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Literatur


04.3


Geschichten - Joseph Roth
Werke 4
1916- 1929

Romane und Erzählungen






Der blinde Spiegel 6
1925


XV.
 
Es war keine Sünde, ihm etwas zu stehlen, man stahl sich selbst etwas.

Und manche Stunde, in der er hockend auf niederem Schemel einen Pfeifenkopf schnitzte, schlich Fini herum, stieg sie behend auf die Stühle, die knarrten, und auf splitternde Ständer, Schätze raffend.

 
Schickte sie einen furchtsamen Blick dann in Ludwigs geschäftigen Winkel, sah sie, daß seine Augen zugefallen waren und daß er mit selbständig schnitzendem Messer seine Köpfe fertigmachte, dieweil seine Sinne schliefen, und sie weckte ihn.
 
Dann, plötzlich aufgewacht, besann er sich, strich die Weste zurecht und sammelte mit gespitzten Fingern Holzstaub und Schnitzer und begann zu erzählen von Fahrten in fremdes Land und ewig leuchtenden Sonnen. Manchmal gingen sie nebeneinander halbe Tage lang durch endlose Straßen, in den Auslagen der Konditoreien lockte schaumgefüllter Teig, braunleuchtend und süß. Hungrig war Fini, nach glattem, gelbschmelzendem Eis in sanft gerundeten Schalen sehnte sie sich. Hungrig ging sie mit Ludwig durch die Stadt. Von bösem Asthma bedrängt, mußte er sich setzen, und er setzte sich nicht auf die grünen Stühle im schattigen Park, die man bezahlen mußte, sondern draußen auf die unbarmherzig besonnte, staubige Bank. Die Beine spreizend, zeigte er offene Hosenknöpfe und an den vorgestreckten Stiefeln ein vielfach geknotetes Schnürsenkel. Fini weinte, während sie sprach, sie weinte nach innen, Tränen trockneten, unausgeschüttet, gesammelte Tränenbäche trockneten in ihr. Schmerzhaft würgte sie das gesammelte Leid im Halse. Sah sie manchmal Frauen vorbeiziehen, die verkrüppelte Männer schoben auf dreirädrigen Karren, so trug jede der Frauen Finis Gesicht.
 
Einmal in der Woche oder zweimal war der gemeinsame Schlaf auf dem Sofa im Atelier, eine trostlose Hingabe, still und von verborgenem Weinen begleitet, wie eines Todkranken krampfhaft gefeiertes Geburtstagsfest.
 
Ein Brief von Ernst fiel in diese Zeit, sehen wollte er sie wieder. Sie trafen sich, wie vor Wochen, an derselben Stelle auf dem nächtlichen Marktplatz, fremd war der Druck seiner Hand, Fini ging nicht mehr im linden Regen seiner gütigen Worte. Hinaus fuhren sie, wie einst, mit der Straßenbahn, dahin unter hängenden Zweigen, die ansteigende Landstraße schritten sie schweigsam und legten sich am Wegrand hin in den Tau des Grases, umsungen von zirpenden Grillen.
 
Spät wurde es, ins Wirtshaus kehrten sie ein, eine Stube und Strohlager bekamen sie. Fini wartete mit wachen Augen auf den Morgen, gedrückt an die Wand, auf das raschelnde Bündel.
 
 
XVI.
 
Süß und heiß ging der Sommer vorbei und ein Herbst und ein Winter, die Primeln kamen in den dunstenden Wäldern, der Krieg hatte aufgehört, fremd ging Fini an den großen Ereignissen vorbei, klein und fremd. Zu gewichtig sind für uns die Sorgen der großen Welt.
 
An ihrem neunzehnten Geburtstag im April mußte sie weinen, obwohl Ludwig ihr eine Rose gekauft hatte, eine schwerblütige, die ihre äußersten Blätter abzuwerfen begann wie lästige Gewänder.
 
Aussicht bestand für den Vater, es starb der Onkel plötzlich, dahin gekommen von einem verspäteten Typhus; lohnende Touren wurden frei, es besserte sich das Gehör, langsam kehrten die fernen Augen wieder in die Gegenwart, und schon erhaschte das Ohr einmal den ungedämpften Schimpf der Mutter.
 
