Der
blinde Spiegel 6
1925
XV.
Es
war keine Sünde, ihm etwas zu stehlen, man stahl sich selbst etwas.
Und
manche Stunde, in der er hockend auf niederem Schemel einen Pfeifenkopf
schnitzte, schlich Fini herum, stieg sie behend auf die Stühle, die
knarrten,
und auf splitternde Ständer, Schätze raffend.
Schickte
sie einen furchtsamen Blick dann in Ludwigs geschäftigen Winkel, sah
sie, daß
seine Augen zugefallen waren und daß er mit selbständig schnitzendem
Messer
seine Köpfe fertigmachte, dieweil seine Sinne schliefen, und sie weckte
ihn.
Dann,
plötzlich aufgewacht, besann er sich, strich die Weste zurecht und
sammelte mit
gespitzten Fingern Holzstaub und Schnitzer und begann zu erzählen von
Fahrten
in fremdes Land und ewig leuchtenden Sonnen. Manchmal gingen sie
nebeneinander
halbe Tage lang durch endlose Straßen, in den Auslagen der Konditoreien
lockte
schaumgefüllter Teig, braunleuchtend und süß. Hungrig war Fini, nach
glattem, gelbschmelzendem
Eis in sanft gerundeten Schalen sehnte sie sich. Hungrig ging sie mit
Ludwig
durch die Stadt. Von bösem Asthma bedrängt, mußte er sich setzen, und
er setzte
sich nicht auf die grünen Stühle im schattigen Park, die man bezahlen
mußte,
sondern draußen auf die unbarmherzig besonnte, staubige Bank. Die Beine
spreizend, zeigte er offene Hosenknöpfe und an den vorgestreckten
Stiefeln ein vielfach
geknotetes Schnürsenkel. Fini weinte, während sie sprach, sie weinte
nach
innen, Tränen trockneten, unausgeschüttet, gesammelte Tränenbäche
trockneten in
ihr. Schmerzhaft würgte sie das gesammelte Leid im Halse. Sah sie
manchmal
Frauen vorbeiziehen, die verkrüppelte Männer schoben auf dreirädrigen
Karren,
so trug jede der Frauen Finis Gesicht.
Einmal
in der Woche oder zweimal war der gemeinsame Schlaf auf dem Sofa im
Atelier,
eine trostlose Hingabe, still und von verborgenem Weinen begleitet, wie
eines
Todkranken krampfhaft gefeiertes Geburtstagsfest.
Ein
Brief von Ernst fiel in diese Zeit, sehen wollte er sie wieder. Sie
trafen
sich, wie vor Wochen, an derselben Stelle auf dem nächtlichen
Marktplatz, fremd
war der Druck seiner Hand, Fini ging nicht mehr im linden Regen seiner
gütigen
Worte. Hinaus fuhren sie, wie einst, mit der Straßenbahn, dahin unter
hängenden
Zweigen, die ansteigende Landstraße schritten sie schweigsam und legten
sich am
Wegrand hin in den Tau des Grases, umsungen von zirpenden Grillen.
Spät
wurde es, ins Wirtshaus kehrten sie ein, eine Stube und Strohlager
bekamen sie.
Fini wartete mit wachen Augen auf den Morgen, gedrückt an die Wand, auf
das
raschelnde Bündel.
XVI.
Süß
und heiß ging der Sommer vorbei und ein Herbst und ein Winter, die
Primeln
kamen in den dunstenden Wäldern, der Krieg hatte aufgehört, fremd ging
Fini an
den großen Ereignissen vorbei, klein und fremd. Zu gewichtig sind für
uns die
Sorgen der großen Welt.
An
ihrem neunzehnten Geburtstag im April mußte sie weinen, obwohl Ludwig
ihr eine
Rose gekauft hatte, eine schwerblütige, die ihre äußersten Blätter
abzuwerfen
begann wie lästige Gewänder.
Aussicht
bestand für den Vater, es starb der Onkel plötzlich, dahin gekommen von
einem
verspäteten Typhus; lohnende Touren wurden frei, es besserte sich das
Gehör,
langsam kehrten die fernen Augen wieder in die Gegenwart, und schon
erhaschte
das Ohr einmal den ungedämpften Schimpf der Mutter.
