerten die Abenteuer hinter jeder Ecke, um die wir biegen sollten! Nun ist unsere Erwartung ausgelöscht, auf unsern Wegen eine Stille ohne Grenze, eine Landschaft ohne Fernen verbergende Hügel, alles wissen wir, Anfang und Ende, männliche Armseligkeit und unseres eigenen Angesichts bittere Zukunft.
 
Verrauscht war die süße Musik des Unbekannten, der gute lockende Sang anbrechenden Lebens, verblaßt die leuchtende Weite unendlich sich dehnender Tage und ausgekühlt die bergende Wärme der Jugend. Vollendet ist unser kurzer Weg, und fremd ist uns der Mann; jeden Tag wird er fremder.
 
Fini sah, wie er mit anderen Menschen sprach, lässige Gebärde nahm er an und hörte keine Antwort mehr, Pfeifenköpfe schnitzte er, stundenlang hockend auf niederem Schemel, Schokolade, lange im Vorrat gekauft, barg er sorgfältig vor ihrem genäschigen Auge, hoch oben unter Pappendeckeln, auf staubübersätem Schrank, kleine und große Rippen, gelb vor Alter gewordene, und Silberpapier sammelte er in dichten Knäueln zur Verzierung der Pfeifenköpfe. Zwischen den Notenständern, den weiß lackierten, im Winkel gehäuften, hielt er Tabak und Zigarren, die er niemals rauchte und niemals hergab, sorgfältig wachend mit hundescharfem Aug'. Kleiderstoffe lagerten geschichtet in wachsam raschelndem Papier, gestapelt im Schrank, unter den Hüllen gilbender Notenblätter.

 





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