In den Prater ging Fini, und ihr war wie einem spät Gesundenden nach langer, erschöpfender Krankheit, aus der es keine Wiederkehr mehr gibt in vollkommenes Leben. Bescheiden muß er sich mit einem dürftig pochenden Herzen und Schonung fordernden Gliedern. An uns vorbei schreiten die jungen Mädchen, noch nicht gezeichnet vom bitteren Geschmack, vor ihnen die kommenden Tage, leuchtend und frisch wie niemals betretene Rasen.

 
XVII.
 
Einmal hörte sie Rabold sprechen, den Redner, zwischen lauschende Menschen gedrückt, auf dem weiten Platz unter blau gewölbtem Himmel. Einige sprachen vor ihm, andere später, und aller Stimmen erstarben im unbegrenzten Raum und wurden gedämpft durch zufällige Geräusche der Straße. Seine Stimme nur überwältigte kühn und singend den Platz, als hätten sich unerreichbare Himmel, die Straße zu säumen, genähert und sie abgeschlossen vor dem fremden Geräusch unbekümmerter Gefährte. Alle Redner standen auf dem Dach desselben Automobils, und Rabold auch. Aber wie er hinauf trat, wurde es Postament und Thron, einen König zu tragen.
 
Gedrückt zwischen lauschenden Menschen stand Fini, die kleine. Es sang in ihr die Stimme nach, klar und klingend, als läutete eine Glocke erzene Worte. Lange blieb sie unter den Menschen und blieb noch, als sie auseinandergingen, spät, vom Abendwind auseinandergeschickt. Hinauf hätte sie gehen müssen, ungezählte, enge Stiegen ins Atelier. Als schöbe sie jemand, bog sie in die Seitenstraße, in der nur ein Mensch ging, groß und in einem Kreis aus Gedanken und Stille, den Blick auf sie gerichtet: Rabold.
 
Es kam das Wunder in ihren Weg, spät genug, fertig war sie schon, nach der bitter vollendeten Jugend. In der Mitte blieb Rabold und wartete, bis sie herankam. Es schien ihr, als müßte sie, um zu ihm zu gelangen, den Kreis aus schweigenden Gedanken durchstoßen, ein Schritt noch trennte sie von ihm, und sie blieb stehen. Sein Wort brachte sie näher. Sie wußte nicht, welches, sie glaubte, er hätte ihren Namen gerufen.
 
Alles erriet sie, daß er verfolgt ist und unter fremdem Namen lebt, von Stadt zu Stadt fahrend. Diener einer gestrengen Gewalt und entfernt dem Getriebe dieses Lebens.
 
Morgen fuhr er weiter, aber eine Stunde war genug, und sie wußte, daß jetzt alle ihre Tage und Träume von ihm erfüllt sein werden.
 
Immer war Zeit und Raum in ihr für den Fremden. Manchmal schrieb er ihr einen Brief postlagernd. Dreimal täglich ging sie zum Schalter.
 
Einmal kam ein flüchtiges Wort auf einer Ansichtskarte. Des Nachts auf der Bettkante saß sie und barg die Karte auf dem Grund ihres Kästchens zwischen Seidenpapier und der Schachtel mit Perlmutterknöpfen.
 
 
XVIII.
 
Im Dunkel des Abends schlich sie zum Bahnhof, nicht weit wohnte Rabold, in sechs Stunden erreichbar. Im Wartesaal schrieb sie Briefe, nach Hause und an Ludwig. Die vielfach gebundene Pappschachtel legte sie ängstlich unter die Füße.
 
In der Nacht erreichte sie ihn und sank in sein Bett. Gestillt war die wühlende Unrast, erstickt jeder Wunsch, gestorben war Fini, die unselige, und selig auferstanden in Rabolds Welt.
 
Durch kleine Städte fuhren sie, durch winkelige Gassen gingen sie, der Sommer kam wieder, durchsonnte Abende, Wege, vielfach verschlungene, an altem Gemäuer vorbei.
 