In
den Prater ging Fini, und ihr war wie einem spät Gesundenden nach
langer,
erschöpfender Krankheit, aus der es keine Wiederkehr mehr gibt in
vollkommenes
Leben. Bescheiden muß er sich mit einem dürftig pochenden Herzen und
Schonung
fordernden Gliedern. An uns vorbei schreiten die jungen Mädchen, noch
nicht
gezeichnet vom bitteren Geschmack, vor ihnen die kommenden Tage,
leuchtend und
frisch wie niemals betretene Rasen.
XVII.
Einmal
hörte sie Rabold sprechen, den Redner, zwischen lauschende Menschen
gedrückt,
auf dem weiten Platz unter blau gewölbtem Himmel. Einige sprachen vor
ihm,
andere später, und aller Stimmen erstarben im unbegrenzten Raum und
wurden
gedämpft durch zufällige Geräusche der Straße. Seine Stimme nur
überwältigte
kühn und singend den Platz, als hätten sich unerreichbare Himmel, die
Straße zu
säumen, genähert
und sie abgeschlossen vor dem fremden Geräusch unbekümmerter Gefährte.
Alle
Redner standen auf dem Dach desselben Automobils, und Rabold auch. Aber
wie er
hinauf trat, wurde es Postament und Thron, einen König zu tragen.
Gedrückt
zwischen lauschenden Menschen stand Fini, die kleine. Es sang in ihr
die Stimme
nach, klar und klingend, als läutete eine Glocke erzene Worte. Lange
blieb sie
unter den Menschen und blieb noch, als sie auseinandergingen, spät, vom
Abendwind
auseinandergeschickt. Hinauf hätte sie gehen müssen, ungezählte, enge
Stiegen
ins Atelier. Als schöbe sie jemand, bog sie in die Seitenstraße, in der
nur ein Mensch
ging, groß und in einem Kreis aus Gedanken und Stille, den Blick
auf sie gerichtet: Rabold.
Es
kam das Wunder in ihren Weg, spät genug, fertig war sie schon, nach der
bitter
vollendeten Jugend. In der Mitte blieb Rabold und wartete, bis sie
herankam. Es
schien ihr, als müßte sie, um zu ihm zu gelangen, den Kreis aus
schweigenden
Gedanken durchstoßen, ein Schritt noch trennte sie von ihm, und sie
blieb
stehen. Sein Wort brachte sie näher. Sie wußte nicht, welches, sie
glaubte, er
hätte ihren Namen
gerufen.
Alles
erriet sie, daß er verfolgt ist und unter fremdem Namen lebt, von Stadt
zu
Stadt fahrend. Diener einer gestrengen Gewalt und entfernt dem Getriebe
dieses
Lebens.
Morgen
fuhr er weiter, aber eine Stunde war genug, und sie wußte, daß jetzt
alle ihre
Tage und Träume von ihm erfüllt sein werden.
Immer
war Zeit und Raum in ihr für den Fremden. Manchmal schrieb er ihr einen
Brief
postlagernd. Dreimal täglich ging sie zum Schalter.
Einmal
kam ein flüchtiges Wort auf einer Ansichtskarte. Des Nachts auf der
Bettkante
saß sie und barg die Karte auf dem Grund ihres Kästchens zwischen
Seidenpapier
und der Schachtel mit Perlmutterknöpfen.
XVIII.
Im
Dunkel des Abends schlich sie zum Bahnhof, nicht weit wohnte Rabold, in
sechs
Stunden erreichbar. Im Wartesaal schrieb sie Briefe, nach Hause und an
Ludwig.
Die vielfach gebundene Pappschachtel legte sie ängstlich unter die
Füße.
In
der Nacht erreichte sie ihn und sank in sein Bett. Gestillt war die
wühlende
Unrast, erstickt jeder Wunsch, gestorben war Fini, die unselige, und
selig
auferstanden in Rabolds Welt.
Durch
kleine Städte fuhren sie, durch winkelige Gassen gingen sie, der Sommer
kam
wieder, durchsonnte Abende, Wege, vielfach verschlungene, an altem
Gemäuer
vorbei.
Traum
waren ihre Tage, ihre Nächte, so wuchs Fini, die kleine. Seinen Namen
kannte
sich nicht, fremd lebte er in fremden Städten, von Häschern verfolgt,
immer auf
der Flucht, immer arm, kärgliches Brot aßen sie.
Im
Herbst, schon fiel der erste Schnee, fuhren sie in die große Stadt und
lebten
einen sicheren Winter in warmer Stube, hoch im unsicheren Viertel der
Armen,
der Huren und Mörder. Das ängstliche Gewirr der Dächer, der schiefen
Giebel und
ineinander verankerten Mauerecken drängte sich in das einzige Fenster
ihres
Zimmers, es kam das Geheul naher Fabriksirenen herein und der
unverständliche Schrei
einer nachbarlichen Welt.
Es
kamen Freunde zu ihm, verwegene Menschen, Verfolgte, Flüchtige und
Glückliche.
Einmal erreichte Fini ein Brief, man hatte ihr Versteck gefunden, es
stand
etwas von Tränen der Mutter darin und sogar von Tränen des Vaters. Der
Schmerz,
von dem sie las, war fremder Schmerz, nichts gingen sie die Tränen der
Mutter
an.
In
ihr lebte Rabold, den sie kannte, dessen Vornamen sie nicht wußte, für
den sie
selbst einen Namen erfunden hatte, Rabold, der neben ihr schlief, der
zu ihr kam,
glühend und fremd, immer neu in tausend Gestalten, ein Gott zum
irdischen
Weibe. Seinen Körper fühlte sie, ehe sie einschlief, sein müdes Knie im
Schlaf,
die liebe Schulter, die warme behaarte Höhlung seines umarmenden Arms,
in die
sie ihren Kopf legte. Den nächtlichen Kuß seiner Lippe trug sie auf
ihrem Mund,
den liebenden Biß seiner Zähne im schwellenden Fleisch ihrer Brust.
Neben ihr,
in ihr, rings um sie lebte Rabold, ihr Mann. In finsterer Nacht sah sie
das
Leuchten seiner Augen, und dürstend trank sie gute Worte, die er ihr
schenkte.
Einmal fuhr er weg, und Fini blieb zurück. Leere, unendliche, strömte
jeder
Winkel aus, sie heizte den kleinen, eisernen Ofen
nicht und kauerte auf einem Kasten, gehüllt in den spärlich gefütterten
Mantel,
mit zerzaustem Haar und Augen, die sich röteten, ohne zu weinen. Kein
Bild
hatte sie von ihm, und es ergriff sie die Furcht, daß sie den und jenen
Zug
seines geliebten Gesichts vergessen könnte, den Schwung seiner Nase,
die
aufwärtsstrebende Braue über dem linken Aug', die leise Biegung seines
Nackens
und die Art, wie er einen Gegenstand griff, mit sparsamer Bewegung der
Hand und
vollkommener Ruhe des Arms und des Körpers. Jeden Augenblick schloß sie
die
schmerzenden Augen - ungeweintes Weinen lag in ihnen – und sah sein
Gesicht,
spät ging sie schlafen. Kalt war das Lager, und in der zaghaft
beginnenden
Wärme schlummerte sie ein, stieß mit vorgestrecktem Knie plötzlich ins
Leere,
erschrak, weil neben ihr nichts da war, und sie erwachte. Er ist
gestorben!
dachte sie auf einmal, stieg mit zitternden Knien hinunter, Licht zu
machen,
aus dem Schrank holte sie eine Karte, die er ihr einmal geschrieben,
sie sah
lange und eifrig Zug um Zug der flüchtigen Handschrift, um wenigstens
gewiß zu
sein, daß er gelebt hatte, neben ihr, mit ihr, ein bißchen für sie.
Irgendwo fand
sie sein Halstuch, es war weich und gut, von ihm kam es, noch roch es
nach ihm,
seinem Körper, seinem Leben - er konnte nicht gestorben sein, da das
Halstuch
noch von ihm warm war, sie nahm es ins Bett und legte ihre Wange darauf
und
schlief ein.
Sie
horchte tagsüber auf den Schritt der Menschen draußen, den Briefträger
vermutend,
verhallende Schritte beklagte sie wie den Schall verschwindenden
Glücks. Ein
Freund kam und brachte Nachricht von Rabold, kein Brief war da, Geld
nur
schickte er. Fini brauchte nichts, sie warf die Scheine in das Nähzeug
und
dachte nach, unermüdlich. Er war gewiß gestorben und hatte Auftrag
gegeben, ihr
Geld zu bringen, und er lebte nicht mehr, gewiß, sonst hätte er
geschrieben.