Traum waren ihre Tage, ihre Nächte, so wuchs Fini, die kleine. Seinen Namen kannte sich nicht, fremd lebte er in fremden Städten, von Häschern verfolgt, immer auf der Flucht, immer arm, kärgliches Brot aßen sie.
 
Im Herbst, schon fiel der erste Schnee, fuhren sie in die große Stadt und lebten einen sicheren Winter in warmer Stube, hoch im unsicheren Viertel der Armen, der Huren und Mörder. Das ängstliche Gewirr der Dächer, der schiefen Giebel und ineinander verankerten Mauerecken drängte sich in das einzige Fenster ihres Zimmers, es kam das Geheul naher Fabriksirenen herein und der unverständliche Schrei einer nachbarlichen Welt.
 
Es kamen Freunde zu ihm, verwegene Menschen, Verfolgte, Flüchtige und Glückliche. Einmal erreichte Fini ein Brief, man hatte ihr Versteck gefunden, es stand etwas von Tränen der Mutter darin und sogar von Tränen des Vaters. Der Schmerz, von dem sie las, war fremder Schmerz, nichts gingen sie die Tränen der Mutter an.
 
In ihr lebte Rabold, den sie kannte, dessen Vornamen sie nicht wußte, für den sie selbst einen Namen erfunden hatte, Rabold, der neben ihr schlief, der zu ihr kam, glühend und fremd, immer neu in tausend Gestalten, ein Gott zum irdischen Weibe. Seinen Körper fühlte sie, ehe sie einschlief, sein müdes Knie im Schlaf, die liebe Schulter, die warme behaarte Höhlung seines umarmenden Arms, in die sie ihren Kopf legte. Den nächtlichen Kuß seiner Lippe trug sie auf ihrem Mund, den liebenden Biß seiner Zähne im schwellenden Fleisch ihrer Brust. Neben ihr, in ihr, rings um sie lebte Rabold, ihr Mann. In finsterer Nacht sah sie das Leuchten seiner Augen, und dürstend trank sie gute Worte, die er ihr schenkte. Einmal fuhr er weg, und Fini blieb zurück. Leere, unendliche, strömte jeder Winkel aus, sie heizte den kleinen, eisernen Ofen nicht und kauerte auf einem Kasten, gehüllt in den spärlich gefütterten Mantel, mit zerzaustem Haar und Augen, die sich röteten, ohne zu weinen. Kein Bild hatte sie von ihm, und es ergriff sie die Furcht, daß sie den und jenen Zug seines geliebten Gesichts vergessen könnte, den Schwung seiner Nase, die aufwärtsstrebende Braue über dem linken Aug', die leise Biegung seines Nackens und die Art, wie er einen Gegenstand griff, mit sparsamer Bewegung der Hand und vollkommener Ruhe des Arms und des Körpers. Jeden Augenblick schloß sie die schmerzenden Augen - ungeweintes Weinen lag in ihnen – und sah sein Gesicht, spät ging sie schlafen. Kalt war das Lager, und in der zaghaft beginnenden Wärme schlummerte sie ein, stieß mit vorgestrecktem Knie plötzlich ins Leere, erschrak, weil neben ihr nichts da war, und sie erwachte. Er ist gestorben! dachte sie auf einmal, stieg mit zitternden Knien hinunter, Licht zu machen, aus dem Schrank holte sie eine Karte, die er ihr einmal geschrieben, sie sah lange und eifrig Zug um Zug der flüchtigen Handschrift, um wenigstens gewiß zu sein, daß er gelebt hatte, neben ihr, mit ihr, ein bißchen für sie. Irgendwo fand sie sein Halstuch, es war weich und gut, von ihm kam es, noch roch es nach ihm, seinem Körper, seinem Leben - er konnte nicht gestorben sein, da das Halstuch noch von ihm warm war, sie nahm es ins Bett und legte ihre Wange darauf und schlief ein.
 