Nichts wünschte sie mehr, als die liebe Rundung seiner Buchstaben zu
sehn, in
frischer, überzeugender Tinte. Die Nacht kam, wie gestern, kalt und
leer, die
letzten mitternächtlichen Schritte erstarben im Hause, Fini wünschte zu
sterben, in dieser Nacht zu sterben.
XIX.
Aber
sie erwachte, geweckt vom unermüdlichen Gezwitscher eines frühen Vogels
und dem
Sang schmelzenden Eises auf metallenem Fensterbrett. Von Dächern
gezackt,
blaute hoch der Himmel, aus geöffneten Fenstern drang Lärm der
nachbarlichen
Kinder. In früher Stunde kam ein Leierkasten in den Hof, wie ein Bote
des
Stadtfrühlings. Es sah so aus, als käme heute eine Nachricht von Rabold
oder
als käme er selbst. Als die Schritte des Briefträgers enttäuschend
verhallt
waren, beschloß
Fini, in die Straßen zu gehn, draußen auf ihren Mann zu warten, wer
weiß, ihm
vielleicht in den Straßen zu begegnen. Hinaus ging sie, von hastenden
Menschen
umgeben, von der Sonne begrüßt und der guten Luft des lächelnden
Märztags. In
das Zentrum der Stadt ging sie, schritt sie, mit rüstigen, jungen
Füßen, durch
die breiten Straßen.
Sie
verließ die Stadt, sie kam an den Fluß und folgte seinem Lauf. Die
Sonne stand
hoch, sank tiefer, rann aus dem Himmel in den Fluß, daß beide sich
röteten. Da
setzte sie sich ans Ufer. Ein alter Angler stand und wartete auf seinen
Fang.
Der Ton einer abendlichen Flöte kam, im Ufergras zirpten die Grillen.
Fini
saß, aber es war ihr, als ginge sie weit und hoch, höher hinauf in den
Himmel,
auf goldenen Wolken, Wolken aus Scharlach, Treppen aus Purpur. Sie
führten
aufwärs zu Rabold. Er stand und wartete. Ausgebreitet waren seine Arme,
Fini zu
empfangen.
Den
Hunger fühlte sie nicht, aber er fraß sie auf, saß in ihren
Eingeweiden, umklammerte
ihr Herz - und sie fühlte ihn dennoch nicht. Die Müdigkeit ihrer Füße
fühlte
sie nicht, sie lag weich am Ufer und glaubte zu schweben. Treppen aus
Wolken
trugen sie, sie brauchte nicht emporzuklimmen.
Wie
einen fernen Schatten sah sie den alten Angler am andern Ufer. Der Alte
wuchs
und stand wie ein Diener ehrfürchtig und wartend am Eingang. Hatte ihn
Rabold
vorausgeschickt, sie zu empfangen?
Sie
nickte ihm zu, sie wollte ihn streicheln, da griff sie ins feuchte
Gras, sank,
glitt, glaubte, sie wäre auf einer Wolke ausgeglitten, und wollte sich
hochraffen, aber sie konnte nicht mehr. Jetzt erst überfiel sie die
Müdigkeit,
nie mehr würde sie Rabold erreichen. Warum kam er nicht, ihr zu helfen?
Sie
fiel ins Wasser, tat noch einen leisen Schrei, sank unter, und der
Strom führte
sie mit, barg sie vor den Blicken der Welt. Drei Meilen weiter fand man
sie,
ihren aufgeschwemmten Leib, Wasserrosen und grüne Pflanzen im Haar, den
Mund
halb offen.
Sie
kam in den Polizeibericht, der keine Ursachen anzugeben wußte. Ihre
Leiche lag
in der Totenkammer, kam in die Anatomie; denn es fehlte
an Leichen, man nahm auch aufgeschwemmte. Niemand wußte, daß sie in den
Himmel
hatte gehen wollen und ins Wasser gefallen war. Sie zerschellte an den
weichen
Treppen aus purpurnen und goldenen Wolken.