Sie horchte tagsüber auf den Schritt der Menschen draußen, den Briefträger vermutend, verhallende Schritte beklagte sie wie den Schall verschwindenden Glücks. Ein Freund kam und brachte Nachricht von Rabold, kein Brief war da, Geld nur schickte er. Fini brauchte nichts, sie warf die Scheine in das Nähzeug und dachte nach, unermüdlich. Er war gewiß gestorben und hatte Auftrag gegeben, ihr Geld zu bringen, und er lebte nicht mehr, gewiß, sonst hätte er geschrieben. Nichts wünschte sie mehr, als die liebe Rundung seiner Buchstaben zu sehn, in frischer, überzeugender Tinte. Die Nacht kam, wie gestern, kalt und leer, die letzten mitternächtlichen Schritte erstarben im Hause, Fini wünschte zu sterben, in dieser Nacht zu sterben.
 
 
XIX.
 
Aber sie erwachte, geweckt vom unermüdlichen Gezwitscher eines frühen Vogels und dem Sang schmelzenden Eises auf metallenem Fensterbrett. Von Dächern gezackt, blaute hoch der Himmel, aus geöffneten Fenstern drang Lärm der nachbarlichen Kinder. In früher Stunde kam ein Leierkasten in den Hof, wie ein Bote des Stadtfrühlings. Es sah so aus, als käme heute eine Nachricht von Rabold oder als käme er selbst. Als die Schritte des Briefträgers enttäuschend verhallt waren, beschloß Fini, in die Straßen zu gehn, draußen auf ihren Mann zu warten, wer weiß, ihm vielleicht in den Straßen zu begegnen. Hinaus ging sie, von hastenden Menschen umgeben, von der Sonne begrüßt und der guten Luft des lächelnden Märztags. In das Zentrum der Stadt ging sie, schritt sie, mit rüstigen, jungen Füßen, durch die breiten Straßen.
 
Sie verließ die Stadt, sie kam an den Fluß und folgte seinem Lauf. Die Sonne stand hoch, sank tiefer, rann aus dem Himmel in den Fluß, daß beide sich röteten. Da setzte sie sich ans Ufer. Ein alter Angler stand und wartete auf seinen Fang. Der Ton einer abendlichen Flöte kam, im Ufergras zirpten die Grillen.
 
Fini saß, aber es war ihr, als ginge sie weit und hoch, höher hinauf in den Himmel, auf goldenen Wolken, Wolken aus Scharlach, Treppen aus Purpur. Sie führten aufwärs zu Rabold. Er stand und wartete. Ausgebreitet waren seine Arme, Fini zu empfangen.
 
Den Hunger fühlte sie nicht, aber er fraß sie auf, saß in ihren Eingeweiden, umklammerte ihr Herz - und sie fühlte ihn dennoch nicht. Die Müdigkeit ihrer Füße fühlte sie nicht, sie lag weich am Ufer und glaubte zu schweben. Treppen aus Wolken trugen sie, sie brauchte nicht emporzuklimmen.
 
Wie einen fernen Schatten sah sie den alten Angler am andern Ufer. Der Alte wuchs und stand wie ein Diener ehrfürchtig und wartend am Eingang. Hatte ihn Rabold vorausgeschickt, sie zu empfangen?
 
Sie nickte ihm zu, sie wollte ihn streicheln, da griff sie ins feuchte Gras, sank, glitt, glaubte, sie wäre auf einer Wolke ausgeglitten, und wollte sich hochraffen, aber sie konnte nicht mehr. Jetzt erst überfiel sie die Müdigkeit, nie mehr würde sie Rabold erreichen. Warum kam er nicht, ihr zu helfen?
 
Sie fiel ins Wasser, tat noch einen leisen Schrei, sank unter, und der Strom führte sie mit, barg sie vor den Blicken der Welt. Drei Meilen weiter fand man sie, ihren aufgeschwemmten Leib, Wasserrosen und grüne Pflanzen im Haar, den Mund halb offen.
 
Sie kam in den Polizeibericht, der keine Ursachen anzugeben wußte. Ihre Leiche lag in der Totenkammer, kam in die Anatomie; denn es fehlte an Leichen, man nahm auch aufgeschwemmte. Niemand wußte, daß sie in den Himmel hatte gehen wollen und ins Wasser gefallen war. Sie zerschellte an den weichen Treppen aus purpurnen und goldenen Wolken.

 





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